top

Einen konzertierten Ansatz für Versorgungsforschung erreichen

Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder im MVF-Titelinterview: ein Jahr Realität in der deutschen Versorgungsforschung

Mehr lesen
Erstveröffentlichungsdatum: 01.04.2009

Plain-Text

Selten hat jemand dem deutschen Gesundheitssystem seinen Stempel derart aufgedrückt wie Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder, der deshalb bereits in der ersten Ausgabe von „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF) Rede und Antwort stand. Ein Jahr später ist es höchste Zeit, das in diesem Zeitraum Geschehene Revue passieren zu lassen und das in MVF Gesagte und Geforderte zu hinterfragen und zu kommentieren und auf die Ebene der real möglichen Politik zu führen - von niemand anderem als eben Klaus Theo Schröder, dem ersten Mann im Gesundheitsstaat Deutschland nach (Noch)-Bundesministerin Ulla Schmidt.

>> „Bei folgenschweren Versorgungsinnovationen wäre das aktive Abwarten volkswirt­schaftlich unter Umständen sinnvoller als vorschnell zu handeln und eine ganze Hochleistungsgesellschaft mit unausgereiften Innovationen zu beschäftigen.“ Das sagte der Versorgungsforscher Prof. Dr. Holger Pfaff im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ 02/08. Er richtete damit an die Adresse der Politik folgende Aufforderung: „Wenn man in der Politik nicht warten kann, bis Modelltests erfolgreich durchgeführt wurden, wäre es zumindest ratsam, die Wirkung der ohne Vortest ein­geführten Versorgungsinnovationen mittels Vorher-Nachher-Vergleich besser oder besser noch mittels einer randomisierten kontrollierten Studie zu untersuchen. Dies wird oft nicht systematisch oder – wie im Falle der DMP-Evaluation – zu spät ge­macht.“ Wie könnten denn, sehr geehrter Herr Staatssekretär, professorales Wunschdenken und politische Realität zusammenfinden?
Im Grundsatz stimme ich Ihnen zu, dass es wünschenswert ist, vor der breiten Ein­führung von großen Versorgungsinnovationen Modelltests durchzuführen. Aber dem steht oft die Dringlichkeit des Handlungsbedarfs gegenüber, die schnelle – und nach sorgfältiger Abwägung aller wesentlichen Aspekte als geeignet befundene – Lö­sungsmöglichkeiten erfordert. Gerade in der Versorgung von chronisch Kranken (wie z.B. der Diabetikerinnen und Diabetiker) wurden vom Sachverständigenrat in seinem Gutachten 2000/2001 erhebliche Defizite festgestellt, die es galt, schnellstmöglich anzugehen.
Den durch Ihre Fragestellung implizierten Eindruck, die Einführung von strukturierten Behandlungsprogrammen (DMP) sinngemäß in den Kontext mit „unausgereiften In­novationen“ zu stellen, weise ich entschieden zurück. Bei der Einführung der DMP wurden die Empfehlungen des Sachverständigenrates, Vorerfahrungen aus anderen Ländern (z.B. den USA) und aus entsprechenden Modellprojekten in vielen Regionen Deutschlands sorgfältig ausgewertet. Selbstverständlich sind z.B. die Erfahrungen aus früheren erfolgreichen Diabetesprojekten (z.B. der Strukturverträge oder des Diabetesprojektes in Sachsen-Anhalt) in die bundesweite Konzeption strukturierter Behandlungsprogramme einge­flossen. Dies war wichtig um sicherzustellen, dass die positiven Erfahrungen frühe­rer Projekte nicht verloren gehen, sondern zum Wohle aller Versicherten flächende­ckend verstetigt werden.
Zudem war von Beginn an u.a. gesetzlich festgelegt, dass bei den DMP sowohl eine begleitende Qualitätssicherung durchzuführen ist als auch eine Evaluation der Wirk­samkeit und der Kosten zu erfolgen hat. Diese erstreckt sich auf die Auswertung der medizinischen und ökonomischen Inhalte der DMP sowie der Veränderungen der subjektiven Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Die Evaluation ist aller­dings nicht als Instrument einer Versorgungsforschung konzipiert, sondern primär darauf ausgerichtet, die Programme verschiedener Krankenkassen diagnosebezo­gen miteinander zu vergleichen, da auf deren Grundlage die Verlängerung der Zu­lassung eines Programms bzw. dessen weitere Optimierung erfolgt. Erste Ergeb­nisse der laufenden Evaluation der Programme für Typ 2-Diabetiker zeigen, dass sich die Versorgung der chronisch kranken Patientinnen und Patienten durch die DMP verbessert hat. Damit lässt sich die Erreichung des Hauptziels – die Verbesserung des Behandlungsablaufs und der Qualität der medizinischen Ver­sorgung chronisch Kranker – durch belastbare Fakten belegen.

Ist denn die Regierung gewillt oder wird aktiv geplant, eigene Versorgungsforschungs-Stu­dien durchzuführen?
Die Versorgungsforschung ist für mich ein wichtiger Teil der Gesundheitsforschung. Deswegen initiieren und fördern wir bereits seit vielen Jahren Maßnahmen der Versorgungsforschung. Nennen möchte ich beispielsweise das Mo­dellprogramm zur Förderung der Qualitätssicherung in der medizinischen Versor­gung sowie das Leuchtturmprojekt Demenz. Das Bundesgesundheitsministerium investiert allein im Bereich der Demenz rund 13 Mio. Euro. Die geförderten Projekte sollen ei­nen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung de­menziell Erkrankter leisten.
Um die Weiterentwicklung der Qualität des Gesundheitswesens zu unterstützen, wur­den zudem in einem Zeitraum von über 16 Jahren Maßnahmen der Qualitätssiche­rung mit rund drei Millionen Euro jährlich gefördert. Viele Projekte davon sind nach Ablauf der Förderung in die Regelversorgung übernommen worden und haben so zu nachhaltigen und positiven Veränderungen beigetragen. Ich erinnere zum Bei­spiel an die Etablierung von Qualitätszirkeln in der niedergelassenen Praxis.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung Förderprogramme initiiert, um die Versor­gungsforschung in Deutschland zu etablieren und zu stärken. Erwähnen möchte ich die zwei Förderschwerpunkte des Bundesministeriums für Bildung und For­schung. In einer gemeinsamen Initiative mit der Deutschen Rentenversicherung Bund wurde bereits vor über zehn Jahren der Schwerpunkt „Rehabilitationswissen­schaften“ ins Leben gerufen. Zusammen mit den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenver­sicherung konnte vor allem durch den Förderschwerpunkt „Versorgungs­forschung“ diese in Deutschland intensiviert werden. An diesem Schwerpunkt war ebenfalls das Bundesministerium für Gesundheit beteiligt.
Ein großer Schritt wurde im Jahr 2007 erreicht, als das Bundesministerium für Bil­dung und Forschung, das Bundesministerium für Gesundheit, die Deutsche Renten­versicherung Bund und die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherun­gen gemeinsam mit der privaten Krankenversicherung eine neue Fördermaßnahme „Chronische Krankheiten und Patientenorientierung“ ins Leben gerufen haben. Her­vor­zuheben ist hierzu, dass dieser Schwerpunkt wichtige Themen für die Gesundheits­versorgung in Deutschland und für die Stärkung der Patientinnen und Patienten un­tersucht. Und darüber hinaus können damit erstmalig Maßnahmen über die Grenzen zwischen Renten- und Krankenversicherung hinweg untersucht werden.
Entscheidende Impulse zur Weiterentwicklung der Versorgungsforschung in Deutschland hat auch das Pro­gramm „Gesundheitsforschung: Forschung für den Menschen“ gegeben. Dieses wird gemeinsam vom Bundesforschungs- und Bundesgesundheitsministerium getragen. Auch hier wird seit fast zehn Jahren gezielt Versorgungsforschung gefördert. Hier­durch ist es gelungen, erste Strukturen in diesem Wissenschaftszweig aufzubauen.
Dabei will ich es aber nicht bewenden lassen, denn es sind noch weitere Anstren­gungen notwendig, um die Versorgungsforschung mittel- und langfristig voranzubrin­gen. Ich setze mich daher bei der anstehenden Aktualisierung des Gesundheitsfor­schungs­programms dafür ein, dass die Versorgungsforschung weiter gestärkt wird.

Die Koalition und die Bundesregierung wollen wissen: Welche Angebote brauchen demenziell erkrankte Menschen? Was müssen wir tun, um ihre Selbständigkeit zu erhalten? Wie kann ihre Würde bewahrt werden?“ sagte Frau Ministerin Schmidt in Ihrer Rede zum Haushaltsgesetz 2009 vor dem Deutschen Bundestag am 18. September 2008. In dieser Rede zeigte sie sich „froh, dass wir die Versorgungsforschung stärken“, in­dem für das Leuchtturmprojekt in 2009 rund 8,5 Millionen Euro bereitgestellt wurden.
Reichen diese Mittel aus? Wie werden die Mittel verwendet? Welche Ziele sollen im Einzelnen erreicht werden? Was wäre zu tun, um der Versorgungsforschung nicht nur im Bereich der Demenz den Rücken zu stärken?
Die Durchführung eines Leuchtturmprojektes Demenz wurde im Koalitionsver­trag von CDU/CSU und SPD vom 11. November 2005 „Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit“ vereinbart. Vor dem Hintergrund der älter werdenden Gesell­schaft sei ein Leuchtturmprojekt „Konzertierte Aktion Demenz-Behandlung“ notwen­dig.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat sich dieser Aufgabe angenommen und leistet mit dem Leuchtturmprojekt Demenz einen wichtigen Beitrag zu den gesund­heits- und gesellschaftspolitischen Fragestellungen demenzieller Erkrankungen, de­ren Folgen die Gesellschaft angesichts der demographischen Entwicklung in den kommenden Jahren vor große Herausforderungen stellen. In Deutschland leben heute rund 1,1 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Bis zum Jahr 2030 wird sich diese Zahl auf ca. 1,7 Millionen erhöhen. Demenz ist die häufigste und fol­genreichste psychiatrische Erkrankung im Alter. Die Zahl der hochaltrigen Menschen wird in den nächsten zehn Jahren deutlich ansteigen. Damit wird die Zahl der de­menziell Erkrankten – wenn nichts Durchgreifendes geschieht – zunehmen. Trotz der enormen Herausforderungen, die sich aus dieser Entwicklung sowohl in fachlicher als auch in finanzieller Hinsicht ergeben, sollen Menschen mit Demenzerkrankungen ein menschenwürdiges Leben führen können und die bestmögliche medizinische und pflegerische Versorgung erhalten. Ziel des Leuchtturmprojektes Demenz ist es da­her, aus den vorhandenen Versorgungsangeboten die Besten zu identifizieren und weiter zu entwickeln, Defizite bei der Umsetzung einer evidenzbasierten pflegeri­schen und medizinischen Versorgung demenziell Erkrankter zu beseitigen und eine zielgruppenspezifische Qualifizierung für in der Versorgung engagierte Personen und beteiligte Berufsgruppen zu erreichen. Hierfür werden in den Jahren 2008 und 2009 rund 13 Mio. Euro (4,5 Mio. Euro in 2008, 8,5 Mio. Euro in 2009) eingesetzt.
Das Leuchtturmprojekt Demenz konzentriert sich nicht etwa auf die pharmakologi­sche Grundlagenforschung, sondern primär auf Fragen der Versorgungsforschung. Dies ist erforderlich, weil kurzfristig nicht mit erfolgver­sprechenden Ansätzen zur Heilung der Krankheit (beispielsweise durch medika­mentöse Therapien) zu rechnen ist und daher auch weiterhin Erkenntnisse zur Opti­mierung der Versorgung und Betreuung von demenziell erkrankten Menschen erfor­derlich sind.
Das Leuchtturmprojekt Demenz steht in Zusammenhang mit den weiteren Aktivitäten des Bundesministeriums für Gesundheit und der Bundesregierung im Bereich De­menz und ergänzt diese.
Welche Bedeutung der Sicherstellung der Versorgung von Menschen mit Demenz beigemessen wird, zeigen auch die Neuregelungen, die mit dem Pflege-Weiterent­wicklungsgesetz geschaffen wurden. Damit soll den gesundheits- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die sich aus der zu­nehmenden Zahl von demenziell Erkrankten ergeben, wirksam begegnet werden. Eine Zielsetzung der Pflegereform ist zum Beispiel der Ausbau von Angeboten für demenziell erkrankte Menschen im niedrigschwelligen Bereich zur Stärkung der häuslichen Versorgung durch eine Ausweitung der hierfür zur Verfügung stehenden Fördermittel. Ferner werden die Leistungsansprüche für Menschen mit einge­schränkter Alltagskompetenz ausgebaut.
Insgesamt kann die Versorgungsforschung dadurch aufgewertet werden, dass es eine enge Verbindung zwischen den Forschungsmaßnahmen und dem gelebten prakti­schen Handeln gibt und die Erkenntnisse aus den verschiedenen Projekten im Ver­sor­gungsalltag umgesetzt werden. Diese enge Verbindung sichert gleichzeitig, dass sich die Wahl der Projekte an den bestehenden Herausforderungen im Ge­sundheitssys­tem und dem Erkenntnisbedarf orientiert. Dieser wird beispiels­weise durch den demographischen Wandel, die Zunahme der chronischen Krank­heiten, die hohe Kom­plexität im Versorgungswesen, die Überwindung von Schnitt­stellen zwi­schen den Versorgungsbe­reichen und eine effektive Zusammenarbeit unterschiedli­cher Professionen bestimmt.

Zu sehr hängt die Wahl des Studienziels oft von der jeweiligen Fachrichtung des je­weiligen durchführenden Instituts ab. Was wäre zu tun, um einen konzertierten An­satz für Versorgungsforschung zu ermöglichen?
Das Interesse an Fragen der Versorgungsforschung im Ver­gleich zu Fragen der klassischen Hoch­schulmedizin ist sicherlich ausbaufähig. Dabei spielen auch finanzielle Anreize eine Rolle. Wenn es mehr Förderprogramme für kli­nische Studien als für Prüfungen der Evidenz bekannter Therapien gibt, spie­gelt sich das sicher auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung von Instituten wider. Deshalb müssen für die Versorgungsforschung mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden und zwar sowohl mit dem Ziel der Förderung des wissenschaftlichen Nach­wuchses als auch der Stärkung der Forschungsstrukturen. Es ist jedenfalls das Bestreben des Bundesministeriums für Gesundheit, bei der Aktualisierung des ge­meinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung getragenen Ge­sundheitsforschungs­programms die Versorgungsforschung zu stärken.
In diesem Programm werden auch aktuell wichtige Fragestellungen der Versor­gungsforschung benannt, um eine gewisse Steuerung der Studienziele zu erreichen.
Um einen konzertierten Ansatz in der Versorgungsforschung zu erreichen, müssen sich wissenschaftliche Einrichtungen, die Versorgungsforschung betreiben, miteinan­der verzahnen und austauschen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, dass diese einen Kontakt u.a. mit den klinisch Tätigen und Forschenden halten, um Bedarf und Wirkung von Versorgungsforschung zu ermitteln. Denn: Nur eine stärkere Ver­zahnung aller Formen der Forschung im Gesundheitswesen – klinische Forschung und Ver­sorgungsforschung – kann eine Weiterentwicklung bewirken. Dies wird Vor­teile für die Kliniker und die forschenden Wissenschaftler haben und – das ist für mich entscheidend – letztendlich die Versorgung der Patientinnen und Patienten verbessern.

Es gibt keine Übersicht über geplante oder bereits durchgeführte Versorgungsfor­schungs-Studien – mit Ausnahme der Clearingstelle NRW. Was könnte die Politik tun, um hier mehr Transparenz zu schaffen?
Grundsätzlich sind Studienregister ein probates Instrument, um den freien Zugang zu Informationen über laufende und abgeschlossene Studien zu sichern. Das Bundes­forschungsministerium unterstützt zum Beispiel den Aufbau eines Nationalen Stu­dienregisters an der Universität Freiburg. Dort können künftig auch interventionelle Studien aus der Versorgungsforschung registriert werden. Der freie Zugang zu In­formationen über Studien ist für Entscheidungen von Wissenschaftlern, Ärzten und auch von Patienten von großer Bedeutung. Sie können sich über aktuell laufende und abgeschlossene Studien zu einem bestimmten Krankheitsbild informieren und so mehr über die Wirksamkeit von Therapieverfahren erfahren. Die öffentlich zugängli­che Registrierung klinischer Studien verhindert, dass negative Studienergebnisse unterdrückt werden. Dadurch werden Fehleinschätzungen über die Wirkungsweise von Arzneimitteln und anderen Therapien verhindert. Unnötige Wiederholungsstu­dien unterbleiben.
Über die unter Federführung der Bundesministerien durchgeführten Versorgungsfor­schungsprojekte wird zudem regelhaft Transparenz dadurch hergestellt, dass nähere Informationen auf den Internetseiten verfügbar sind. Nach meinem Verständnis ist es aber nicht in erster Linie Aufgabe der Politik, Transparenz über geplante und bereits durchgeführte Versorgungsforschungs-Studien zu schaffen. Dies ist meines Erach­tens eine wichtige Aufgabe, die im Interesse der Wissenschaft selbst liegen muss und auch von ihr angestoßen werden sollte.

Dr. Rainer Hess, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses beklagte im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ 04/08, dass die meisten für Versorgungsforschungsansätze nötigen Daten zur Verfügung stehen wür­den, wenn sie denn in der richtigen Form aggregiert werden würden. Er bezieht sich auch auf den Paragraphen 303a im SGB V, der die Bildung einer „Arbeitsgemein­schaft für Aufgaben der Datentransparenz“ regelt. Oder wohl besser regeln sollte: Denn der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kas­senärztliche Bundesvereinigung sollten bereits bis zur Mitte des Jahres 2004 eine Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz bilden. Hess mahnt, dass seitdem das Ministerium zuständig wäre, die Beteiligten zur Ordnung zu rufen, weil es nicht angehen könne, „dass Gesetze, die ins Gesetzesblatt geschrieben wurden, nicht angewendet werden.“ Was sagen Sie dazu?
Das Bundesministerium für Gesundheit hat die notwendigen Umsetzungsmaßnah­men in diesem Bereich längst eingefordert. Darauf hin sind bereits erste Schritte zur Umsetzung der Datentransparenzrege­lungen durch die Selbstverwaltung - in diesem Fall die Spitzenverbände der Kran­kenkassen und die Kassenärztliche Bundesverei­nigung - erfolgt. So wurde eine Ar­beitsgemeinschaft gebildet und erste wichtige Ab­stimmungen zu Datenauswahl, -formaten und -nutzung getroffen. Die Fortsetzung dieser Arbeiten wurde aufgrund der Organisationsreform und damit des Übergangs der Aufgaben von den Spitzen­verbänden der Krankenkassen auf den GKV-Spitzen­verband zunächst zurückge­stellt. Das Ministerium hat den GKV-Spitzenverband nach dessen Bildung im Juli 2008 aufgefordert, dieses Thema weiter voranzubringen und wird die nötigen weite­ren Umsetzungsschritte begleiten.
Bei den Verzögerungen im Hinblick auf die Umsetzung der Datentransparenzrege­lungen spielt auch eine Rolle, dass sich im System der gesetzli­chen Krankenversicherung zwar alle Beteiligten schnell einig sind, allgemein mehr Transparenz zu fordern. Wenn es aber um die Bereitschaft geht, konkret eigene Da­ten oder Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, sieht das aus unterschiedlichsten Gründen nicht selten anders aus.
Die Transparenz wird auch dadurch erschwert, dass – wie von Herrn Dr. Hess ange­sprochen – bei den bereitgestellten Daten deren Auswahl und Formate nicht immer geeignet sind, sinnvolle Auswertungen durchzuführen.
Umso wichtiger ist es, dass wir mit geeigneten Maßnahmen die weitere Umsetzung der gesetzlichen Regelungen zur Datentransparenz erreichen, damit das Leistungs­geschehen durchschaubarer wird und die zur Versorgung der Patientinnen und Pati­enten erbrachten Leistungen und die dafür eingesetzten Ressourcen besser beurteilt werden können.

Mit dem ersten Januar startete, wenn man den eingangs zitierten Professor Pfaff er­neut zu Wort kommen lässt, der wohl größte Feldversuch der Geschichte der Ge­sundheitsversorgung in Deutschland: der Gesundheitsfonds. Nun geht der Präsident des Bundesversicherungsamtes (BVA), Josef Hecken, bereits heute davon aus, dass die Krankenversicherung bereits in einem halben Jahr für zahlreiche gesetzliche Ver­sicherte teurer wird. „Ich rechne damit, dass dann etwa 20 Krankenkassen Zusatz­beiträge erheben werden“, sagte Hecken dem Magazin „Der Spiegel“. Was erwarten Sie von der Entwicklung – im positiven wie im negativen – des Fonds im Jahr 1? Im Jahr 2 ff?? Welche begleitenden Studien sind geplant?
Der Gesundheitsfonds ist seit Jahresbeginn Kernstück des neuen Finanzierungskonzeptes der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Krankenkassen erhalten vom Gesundheitsfonds eine einheitliche Grundpauschale pro Versicherten plus alters-, geschlechts- und risikoadjustierte Zu- und Abschläge zur Deckung ihrer standardisierten Leistungsausgaben. Hierbei wird die unterschiedliche Versicherten- und Krankheitsstruktur der Krankenkassen deutlich besser als früher berücksichtigt. Die Zuweisungen für das Jahr 2009 sind so berechnet, dass sie die durchschnittlichen Leistungsausgaben einer Krankenkasse decken. Eine durchschnittlich wirtschaftende Krankenkasse braucht also keine Zusatzbeiträge zu erheben. Alle großen Kassen haben erklärt, dass sie im laufenden Jahr keinen Zusatzbeitrag benötigen. Aussagen über die Entwicklung im Jahr 2010 sind derzeit noch verfrüht. Das wird von der Schätzung der Einnahmen und Ausgaben des Jahres 2010 abhängen, mit denen sich die Experten im gemeinsamen Schätzerkreis von Bundesversicherungsamt, Bundesgesundheitsministerium und GKV-Spitzenverband erstmals im Herbst dieses Jahres beschäftigen wird. Dieses Gremium hat im Übrigen die Aufgabe quartalsweise auf Basis der amtlichen Statistiken, die Finanzentwicklung der GKV kontinuierlich zu analysieren.
Klar ist auch: Versicherte, deren Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt, können die Krankenkasse wechseln. Der Zusatzbeitrag ist also auch ein Instrument im Wettbewerb der Krankenkassen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass im alten System der tatsächliche finanzielle Spielraum der einzelnen Kassen sehr begrenzt ist, da auch dort die Mittel über den Kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich umverteilt werden.

Ein weiterer derartiger Groß-Einsatz ist die Einführung der Telematik, beginnend mit der Gesundheitskarte und damit verbunden dem elektronischen Heilberufeausweis. Auch hier die Frage: Was erwarten Sie realistisch an Einsparvolumina und Vorteilen für die Gesellschaft und den einzelnen Patienten, aber auch an Belastungen für die einzelnen Leistungserbringer, allen voran die Ärzte und Apotheker? Und: Welche begleitenden Studien – die Feldversuche sind ja abgeschlossen – sind denn hier ge­plant?
Das Projekt elektronische Gesundheitskarte ist in erster Linie ein Projekt zur Verbes­serung der Qualität der Patientenversorgung. Die elektronische Gesundheits­karte vernetzt alle Beteiligten auf Basis einer sicheren Infrastruktur miteinander. Diese sorgt dafür, dass die für die Behandlung notwendigen Informationen dort zeit­nah zur Verfügung stehen, wo sie benötigt werden, z.B. für die Notfall­versorgung oder zur Dokumentation der eingenommenen Arzneimittel. Denn anders als ihre Vorgängerin, die Krankenversichertenkarte, trägt die elektronische Gesundheitskarte einen Mikroprozessorchip und ist so in der Lage, medizinische Daten, zur Verfügung zu stellen. Der Schutz der sensiblen Gesundheitsdaten ist durch ein umfassendes Sicherheits­konzept geregelt. Zum einen sind die Daten verschlüsselt, zum anderen wird ein zweiter Schlüssel, der Heilberufsausweis, zum Zugriff auf die Daten benötigt. Die Rechte der Patientinnen und Patienten werden gestärkt, denn sie entscheiden selbst, ob und in­wieweit sie von den Möglichkeiten der elektronischen Gesundheitskarte Gebrauch machen und wem sie ihre Daten zur Verfügung stellen wollen.
Ein positiver „Effekt“ der Gesundheitskarte ist die Verbesserung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Systems. Das gilt z.B. für die Einführung des elektronischen Rezeptes, das auch die Grundlage für die Einführung einer Arzneimitteldokumentation bildet. Ein von der Selbstverwaltung in Auftrag gegebener Planungsauftrag aus dem Jahr 2004 beziffert das Einsparpotenzial des elektronischen Rezeptes einschließlich der Einsparungen durch Reduzierung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen auf circa 500 Millionen Euro jährlich.
Um alle Potenziale, die die Technologie erschließen kann, realisieren zu können, sind zunächst die technischen Voraussetzungen bei den Leistungserbringern zu schaffen - diese erhalten für die ihnen dadurch entstehenden Aufwendungen einen finanziel­len Ausgleich.
Die Testverfahren werden parallel zum Einführungsprozess weitergeführt, damit im­mer mehr Anwendungen ihre Praxistauglichkeit nachweisen und dann flächende­ckend zur Verfügung gestellt werden können. Die Testverfahren werden weiterhin sehr sorgfältig im Auftrag der gematik evaluiert und die dabei gewonnenen Erkennt­nisse in die weiteren Arbeiten eingebracht.

Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski
und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier