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„Erhebliche Effizienz- und Effektivitätsreserven“

Am 20. Juni 2012 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen sein Sondergutachten 2012 mit dem Titel „Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung“ an Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr übergeben. Es ist wieder einmal in umfangreiches und lesenswertes Werk mit 437 Seiten. Am 18. September 2012 wird es im Rahmen eines Symposiums in Berlin genauer vorgestellt. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit dem langjährigen Leiter des Sachverständigenrats, Professor Dr. rer. pol. Eberhard Wille, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft.

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Erstveröffentlichungsdatum: 24.02.2012

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Am 20. Juni 2012 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen sein Sondergutachten 2012 mit dem Titel „Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung“ an Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr übergeben. Es ist wieder einmal ein umfangreiches und lesenswertes Werk mit 437 Seiten. Am 18. September 2012 wird es im Rahmen eines Symposiums in Berlin genauer vorgestellt. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit dem langjährigen Leiter des Sachverständigenrats, Prof. Dr. rer. pol. Eberhard Wille, Universität Mannheim, emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft.

>> Sehr geehrter Herr Professor Wille, wie waren die Reaktionen bisher auf Ihr Sondergutachten?
Das Gutachten stieß insbesondere in der Fachpresse auf ein erfreuliches Interesse und auch überwiegend auf positive Resonanz. Dies gilt auch für die mir bisher zugegangenen Stellungnahmen aus Fachkreisen, die u.a. die Ausführungen zu den instrumentalen Funktionen des Wettbewerbs, zur Nutzerkompetenz und zur integrierten Versorgung betreffen.

Im Gutachten geht es um die Schnittstelle zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Warum war dieses Thema jetzt „dran“?
Es handelt sich um ein Sondergutachten, d.h. das Thema wurde dem Rat vom damaligen Gesundheitsminister Dr. Philipp Rösler vorgegeben. Das Thema kann insofern eine hohe Aktualität und Relevanz beanspruchen, als die Schnittstelle zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor erhebliche Effizienz- und Effektivitätsreserven birgt und vor dem Hintergrund der absehbaren demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts künftig noch an Bedeutung gewinnt. Es gilt hier u.a., mit Hilfe einer funktionsgerechten wettbewerblichen Rahmen-
ordnung das vorhandene Substitutionspotenzial zwischen stationärer und ambulanter Behandlung auszuschöpfen.

Um selektive Vertragsformen auszuweiten, empfiehlt der Rat den Abbau von innovationshemmenden Einschränkungen der Vertragsfreiheit, die Erweiterung selektiver Vertragsoptionen sowie eine stärkere Förderung der evaluativen Versorgungsforschung. Wie soll das geschehen?
Zu den Einschränkungen der Vertragsfreiheit und innovationshemmenden Regulierungen gehören der Zwang zum Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung und das Postulat der Beitragssatzstabilität bei dieser Versorgungsform und der besonderen ambulanten ärztlichen Versorgung sowie der integrierten Versorgung nach § 140a-d SGB V. Das Erfordernis, Mehrausgaben durch „vertraglich sichergestellte“ Einsparungen und Effizienzsteigerungen zu finanzieren, stellt angesichts der unsicheren Erträge von Versorgungsinnovationen ein nahezu prohibitives Hindernis dar. Der Wettbewerb um innovative Versorgungskonzepte geht als Entdeckungsverfahren zwangsläufig auch mit Misserfolgen einher, die es zu akzeptieren und aus denen es zu lernen gilt. Zur Erweiterung der selektiven Vertragsoptionen schlägt der Rat vor allem den neu konzipierten Bereich der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung und ein bestimmtes Spektrum von ausgewählten, elektiven Krankenhausleistungen vor. Neben einer grundsätzlichen Stärkung der evaluativen Versorgungsforschung erscheint sie vor allem immer dann geboten, wenn der Gesetzgeber bei bestimmten Versorgungsformen oder Behandlungen finanzielle Anreize setzt.
Ein wichtiges Thema im Gutachten ist die Messung der Versorgungsqualität. Leider wurden, wie Herr Hecken im aktuellen Titelinterview erklärt, „einmal mehr nur die Probleme beschrieben, aber nicht gesagt, wie man es besser machen soll.“ Wie kann man es denn besser machen?
Das Gutachten widmet dem sektorübergreifenden und populationsorientierten Qualitätswettbewerb und in diesem Kontext auch der Qualitätsmessung ein ganzes Kapitel. Dieses thematisiert auch die Problematik der Messung von Versorgungsqualität und schlägt z.B. auf populationsbezogener Ebene als operationale Indikatoren verringerbare Sterblichkeit und verringerbare Krankenhauseinweisungen vor.

Sie schreiben sehr richtig, dass klare Kriterien erforderlich seien, um innovative Versorgungskonzepte fördern zu können, wichtig sei eine verpflichtende Evaluation sowie eine Priorisierung von populationsbezogenen und indikationsübergreifenden Versorgungskonzepten. Und die sollen laut Ihrem Gutachten finanziert werden aus dem Gesundheitsfonds und hier durch zinsverbilligte Darlehen aus einem Kapitalfonds. Würden Sie das etwas genauer ausführen?
Es besteht die Gefahr, dass die Krankenkassen u.a. aus Furcht vor einem Zusatzbeitrag innovative Versorgungsprojekte scheuen, die zwar künftig Erträge versprechen, aber ihre momentane Liquidität einschränken. Sofern sie die Innovationskosten aus einer Bereinigung der ambulanten und/oder stationären Vergütung bestreiten können, stellt sich dieses Problem nicht. Der Rat schlägt daher bei förderungswürdigen innovativen Versorgungsprojekten der Krankenkassen für die Zusatzkosten nach Bereinigung unter Sicherungsverzicht zinsverbilligte oder zinslose Darlehen vor, die sie erst nach fünf Jahren zurückzahlen müssen. Sofern sich ein Projekt später nicht refinanziert, seine Evaluation aber eindeutige Verbesserungen des gesundheitlichen Outcomes belegt, könnte ein teilweiser Rückzahlungsverzicht mit einer Finanzierung aus dem Gesundheitsfonds erfolgen.

Valide Indikatoren der Prozess- und Ergebnisqualität zu finden und zu messen, ist schwierig. Sie sagen in Ihrem Gutachten, das Gesundheitssystem brauche eine stärkere Fokussierung auf patientenrelevante Ergebnisse, die gerade im AMNOG-Prozess immer wieder für Probleme sorgen, weil oft die Evidenz dafür fehlt, was wirklich patientenrelevant ist und was nicht. Was ist zu tun?
Im Verhältnis zur Prozess- lässt sich die Ergebnisqualität mit Hilfe valider Indikatoren, deren Veränderung in kausaler Hinsicht eindeutig auf bestimmte Behandlungen zurückgeht, sicherlich schwerer messen. Gleichwohl gibt es hier vor allem im stationären Sektor beachtliche Fortschritte und die Gesundheitsversorgung sieht sich in normativer Hinsicht mit diesen Problemen zwangsläufig konfrontiert. Beim AMNOG handelt es sich um eine Frühbewertung des Zusatznutzens eines Arzneimittels, die noch nicht auf einer Informationsbasis, wie sie die Versorgungsforschung benötigt, aufbauen kann.

Zur Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens gibt es zwei Meinungen. Die einen sagen, für die Kosten erhalten wir nicht die entsprechende Lebenserwartung und Lebensqualität. „Wir bezahlen einen Mercedes und erhalten einen Golf.“ Und die anderen sagen, wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt, so dass es kaum noch Effizienz- und Effektivitätssteigerungen braucht. Für jede Verbesserung müsse „mehr Geld ins System“. Beide Meinungen werden mit empirischen Belegen untermauert. Was ist richtig?
Beide Meinungen lassen sich letztlich nicht überzeugend belegen. Wählt man statt der Gesundheitsquote, d.h. dem Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, die jeweiligen Gesundheitsausgaben pro Kopf als Inputindikator und statt der absoluten Lebenserwartung deren Wachstumsrate als Outcomeindikator, rangiert Deutschland auf Basis der OECD-Daten zwar nicht an erster Stelle, aber im vorderen Feld vergleichbarer Länder. Dabei gilt aber die erhebliche Einschränkung, dass abgesehen von der vernachlässigten Lebensqualität das Gesundheitswesen nur 10 bis maximal 40 % der Lebenserwartung zu erklären vermag; der Rest wurzelt in Lebensbereichen außerhalb des Gesundheitswesens, wie z.B. in der ökologischen Umwelt, dem Bildungs- und Verkehrswesen sowie in Lebensstilvariablen.

Die zahlreichen Schnittstellen in der deutschen Gesundheitsversorgung führen oft zu ineffizienten oder sogar unnötigen Behandlungen und vermeidbaren Nachteilen für die Patienten. Welche Empfehlungen hat der Sachverständigenrat für die Sicherung einer sektorenübergreifenden Versorgungskontinuität?
Sektorübergreifende Versorgungskonzepte, die zwei oder mehr Leistungsbereiche einschließen, versprechen konzeptionell eine bessere Versorgungskontinuität. Dies gilt verstärkt für populationsorientierte Versorgungsmodelle. Der Rat empfiehlt auch deshalb, die integrierte Versorgung nach § 140a-d SGB V auf sektorübergreifende Projekte zu begrenzen und bei der finanziellen Förderung von innovativen Versorgungskonzepten populationsorientierte Ansätze und solche, die den Pflegebereich einbeziehen, zu priorisieren.

Welche Reformmaßnahmen empfehlen Sie für einen zielorientierten Wettbewerb an der Schnittstelle ambulant-stationär?
Zunächst bedarf es an dieser Schnittstelle einheitlicher ordnungspolitischer Rahmenbedingungen für niedergelassene Vertragsärzte und Krankenhäuser. Hierzu gehören einheitliche Bedingungen bei den Leistungsdefinitionen, der Qualitätssicherung, den Zugangsmöglichkeiten zu neuen Behandlungsmethoden, den Preisen von veranlassten Leistungen, der Vergütung einschließlich Investitionsfinanzierung und den Regulierungen, wie z.B. Mindestmengen oder Regelleistungsvolumina. Der neue ambulante spezialfachärztliche Versorgungsbereich beinhaltet diese ordnungspolitischen Rahmenbedingungen in nahezu idealer Weise. Leider bleibt er auf ein zu
schmales Leistungsspektrum begrenzt, das einer Erweiterung um ambulante Operationen, stationsersetzende Leistungen und stationäre Kurzzeitfälle bedarf. Um hier einer angebotsinduzierten Nachfrage vorzubeugen, möchte der Rat diesen Bereich der selektivvertraglichen Gestaltung unterstellen. Auf eine Hebung des ambulanten Substitutionspotenzials zielt auch der Vorschlag einer Angleichung der Honorierungssystematik von stationären Kurzzeitfällen und vergleichbaren ambulanten Behandlungen.

Sie sind seit 1993 Mitglied und seit 2002 Vorsitzender des Sachverständigenrates, also jetzt seit 19 Jahren Mitglied und seit 10 Jahren Vorsitzender. Damit überblicken Sie die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen über einen sehr langen Zeitraum. Wie würden Sie die langfristige Richtung der Empfehlungen des Sachverständigenrates beschreiben? Wo sind in der Zeit die größten Fortschritte erzielt worden?
Ein Sachverständigenrat oder auch ein Wissenschaftlicher Beirat kann realistischerweise nicht erwarten, dass die Politik seine Vorschläge zeitnah Eins zu Eins umsetzt. Der Rat gab in den letzten zehn Jahren vornehmlich Empfehlungen zur Prävention, zu den Patientenrechten sowie zur Nutzerkompetenz, zur Behandlung multimorbider Patienten, zur Pflege und ihrer Finanzierung, zur Arzneimittelversorgung, zum Wettbewerb an den Schnittstellen, zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und zum Qualitätswettbewerb ab. Dabei griff die Gesundheitspolitik in einem aus meiner Sicht erfreulichen Umfang auf diese Empfehlungen zurück. Dies betrifft z.B. Konzepte der Patienteninformation und -beratung zur Stärkung der Nutzerkompetenz, den Begriff der Pflegebedürftigkeit, die Bedeutung der Demenz und im Grundsatz die Anpassung der Leistungssätze in der Pflege, die Nutzen-Kosten-Bewertung von Arzneimitteln, den ordnungspolitischen Rahmen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung und im Bereich der Bundesländer Initiativen zur Sicherung der Versorgung in strukturschwachen Regionen. Der politische Diskurs über geeignete Präventionsmaßnahmen und ihre Ansatzpunkte knüpft ebenfalls an den Konzepten des Rates an.

Herr Prof. Wille, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.