„Jetzt hilft Knieps den Betriebskassen für zunächst fünf Jahre, das wieder aufzubauen, was er als Spitzenbeamter eingerissen hat“, schrieb die FAZ in ihrem Online-Portal. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit dem Ex-Geschäftsführer Politik des AOK-Bundesverbandes, danach Leiter der Abteilung „Gesetzliche Krankenversicherung, Pflegeversicherung“ im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung und nach seinem Ausscheiden aus dem BMG Partner der Unternehmens- und Politikberatung Wiese Consult über politische, ökonomische und soziale Grundsatzfragen, die er in seinem neuen Job als Vorstand des neugegründeten BKK-Dachverbands vorantreiben möchte.
>> Sehr geehrter Herr Knieps, die Betriebskrankenkassen fürchteten als Kassenart Nr. 3 nach AOK und Ersatzkassen in der (gesundheits-)politischen Wahrnehmung marginalisiert zu werden und gründeten einen neuen Dachverband. Ihre Wahl zum Vorstand dieses Verbandes hat viele in der Szene überrascht. Was reizt Sie eigentlich an dieser Aufgabe?
Der BKK Dachverband ist ein eingetragener Verein – das heißt, alle BKK, die bei uns Mitglied sind, wollen diesen Verband. Sie haben sich bewusst für mich als Vorstand entschieden. Ich bin ja nun schon einige Wochen in diesem Amt, habe schon einige BKK vor Ort besucht und stelle fest, dass ich zum einen außerordentlich freundlich und kollegial begrüßt werde, und dass zum anderen vor Ort die Nähe zu den Unternehmen gelebt wird. Außerdem ist es eine Rückkehr in ein Tätigkeitsfeld, das ich sehr gut kenne, wenn auch bei einer anderen Kassenart. Der Unterschied ist: Dieser Verband wird neu aufgestellt und ich freue mich, hier die Strukturen und Prozesse so gestalten zu können, dass sich die Kassenart BKK - vermittelt durch ihre Interessenvertretung Dachverband - als gefragter Gesprächspartner und Impulsgeber für die „Gesundheitsszene“ in der Hauptstadt etablieren kann.
Wie kann denn überhaupt die Effizienz und der Erfolg eines Dachverbandes gemessen werden?
Vordergründig betrachtet wird von unseren Mitgliedern natürlich zuallererst auf die Umlage geachtet: Was kostet unser Verband im Vergleich zu jener, welche die Betriebskrankenkassen dem Spitzenverband zahlen müssen. Das wäre jedoch eine sehr vordergründige Betrachtung. Weit wesentlicher ist die Frage, welche Rolle der neue BKK Dachverband im Politikgeschehen spielen wird und auch, wie viel Gehör er finden wird.
Das im Vergleich zu anderen Verbänden, wie dem Spitzenverband Bund oder auch dem AOK-Bundesverband.
Es wird darauf ankommen, wie laut und durchdringend die Stimme der Betriebskrankenkassen, gebündelt über den BKK Dachverband, in Zukunft sein wird. Die klassische Verbandsarbeit misst sich aber auch daran, wie schnell unsere Mitglieder das Neueste aus dem Politikgeschehen Berlins erfahren und wie gut die Qualität der Einschätzung sowie der Prognosen sein wird. Aber auch, welchen Ruf unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Politik und bei anderen Verbänden sowie Vertragspartnern haben.
Das ist ein ganzes Bündel eher weicher Faktoren. Doch zählt am Ende nicht das, was unterm Strich steht, wenn gefragt wird: Hat das Invest wirklich etwas gebracht?
Die Betriebskrankenkassen haben selbst gespürt, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen konnte. Sonst hätten sie den neuen Dachverband gar nicht erst gegründet.
Der alte Bundesverband in Essen war einfach auch zu weit weg von der Politik.
Die Betriebskrankenkassen machten hier die gleichen Erfahrungen wie alle anderen Akteure im Gesundheitswesen: Die Politik hat sich nach Berlin verlagert und ist wesentlich zentraler geworden, als das in der Bonner Republik je der Fall war, in der mit München, Hamburg, Köln und Frankfurt auch noch andere Zentren politisch relevant waren.
Gab es auch andere Gründe?
Selbstredend. Die Betriebskrankenkassen wollten mehr Mitsprache im Verband - und zwar direkt, nicht nur vermittelt über die Landesverbände. Ihr verständliches Hauptinteresse war es, als Kasse - ob als große oder kleinere - in ihrer ganzen Vielfalt wahrgenommen zu werden. Das hat auch seine Tücken, denn unser Dachverband ist einer, dessen Mitglieder sich gegenseitig Konkurrenz machen. Auch die Philosophie, welche Art von Wettbewerb man will, ist sehr unterschiedlich. Das liegt allein schon daran, welche unterschiedlichen Kassen wir vereinen: So haben beispielsweise fast alle DAX-Unternehmen eigene Betriebskrankenkassen, aber auch familiengeführte mittelständische Firmen. Schon allein dadurch treffen sehr unterschiedliche Welten im Verband aufeinander.
Es wird schwierig werden, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren.
Sicher. Aber die Betriebskassen haben andererseits erkannt, dass sie von der Politik marginalisiert werden, wenn sie diese gemeinsame Botschaft nicht haben. Das kenne ich noch sehr gut von der anderen Seite des Tisches. Hier habe ich die Gespräche mit den unterschiedlichen Akteuren innerhalb des BKK-Lagers gerade aufgenommen, denn es gibt natürlich unterschiedliche Interessenlagen, die einerseits austariert, aber eben auch gebündelt werden müssen. Beispielsweise hat die Deutsche BKK, übrigens zweitgrößte BKK in unserem Dachverband, kürzlich in Ihrem Medium ihre Interessenlage ausführlich dargelegt - der BKK Dachverband vertritt jedoch 89 BKK, die alle den berechtigten Anspruch haben, dass wir ihre Interessen ebenfalls im Auge haben. Jedoch bin ich zuversichtlich, dass es genügend große Schnittmengen gibt, um mit einer BKK-Stimme und gemeinsamen Botschaften in der Hauptstadt Gehör zu finden.
Wohl wahr. Sie waren damals auf Politikseite mit dabei, als der Spitzenverband eingesetzt wurde, der letztlich die einzelnen Verbände schwächte. Jetzt sind Sie genau bei einem solchen Einzelverband und haben in der neuen Welt, die Sie damals mit schufen, zu leben.
Demnächst wird hier in der Ecke dieses Raums ein Geschenk meiner Kinder hängen - ein überdimensionaler Plüsch-Elchkopf, der ein Schild mit einem Sponti-Spruch umhängen hat, der da lautet: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Doch Spaß beiseite: Die Erwartungshaltung an den Spitzenverband Bund war es, dass dieser umfassend die Interessen aller Krankenkassen vertritt. Das hat sich jedoch nur zum Teil realisieren lassen. Das liegt auch daran, dass all jene Themen, die wirklich wettbewerbsrelevant sind, Kassen und die Kassenarten für sich selbst reklamieren, und der Spitzenverband Bund dem nur zu gern nachkommt. Darum ist der Spitzenverband beispielsweise nicht sprachfähig zu wichtigen Themen wie Risikostrukturausgleich, Prävention, betrieblicher Gesundheitsförderung und einer differenzierten Ausgestaltung dieser Angebote.
Weil gerade bei diesen Themen die Kassenarten spezifisch angesprochen werden müssen.
Genau. Das trifft gerade auf die betriebliche Krankenversicherung mit ihrer traditionellen Herkunft mit ihrer Nähe zu den jeweiligen Trägerbetrieben zu. Diese Betriebsnähe wird in Zeiten des demografischen Wandels immer wichtiger, weil die deutsche Wirtschaft ein erhebliches Interesse daran haben muss, ihre Belegschaften fit zu halten.
Das kann eine große Chance für die BKK werden.
Darum werden wir in dieses Thema in Zukunft massiv investieren, um es als Alleinstellungsmerkmal im Kassenwettbewerb zu nutzen.
Hand aufs Herz: War der Spitzenverband eine so tolle Idee?
Ja und nein. Im Vergleich zum Status quo ante schon. Damals waren acht Verbände aktiv, die in einem permanenten Sitzungsmarathon ständig um sich selbst kreisten, was ich damals mal als einen immerwährenden Reichstag bezeichnet habe. Das waren Gremien, die keine Entscheidungen mehr fällen konnten, sich gegenseitig blockierten und eine schier unendliche Zeit aufwandten, um politische Positionen zu erarbeiten. Sie konnten eigentlich nur abgeschafft werden.
Weil die Politik gerade in Reformprozessen handlungsfähige Partner braucht?
Exakt. Wenn es beispielsweise um die Schließung einer Kasse mit anschließender Haftung geht, braucht die Politik eine Institution, die aus sich heraus fähig ist, solche Fälle zu managen. Das war die alte Struktur eben nicht, die auf Kooperation und Koordination der unterschiedlichen Verbände fußte und nicht einmal eigene Mitarbeiter hatte. Genau das hat sich geändert. Wenn man nur mal die Rolle des GKV-Spitzenverbandes bei der Abwicklung nach Schließung der CITY BKK und dann bei der BKK für Heilberufe sieht, dann hat sich diese Institution schon bewährt. Ich glaube aber auch, dass dadurch die Stimme der GKV als Ganzes kräftiger geworden ist. Das zeigen auch die Auseinandersetzungen zwischen dem Spitzenverband und der KBV oder dem Spitzenverband und der pharmazeutischen Industrie. Von daher macht es nach wie vor Sinn, einen solchen Spitzenverband zu haben.
Sonst kein Einspruch?
Doch. Was ich heute etwas anders sehe (nicht nur weil ich jetzt hier bezahlt werde), ist die Struktur darunter. Es gibt zu viele Kassen, als dass man auf eine intermediäre Ebene zwischen Einzelkasse und Spitzenverband Bund verzichten könnte. Gerade unsere Mitglieder beklagen sich, dass der Spitzenverband doch sehr weit weg ist von der betrieblichen Praxis. Meine ersten Gespräche, die ich mit dem Vorstand und mit Mitarbeitern des Spitzenverbandes geführt habe, drehten sich darum auch genau um das Thema, wie man die Kassen besser einbinden kann.
Sie waren auf der Politikseite, davor auf Seiten der AOK, danach auf der Beratungsseite und nun wieder auf Verbandsseite. Wie hat sich denn dadurch Ihre Sichtweise verändert?
Man lernt immer dazu. Ich habe mal von einem großen Erwachsenenbildner der Universität Augsburg gelernt, dass Probleme immer dreidimensional sind, die Sichtweise auf ein Problem indes immer zweidimensional. Dadurch sieht der Betrachter immer nur den Ausschnitt eines Problems. Geht man aber um dieses Problem herum, sieht man auf einmal Dinge, die man vorher einfach nicht wahrnehmen konnte. Genau diese Erfahrung habe ich durch den Wechsel von der AOK zum BMG und vom BMG zur Beratungstätigkeit gemacht, wo wir viele Kunden aus der Industrie hatten. Mich hat schon beeindruckt, wie groß die Distanz zwischen den politischen Gesetzmäßigkeiten und den Gesetzmäßigkeiten ist, nach denen beispielsweise ein Weltkonzern in der pharmazeutischen Industrie tickt.
Versteht man die jetzt besser als vorher?
Auf jeden Fall. Doch umgekehrt versteht die Industrie jetzt auch die Politik besser - hoffe ich zumindest.
Es müsste eigentlich mehr solche Seitenwechsler wie Sie geben, damit das System als solches besser funktionieren kann.
Ich hatte mich schon im BMG dafür ausgesprochen, ein Traineeprogramm unter Einbeziehung der Gesundheitswirtschaft und der Verbände zu schaffen. Doch dann kamen die Antikorruptionsbeauftragten und sagten, das ginge nicht. So etwas halte ich für absurd. Warum soll nicht ein Mitarbeiter, der später Nutzenbewertungsregeln für die Industrie aufstellt, sich ansehen, wie ein Medikament entwickelt wird, welche Studien wann aufgelegt werden und vor allem welche Zeiträume es braucht, bis erste wissenschaftlich valide Erkenntnisse über ein Produkt gewonnen werden können? Klar weiß man das aus der Theorie, doch erst, wenn man einmal solche Prozesse in einem Unternehmen erlebt hat, ahnt man, wie vulnerabel das Geschäft der Entwicklung eines neuen Arzneimittels ist. Genauso sollte ein Mitarbeiter im BMG, der später für das Vertragsarztrecht zuständig ist, mal eine Arztpraxis von innen gesehen und beispielsweise den Aufwand einer Abrechnung kennengelernt haben.
Oder in einer Klinik das DRG-System verstehen lernen.
Ich habe mal etwas scherzhaft zu einem früheren Mitarbeiter gesagt: „Sie machen das Gesetz so, dass man es ohne Ihre Kommentare niemals verstehen kann.“ Ähnlich ist das ärztliche Honorar- oder das DRG-System. Da kenne ich heute niemanden mehr, der das versteht, früher kannte ich wenigstens noch zwei, drei.
Andererseits ist sicher die mögliche Korruption eine ständige Gefahr. Brauchen wir nicht Standards, wie man mit solchen Interessenkonflikten umgehen kann?
Die brauchen wir sicher. Das Ganze muss auch transparenter werden. Darum habe ich damals im Ministerium eingeführt, dass es über jedes Gespräch einen kurzen Vermerk oder eine kurze Information an den Vorgesetzten zu geben hat, woraus hervorgeht, wer wann über was mit wem geredet hat. Das gleiche galt auch für Gesetzgebungs- und Formulierungsvorschläge. Ich weiß genau, wie bequem es ist, wenn man Verbände anruft, die schnell mal ein paar Vorschläge machen, aus denen man sich etwas aussuchen kann. Das kann man auch machen, muss dann aber jeden Satz, der in einen politischen Abstimmungsprozess gegeben wird und der nicht originär von einem BMG-Mitarbeiter stammt, als solchen - und zwar mit Quellenangabe - kennzeichnen.
Wer kontrolliert das dann?
Das macht ein guter Amtschef, wie es beispielsweise der verstorbene Staatssekretär Dr. Schröder war. Dazu muss der Amtschef natürlich wissen, wo der Hase im System und im eigenen Haus läuft. Das ist ein echtes Problem, denn eine neue Administration braucht immer ein bis zwei Jahre, bis sie überhaupt das eigene Haus verstanden hat.
Kehren wir zur BKK-Landschaft zurück. Ist sie denn heute noch so gefordert wie früher? Oder sind diese vielen, oft kleinen Kassen nicht Relikte aus der Vergangenheit, die nur noch eine Zeit lang mitgeschleppt werden?
Solange sich Versicherte bewusst für eine solche Kasse entscheiden, haben diese ein Existenzrecht.
Diese Meinung haben Sie nun nicht immer vertreten.
Stimmt. Meine ehemalige Chefin hat immer von rund 50 Kassen geredet, doch diese Zahl fand ich immer ziemlich willkürlich. Für mich ist entscheidend, ob eine Kasse leistungsfähig ist, ihr Service überzeugt und ob sie alleine oder in Kooperation mit anderen ihre Marktbedeutung durch Vertragsgestaltung im Wettbewerb umsetzen kann. Wenn Sie das nicht kann, sehe ich sie als nicht erforderlich an. Und wenn sie einfach nur eine Kopie einer anderen ist, braucht man sie ebenfalls nicht.
Auch Sie hatten damals immer einmal Zahlen geäußert, auf die es hinauslaufen würde.
Das würde ich heute nicht mehr tun. Man hat erlebt, dass der Fusionsprozess ins Stocken geraten ist. Diese Prozesse kommen letztlich nur unter Druck zustande, ganz selten aus Weitsicht oder weil man so gut zusammenpasst. Fusioniert wird doch erst in dem Moment, an dem der Druck steigt, weil die Beitragsausstattung des Fonds nicht mehr ausreichend ist und möglicherweise eine Unterdeckung droht.
Andererseits bedeutet schiere Größe nicht unbedingt gleich Servicequalität.
Stimmt, wenn ich mir so ansehe, worüber sich die Versicherten im BMG oder im Petitionsausschuss beschwert haben. Die haben sich selten über kleine Krankenkassen beschwert, sondern in der Regel über die großen und hier vor allem über deren Beschaffungsentscheidungen und Hilfsmittelbewilligungen.
Sie hatten vorher die Chancen angesprochen, die ein BKK-System gerade in der nächsten Zukunft haben kann, wenn es darum geht, die Bedeutung des Menschen als Arbeitskraft zu thematisieren. Vielleicht auch, um damit den Gesundheitsgedanken über die reine Gesundheit - über den SGB V hinaus - auszuweiten.
Der Gesetzgeber hat doch die Schnittstellen zu anderen sozialen Systemen geschaffen. Dazu zähle ich beispielsweise die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Hier brauchen die Kassen einen größeren Gestaltungsspielraum. Ich habe selten erlebt, dass die Politik, wenn eine Kasse ein überzeugendes Konzept entwickelt hat, dagegen geschossen hat. Wer aktiv wird, wird eigentlich vom Gesetzgeber nicht bestraft, was bei der Aufsicht manchmal ein bisschen anders aussieht. Warum sollten wir zum Beispiel in der Perspektive nicht Gruppentarife anbieten können? Bis 1988 stand in der Reichsversicherungsordnung, dass man die Beitragshöhe bei Unternehmen nach der Gefährdungsklasse differenzieren kann; und auch die Unfallversicherung kennt dieses System. Warum sollte man nicht einmal Experimente in diesem Bereich unternehmen?
In Form von Bonus- und Malussystemen?
Eher Bonus. Wer seinen Gesundheitszustand durch aktive betriebliche Gesundheitsförderung oder durch Präventionsmaßnahmen verbessert, bekommt Geld zurück. Doch hier stehen wir ganz am Anfang der Überlegungen, doch kann ich mir hier durchaus eine Entwicklungsperspektive vorstellen.
Und wenn man über den SGB V hinausgeht?
Ich denke da beispielsweise an das SGB IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. In diesem Sozialgesetzbuch finden sich viele mustergültige Gedanken zur Kooperation von Sozialversicherungsträgern mit Dritten. Wenn wir das, was man daraus ableiten könnte, in der Krankenversicherung mit Leben füllen könnten, wären wir schon einen großen Schritt weiter.
Dann würden wir vielleicht auch eine andere politische Diskussion bekommen, die ganz handfeste Folgen für die Auslegung und Ausgestaltung des SGB V hätte.
Ich habe in unterschiedlichen Positionen immer wieder kritisiert, dass die Philosophie der Steuerung des Gesundheitswesens immer der Optimierung von Subsystemen folgt, statt auf einen Gesamtnutzen für das Gesamtsystem zu achten. So wird der Wirtschaftlichkeitsbegriff auf das einzelne Arzneimittel, die einzelne ambulante Behandlung oder die einzelne Krankenhausbehandlung bezogen, anstatt zu beachten, dass durch eine etwaige Einsparung in einem Subsystem die Lasten auf ein anderes System verschoben werden, wobei die Kosten unter Umständen sogar noch größer werden können.
Was wäre ein probater Ansatz?
Wir müssen versuchen, zu einer integrativen Betrachtungsweise zu kommen. Nur so wird man den Gesetzgeber dazu bekommen, dass er nicht mehr wie bisher eine Abfolge von Subsystemen zu optimieren versucht, sondern stärker das Gesundheitssystem als System wahrnimmt und gesamthaft zu steuern versucht.
Könnte der Dachverband Träger und Motor dieses Gedankens sein?
Zumindest werde ich mich diesbezüglich in die Gremien des Dachverbands einbringen. Die ersten Diskussionen mit Vorstandsmitgliedern und Abteilungsleitern des Dachverbandes hatte ich schon.
Sie sprechen da auch ein generelles Problem an, das das AMNOG mit seiner doch sehr eindimensionalen Nutzensicht nur entfernt streift.
Was auch daran liegt, dass meist die nötigen Daten fehlen, die bisher sektoral, kassen- oder auch kassenartenbezogen erfasst werden. Somit werden nötige Studien der Versorgungsforschung, wenn nicht unmöglich gemacht, wohl aber sehr erschwert. Darum werde ich mich - ich weiß, dass da auch Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen erforderlich ist - dafür einsetzen, die Datenlandschaft der BKK besser nutzen zu können.
Können Sie sich vorstellen, dass es einen gemeinsamen Versorgungsforschungs-Datensatz der BKK gibt, wie ihn Prof. Dr. Bertram Häussler im vorletzten Titelinterview als Public Use-File gefordert hat?
Ich kann mir einen solchen Datensatz gut vorstellen.
Gibt es als ersten Schritt eine Art Überblick, an welchen Versorgungsforschungsprojekten die verschiedenen BKK arbeiten?
Den versuchen wir zu erhalten. Auch wenn bei uns noch nicht alle Betriebskrankenkassen Mitglied sind, zur Zeit sind es 89 von 109 möglichen.
Es kommt ja auch auf die Versichertenzahl an, die dahintersteht.
Sicher. Aber selbst wenn die eine oder andere BKK nicht mitmachen sollte, ist es auch nicht so schlimm. Die absolute Hundertprozentquote - das habe ich im BMG lernen müssen - ist niemals zu erreichen. Wer das versucht, legt sich die Latte immer zu hoch und springt ebenso regelmäßig unten durch. Dafür bekommt man nun mal keinen Applaus.
Was sind Ihre ersten Schritte als Chef des neuen Dachverbands?
Wir werden als Erstes eine Positionierung und eine Öffentlichkeitsarbeitsstrategie entwickeln. Der Verband steht nun einmal für die betriebliche Krankenversicherung und muss das in Wort und Tat ausdrücken können. Die AOK hat es da etwas einfacher: Da macht Dr. Hermann von der AOK Baden-Württemberg einen eigenen Hausarztvertrag und trotzdem stehen alle AOK als die große Hausarztfreundin da. Dass in diesem Stuttgarter Vertrag auch die Bosch-BKK mitmacht, nimmt man doch kaum zur Kenntnis.
Die Bosch BKK ist ja auch kein originärer Partner dieses Vertragskonstrukts.
Sie bringt aber durchaus eigene Ideen ein. Gerade bei der Ausgestaltung der Arzneimittelsteuerung ist viel Expertise der Bosch BKK eingeflossen.
Es gibt aber auch andere nicht so aktive BKK: Wie hält es ein Verband mit Best Practice?
Ich teile die Philosophie nicht, dass in einem Verband der Schlechteste oder der Langsamste das Gesamttempo bestimmt. Wer immer versucht, auch noch den Schlechtesten mitzuschleifen, gibt sich und sein Ziel auf. Darum tun wir das nicht. Wir werden die Avantgarde vertreten und als solche den Diskussionsprozess anstoßen.
Sie wollen auch eine Best-Practice-Kultur entwickeln?
Warum nicht? Die könnten wir auf einer internen Plattform darstellen, damit man nicht gleich alle Zahlen und Fakten nach außen tragen muss. Dennoch kann man die Erfolgsfaktoren veröffentlichen, um zu verdeutlichen, was warum gut läuft und was warum nicht. Die Idee des Best-Practice ist aber nichts Neues. Schon der Bundesverband hatte im Jahr 2006 ein großes Projekt, das damals von McKinsey unterstützt wurde. Hier wurde eruiert, in welchen Bereichen welche der Mitgliedskassen einen Best-Practice-Ansatz haben. Das Problem des Bundesverbandes war es damals, dass die nahezu wasserdichte Schicht der Landesverbände zwischengeschaltet war. Von daher war es für den Bundesverband ganz schwierig, mit den Kassen direkt in Kontakt zu kommen, sich mit ihnen auszutauschen und auch die Best-Practice-Ansätze transparent zu machen. Als Dachverband sind wir diesbezüglich in einer sehr viel komfortableren Situation, da wir nun direkten Zugang zu den Kassen haben. Von daher könnte der Best-Practice-Ansatz eine ganz andere Erfolgschance haben.
Vor wenigen Tagen gab es ein Gerichtsbeschluss des LSG NRW, der den Finanzausgleich 2013 des Morbi-RSA in Teilen revidiert hat, zu dem Sie sich als neuer Chef des BKK Dachverbands zu Wort gemeldet haben. Sie führten in einer Pressemitteilung an, diese Korrektur sei nicht weitgehend genug.
Es ging bei diesem Beschluss um die sogenannte Annualisierung, also die Berücksichtigung des Todeszeitpunktes. Das stellt aber nur eine Facette der Debatten um den Risikostrukturausgleich dar. Es gibt seit Jahren wissenschaftliche Berichte des Beirates, die klipp und klar auf andere Methodenfehler hinweisen - wie bei der Erfassung des Krankengeldes, der Verwaltungsausgaben und der Abbildung des Finanzstatus insbesondere kleinerer Kassen, wenn beispielsweise ein Hochleistungs- oder Hochkostenfall auftritt. Deshalb sollte man, wenn man schon dran geht einen Methodenfehler zu beseitigen, alle erkannte Mängel beseitigen. Doch da bin ich Realist: Die Debatte um den Risikostrukturausgleich ist eine Debatte um Geld zwischen Krankenkassen und wird immer interessengeleitet sein.
Mit was rechnen Sie also?
Wenn das Bundesversicherungsamt Revision einlegt, wird die Politik handeln müssen. Dann wird sich das BMG die Gesamtproblemlage ansehen und dies mit den Krankenkassen erörtern müssen. Kommt dabei kein Konsens zu Stande, wird der Knoten politisch durchschlagen werden.
Bei den konträren Positionen der Kassen rechnen Sie mit einem Konsens?
Ich würde ihn begrüßen. Die Verbände der Krankenkassen sollten gegebenenfalls unter externer Moderation der Politik einen gemeinsamen Vorschlag machen, was indes einige meiner Kollegen etwas anders sehen. Aber erinnern wir uns: Zu Beginn der Amtszeit von Ulla Schmidt hat es auch einen gemeinsamen Vorschlag der alten Kassenverbände gegeben. Dort wurde niedergeschrieben, wie der Weg in Richtung Morbi-RSA in der Zeitperspektive und inhaltlich aussehen könnte. So viel Überzeugungskraft wie damals müssten wir doch eigentlich heute auch haben - bei allen real existierenden Interessengegensätzen.
Und wenn nicht?
Dann wird die Politik ein solch heißes Eisen eher zögerlich anpacken und wahrscheinlich durch Gerichte in allerletzter Sekunde gedrängt werden, eine Notlösung finden. Das kann es aber doch nicht sein, oder? Wenn wir mehr als eine Notlösung haben wollen, müssen wir schon gemeinsam einen Vorschlag machen.
Sehen Sie das als wirklich möglich an? Die Macht des Geldes ist doch sehr beharrlich.
Sicher. Doch jeder weiß, dass er schon morgen auf der Verliererseite stehen kann. Es nützt keinem etwas, ein überragender Gewinner dieses Spiels zu sein, wenn auf der anderen Seite einigen Kassen das Geld fehlt, und sie möglicherweise geschlossen werden müssen. Dann sind auf einmal diejenigen, die zuvor die Gewinner waren, auf einmal im Haftungsverbund und damit doch wieder die Zahler. Von daher muss man sich sehr genau überlegen, wie man einigermaßen stabil die Interessen möglichst vieler vertreten kann.
Was nun nicht heißt, dass man damit die Maximalinteressen Einzelner vertreten kann.
Das wird sicher nicht funktionieren. Dass ein Herr Baas von der TK oder der Chef einer wirklich gut gehenden Betriebskrankenkasse ein anderes Interesse haben als die Bundesknappschaft oder beispielsweise die Deutsche BKK, wie Herr Stein im letzten Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ erklärt hat, ist doch klar. Aber dennoch sehe ich durchaus die Bereitschaft, in eine Diskussion einzutreten.
Ein solcher Konsens würde das System sicher verbessern helfen.
Wir sind nicht dazu da, primär Finanzstreitigkeiten zu regeln, sondern die Versorgung der Versicherten zu verbessern. Wenn dieser Fokus aus dem Blickfeld gerät, weil man sich mal wieder über den Risikostrukturausgleich streitet, finde ich das ziemlich unbefriedigend.
Eigentlich wäre ein Konsens zu Versorgungsqualität und Versorgungsmanagement wesentlich interessanter und zielführender, denn beides leidet, wenn durch ungenaue RSA-Zuweisungen zu wenig Geld vorhanden ist. Müsste nicht eine Diskussion angeschoben werden, welchen Wert eine gute Versorgung der klassischen Versorgerkassen beigemessen werden muss?
Der Wert ist da. Nur die Betrachtungsweise ist durch die jährliche Betrachtungsweise die falsche.
Müsste man nicht auch die Berichterstattung und das Controlling-System ändern, um langfristige Effekte der Versorgung nachweisen zu können?
Das haben gut geführte Kassen längst getan. Die öffentliche Berichterstattung auf der Basis von Statistiken - KV 45 insbesondere - ist dem nur noch nicht gefolgt. Dazu kommt, dass es immer noch ein manipulationsanfälliges Instrument ist; soll heißen: Wer versiert buchen kann, ist in der GKV im Vorteil. Darum nützt es auch herzlich wenig, allein Daten, die man aus dem RSA bekommt, als Versorgungsdaten zu interpretieren. Erschwerend kommt hinzu, dass bei KV 45 immer eine relativ kleine Zeitperiode - ein Quartal, bestenfalls mal ein Jahr - betrachtet wird. Wie soll man da feststellen, ob sich das, was über Jahre hinweg beispielsweise in ein Diabetikerprogramm investiert wurde, gerechnet hat oder nicht? Die kurzfristige kameralistische Betrachtungsweise ist sicher eines der zentralen Probleme unseres Gesundheitssystems. Damit bin ich bei der Rechtsaufsicht, bei der ich oft nicht den Eindruck habe, dass sie die Philosophie des Risikostrukturausgleichs richtig verstanden hat, leider (noch) nicht durchgedrungen. Die genehmigt Selektivverträge nämlich nur, wenn ein „return of investment“ innerhalb eines Jahres vorliegt. Das ist völlig absurd.
Sie hält sich sicher akkurat an den Gesetzestext.
Als ich im BMG saß und Herr Hecken beim BVA, haben wir über diese Probleme geredet. Dann wurde das Gesetz zumindest systemfreundlich interpretiert.
Mit seinem Nachfolger im Amt, Herrn Dr. Gaßner, kann man nicht reden?
Ich weiß es noch nicht, ich denke aber schon. Ich habe Herrn Dr. Gaßner als konstruktiven Kollegen kennengelernt. Wenn man schon dabei ist, kann man gleich mit überlegen, ob nicht auch das Haushaltsrecht des SGB V renoviert werden muss. In der Politik habe ich dazu die Bereitschaft erlebt, völlig unabhängig von der parteipolitischen Orientierung. Damals hat die hessische Sozialministerin Lautenschläger dafür plädiert, mehr handelsrechtliche Buchführungsvorschriften einzuführen, Prof. Lauterbach auf der anderen Seite ebenso. Das ist in der Politik nicht umstritten.
Wie bekommt man ein solches Thema voran?
Indem man es öffentlich thematisiert und eigene Vorschläge macht, was wie geändert werden könnte.
Ist die Innovation auf Kassenseite durch die Rechtsaufsicht oder die Form der Rechtsaufsicht behindert?
Die unterschiedlichen Aufsichtszuständigkeiten und vor allem die unterschiedlichen Aufsichtspraktiken sind für uns seit Langem ein Dorn im Auge. Kein Wunder auch, denn es kann einer Kasse wie der Siemens BKK durchaus passieren, dass sie einen Selektivvertrag schließt, den das BVA prima findet, aber dann in jedem Bundesland jeder Landesaufsicht vorstellen muss, wovon zum Beispiel die Hälfte zustimmt, die andere dagegen nicht. Ebenso kann es passieren, dass die AOK Baden-Württemberg bei ihrer Landesaufsicht einen Vertrag ohne Probleme genehmigt bekommt, während der gleiche Vertrag mit der gleichen Philosophie und den gleichen Steuerungsansätzen eine unserer Kassen beim Bundesversicherungsamt nicht genehmigt wird. Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar.
Sie hatten in der Vergangenheit der Bundesregierung einen Vorschlag gemacht, wie eine funktionale Aufsichtsteilung aussehen könnte: Für Finanzsachen sollte der Bund zuständig sein, der auch den RSA abwickelt.
Die ganze Debatte um echte oder gefühlte Finanzautonomie ist eine Scheindebatte, denn für die Versorgungsfragen sind nun mal die Länder zuständig. Das hieße dann aber auch, dass an dieser Stelle alle Länder - bis auf einige wenige - aufrüsten müssen. Denn nicht jedes Bundesland hat eine so funktionsfähige Verwaltung wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Selbst in größeren Bundesländern gibt es nicht einmal ein eigenes Referat im entsprechenden Ministerium. Davon zu unterscheiden ist die Frage nach regional differenzierten Zuweisungen aus dem Risikostrukturausgleich oder die Rückkehr zur Beitragssatzautonomie der einzelnen Kassen. Hier kann ich mir durchaus Veränderungen vorstellen.
Wenn einige Bundesländer nicht einmal ein eigenes Referat haben, wird das nicht funktionieren.
Nie. Die da beschäftigten Menschen sind völlig überfordert, wenn sie alle Versorgungsverträge ansehen müssen. Wer aber Versorgungskompetenz als Land reklamiert, muss auch entsprechende Leute mit der nötigen Kompetenz haben. Alleine schon von daher plädiere ich für eine Veränderung der Aufsicht. Das setzt natürlich auch voraus, dass sich Bundes- und Länderaufsichten nicht nur zweimal im Jahr zusammensetzen, sondern ein permanent funktionsfähiges Netzwerk bilden. Aber auch das kann man aus Unternehmen lernen, dass unterschiedliche Standorte durchaus in einer gemeinsamen Philosophie zusammenarbeiten können.
Wenn denn ein gemeinsames Wollen dahinter vorhanden ist. Was würden Sie denn einer neuen Bundesregierung als wichtigste Schlüsselthemen empfehlen?
Vor allem würde ich empfehlen, einen Fahrplan für die gesamte Legislaturperiode zu erstellen. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass man einen Prioritätenplan braucht; und dann die Konsequenz, diesen auch nacheinander abzuarbeiten.
Natürlich sieht Ihr Prioritätenplan anders aus als von manchen Politikern oder von mancher Partei. Was steht bei Ihnen ganz oben?
In meiner Hierarchie steht die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung ganz oben. Das bedeutet Abbau von Überversorgung in Ballungsgebieten, und Abbau von Unterversorgung in sozial benachteiligten und ländlichen Gebieten. Das ist sicher das schwierigste Thema, aus dem sich wiederum andere Fragen und Problemfelder ableiten.
Bildet sich das denn nicht bestens im BKK-System ab? Man kann sich doch gut vorstellen, dass in schwächer versorgten Gebieten die BKK neben den AOKen die Treiber sind.
Betriebskrankenkassen haben in der Regel im ländlichen Raum keinen hohen Marktanteil, da sie aufgrund der betrieblichen Herkunft klassische Krankenkassen in meist urbanen Ballungsgebieten sind. Doch haben wir durchaus auch kleinere Kassen, die eher in strukturschwachen Gebieten oder in eher ländlichem Raum zu Hause sind. Generell aber spüren die BKK im Vergleich zu den AOK den Druck der Unterversorgung nicht so extrem, weil diese eben einen stärkeren Anteil in den ländlich strukturierten Gebieten haben. Doch damit haben sie auch einen Kostenvorteil, denn die Leute auf dem Land nehmen weniger medizinische Leistung in Anspruch. Ob das immer eine Frage der Notwendigkeit und des mangelnden Angebotes ist, ist eine andere Frage.
Ob das nun Angebots-indizierte oder eben nicht-indizierte Nachfrage ist, ist wahrlich die Frage. Doch kommen wir zum Themenfeld Rabattverträge. Sind diese Verträge für Sie sinnvoll?
Das Rabattthema ist nun nicht spezifisch BKK-typisch. Doch sollte man immer nach den Folgen fragen, unabhängig von der Kassenart. Wie geht der Versicherte mit dem Rabattsystem um? Was erlebt er in der Apotheke? Dann würde ich noch ein bisschen weiter gehen und fragen: Was hat denn das Gesamtsystem davon? Sicher können durch Rabattverträge durchaus nennenswerte Einsparbeträge erzielt werden. Auf der anderen Seite wird dadurch die Zukunft der Generikaindustrie bedroht, gerade im mittelständischen Bereich. Es kann durchaus sein, dass mit dem Rabattvertrag kurzfristig gespart wird, doch das Gesamtsystem langfristig verteuert wird, weil irgendwann nur noch drei oder vier internationale Konzerne den Markt dominieren.
Auch eine Änderung der Sichtweise, die Sie erfahren haben?
Durchaus. Ich war aber schon zu AOK-Zeiten skeptisch, ob die kurzfristige Betrachtungsweise die richtigen Ergebnisse bringt. Mein Anliegen war und ist es, das System zu stabilisieren. Außerdem bin ich im sogenannten rheinischem Kapitalismus sozialisiert worden: Ich habe gelernt, dass das Strangulieren der Gegenseite nicht gut ist, denn langfristig braucht man echte Partner.
Ist das nicht auch ein fast zwingender Ausfluss der Ökonomisierung im Gesundheitswesen.
Beim Thema Ökonomisierung bin ich vorsichtig. Das Wort gefällt mir einfach nicht; und zwar deshalb nicht, weil es den Eindruck schürt, als gäbe es einen ökonomiefreien Raum im Gesundheitswesen. Das stimmt jedoch nicht, denn jede Entscheidung im Gesundheitswesen hat nicht nur eine ethische, sondern immer auch eine ökonomische Dimension.
Hat nicht die Politik einen erheblichen Einfluss darauf, wie sie bestimmte Trends fördert?
Die Politik reagiert letztlich nur darauf, was die Akteure des Systems tun oder eben nicht tun. Der Arzneimittelbereich ist insoweit ein besonderer Bereich, weil man hier mit einfachen Maßnahmen relativ schnell Einsparungen erzielen kann. Wenn man das DRG-System oder die ärztliche Honorierung verändern will, braucht man dagegen viele Umsetzungsschritte und einen langen Atem. Eine sichtbare Einsparung erlebt man da in der Regel nicht in einer Legislaturperiode. Im Arzneimittelbereich kommt noch dazu, dass die Industrie bei der Politik ein ganz miserables Image hat. Das beginnt bei der Frage, ob ein öffentliches System die hohe Renditeerwartung einer Branche befriedigen muss, die deutlich über der von anderen Branchen liegt. Hinzu kommen die zersplitterte Verbandslandschaft der pharmazeutischen Industrie und deren - nach meiner Ansicht - schlechte Kommunikation.
Alle stellen sicher zu wenig dar, welchen Wert die Produkte für die Gesamtversorgung haben.
Und jedes Unternehmen erzählt nach Betroffenheit der Politik etwas anderes. Mir fehlen die Metabotschaften. Es wurde über Jahre hinweg versäumt, eine solide Kommunikation aufzubauen, dafür strapaziert man seit Jahren immer dieselben Untergangsszenarien. Politiker haben schon so oft gehört, dass morgen die Sonne nicht mehr scheinen wird, und ebenso erlebt, dass die Sonne doch wieder aufgeht. Wenn diese Metapher allzu sehr gebraucht wird, wirkt sie eben selbst dann nicht mehr, wenn man objektiv nachweisen kann, dass man zu bestimmten Bedingungen einfach nicht mehr konkurrenzfähig produzieren kann.
Welche Möglichkeiten hat denn die Pharmabranche, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen?
Sie muss eine wirklich gute Kommunikationsstrategie entwickeln, die über Jahre durchgehalten wird. Das hat beispielsweise die chemische Industrie exzellent hinbekommen. Vor 20 Jahren war das Image der chemischen Industrie durch diverse Chemieunfälle irgendwo zwischen Drogen- und Waffenhandel angesiedelt. Eine wirklich konsequente, langfristige Kommunikations- und Umweltschutzpolitik hat das geändert. Nun weiß ich aber auch, dass das Umfeld der Gesundheitspolitik ein anderes als jenes der Chemie ist, weil viel mehr - und oft selbst verschuldete - „Aufreger“ durchs System jagen.
Ist das nicht eine Frage der Rolle, die die Industrie spielen will?
Die Pharmaindustrie hat die eigene Rolle in der Vergangenheit als reiner Zulieferer verpackter Chemie definiert. In Wirklichkeit aber verkauft sie doch gar kein chemisches Produkt, sondern die mit diesem Produkt mögliche Behandlungsstrategie bis hin zum Versorgungskonzept. Hinzu kommt eine verfahrene gesellschaftspolitische Situation, weil die Kassen die pharmazeutische Industrie nahezu als „Klassenfeinde“ betrachtet. Da sitzen quasi beide in ihren jeweiligen Gräben und schießen ziemlich unkontrolliert und unkoordiniert auf die jeweils andere Seite. Besser wäre doch eine Kommunikation miteinander, die auf dem aufbaut, was der eine für den anderen leisten kann. Es gibt doch keine Branche, in der es so viele medizinische Expertise gibt wie in der pharmazeutischen Industrie, nun bräuchte sie eine bessere Kommunikation und Versorgungsforschung, die das evident belegt, was die Industrie versprechen kann.
Wären da die BKK und die Industrie nicht die besten Partner?
Warum nicht? Doch bisher wollen Pharmafirmen den Kassen Versorgungsmanagementkonzepte verkaufen, die man eigentlich gar nicht als solche bezeichnen kann - die sind zum großen Teil einfach nicht stimmig, sondern nur darauf ausgelegt, den Marktanteil zu erhöhen oder wenigstens zu festigen. Dabei wäre es für Kassen überhaupt kein Problem, wenn die Industrie ihre Pillen in einem interessanten Konzept an den Mann bringt, wenn denn nicht nur eine Win-, sondern eine Win-Win-Situation dahinter stehen würde.
Ihr Rat?
Die Pharmaindustrie muss mehr in stimmige Konzepte für gute Versorgungsansätze investieren, die den Versicherten und damit den Kassen wirklich helfen. Dann gewinnen alle.
Was kann der BKK-Dachverband selbst in Sachen Versorgungsfor-schung vorantreiben?
Das hängt davon ab, inwieweit wir die Vertragskonstruktionen der Selektivverträge in der Arzneimittelversorgung, aber auch jene der ambulanten Behandlung mit einer standardisierten Evaluation für die Versorgungsforschung nutzbar machen können. Das wird der Schwerpunkt des BKK-internen Bereichs Versorgungsforschung sein. Ich denke, dass wir uns je nach politischer Entwicklung darauf einstellen müssen, dass Preisverhandlungen von der Ebene des GKV-Spitzenverbandes aus Governance-Gründen auf eine Ebene darunter verlagert werden. Wer das will, muss auch dafür sorgen, dass die Instrumente, mit denen der Nutzen des Systems gemessen werden kann, mit den richtigen Daten gefüttert werden können.
Haben Sie eine Zeitlinie geplant?
In den nächsten ein, zwei Jahren müssten entsprechende Aufträge an die Wissenschaft erteilt werden, damit solche Instrumente, die wirklich als Steuerungsinstrumente für die einzelnen Kassen taugen, entwickelt werden können. Dazu braucht es aber erst einmal eine Art Pflichtenheft für Selektivverträge, für Preisvereinbarungsverträge usw.
Die AOK hat dafür ein eigenes WidO, die TK ein WINEG.
Nun wird der BKK Dachverband so schnell kein eigenes wissenschaftliches Institut aus dem Boden stampfen können. Stattdessen werden wir ein wissenschaftliches Netzwerk schaffen, möglicherweise sogar über die Grenzen der Kassenarten hinaus. Wir kooperieren bereits heute mit anderen unternehmensnahen Krankenversicherungen wie der IKK oder der Knappschaft. Meine Vorstellungen gehen dahin, ein Versorgungsforschungskonzept in einem Netzwerk von 5 bis 10 Instituten zu erarbeiten, die mit uns bevorzugt kooperieren.
Gibt es denn ein Konzept für Versorgungsforschung des BKK Dachverbands?
Noch nicht, dafür ist der Verband noch zu jung. Der BKK Dachverband ist aber für dieses Thema federführend innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Dr. Roland Leuschner, der stellvertretende Abteilungsleiter Versorgungsmanagement koordiniert diese Aktivitäten, die zusammen mit dem BMBF und dem BMG laufen.
Ihr Vertrag läuft über fünf Jahre. Was haben Sie sich vorgenommen?
Das erste Jahr ist ein Jahr des Aufbaus. Daran arbeiten derzeit 15 Mitarbeiter, wobei ich die Perspektive 50+ habe. Das ist aber nicht so einfach, denn gute Mitarbeiter muss man erst einmal gewinnen. Das Aufbaujahr wird durch die Wahlen überlagert, denn damit werden politische Grundentscheidungen für die kommenden vier Jahre getroffen. Und schon bei diesen wollen wir gehört werden. Ich möchte erreichen, dass man uns fragt. Erste Gespräche mit politischen Akteuren waren da ganz positiv. Die freuen sich, wenn es eine neue innovative Stimme gibt. Danach wird das Thema Gruppenverträge für betriebliche Prävention angegangen. Und in der Perspektive der Best-Practice-Ansatz.
Wer hat denn zur Zeit den größten Einfluss auf die Politik?
Der AOK-Bundesverband. Davon wollen wir ein Stück erobern. Ich mache mir aber keine Illusionen, denn die sind sechsmal größer als wir. Aber die AOK vertritt ja auch rund 40 Prozent der Versicherten dieser Republik. Dennoch wollen wir uns für eine Vielfalt unterschiedlicher Ideen einbringen, für die das BKK-System steht und ein Teil der GKV-Kultur darstellt. Darum werden wir der Politik deutlich machen, dass es Sinn macht, auf unterschiedlichen Wegen mit unterschiedlichen Organisationen zu agieren. Dazu brauchen wir schon diese fünf Jahre.
Herr Knieps, Danke für das Gespräch. <<
Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.