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Gesundheitssystemvergleiche: Vom Best-Practice-Ansatz zu einem europäischen Modell der Versorgungsforschung?

Im Zuge der Europäisierung des Gesundheitswesens ist auch das Interesse an Gesundheitssystemvergleichen merklich gestiegen. Der Blick über den eigenen gesundheitspolitischen Tellerrand ermöglicht zwangsläufig die strategische Weiterentwicklung von Best-Practice-Ansätzen im Gesundheitswesen. Das von der EU verabschiedete Instrumentarium der offenen Methode der Koordinierung (OMK) erweist sich dabei als gestalterische Triebfeder beim Aufbau eines europaweiten Gesundheitssystemvergleichs. Dadurch angestoßene gesundheitspolitische Reformprozesse sollten auch auf der Versorgungsebene einen regelmäßigen Controllingprozess durchlaufen, was den gezielten methodischen Einsatz von Versorgungsforschung bedingt. Im Ergebnis könnte in absehbarer Zeit ein europäisches Modell der Versorgungsforschung auf der gesundheitspolitischen Agenda stehen.

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.03.2009

Abstrakt: Gesundheitssystemvergleiche: Vom Best-Practice-Ansatz zu einem europäischen Modell der Versorgungsforschung?

Im Zuge der Europäisierung des Gesundheitswesens ist auch das Interesse an Gesundheitssystemvergleichen merklich gestiegen. Der Blick über den eigenen gesundheitspolitischen Tellerrand ermöglicht zwangsläufig die strategische Weiterentwicklung von Best-Practice-Ansätzen im Gesundheitswesen. Das von der EU verabschiedete Instrumentarium der offenen Methode der Koordinierung (OMK) erweist sich dabei als gestalterische Triebfeder beim Aufbau eines europaweiten Gesundheitssystemvergleichs. Dadurch angestoßene gesundheitspolitische Reformprozesse sollten auch auf der Versorgungsebene einen regelmäßigen Controllingprozess durchlaufen, was den gezielten methodischen Einsatz von Versorgungsforschung bedingt. Im Ergebnis könnte in absehbarer Zeit ein europäisches Modell der Versorgungsforschung auf der gesundheitspolitischen Agenda stehen.

Abstract: Health system comparisons: from a best-practice approach to a European model of health services research?

The interest of all health care stakeholders in healthcare-system-comparisons has been increased since the Europeanization of healthcare. On the one hand this occurs in order to the positive adjudication oft the European Court of Justice in terms of creating cross-border healthcare. On the other hand EU member states reached their own reform political limit concerning the financing of their national healthcare system. Therefore looking for best-practice approaches is becoming a strategic solution statement in health care policy. For the further development of EU healthcare-system-comparisons the passed European instrument of the open method of co-ordination seems to be the creative driver. For this reason the significance of the health care research will be seen in a specific cross-border context.

Literatur

Amelung, V. E. (2009): Managed Care - Neue Wege im Gesundheitsmanagement, in: Amelung, V. E., Deimel, D. et al. (Hrsg.): Managed Care in Europa, Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Jaeckel, R. (2009): Gesundheitssystemvergleiche. Auf dem Weg zu einem europapolitischen Best-Practice-Ansatz, in: Amelung, V. E., Deimel, D. et al. (Hrsg.): Managed Care in Europa, Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Langhoff, U. (2006): Die offene Methode der Koordinierung (OMK). Chance oder Risiko für Integration und Demokratie in der Europäischen Union, in: Beiträge zur europäischen Integration aus der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Bd. 3 Meusch, A. (2006): Vielfalt als Chance? – Die Offene Methode der Koordinierung (OMK), in: Klusen, N./Meusch, A (Hrsg.): Wettbewerb und Solidarität im europäischen Gesundheitsmarkt, Baden-Baden: Nomos Schmucker, R. (2003): Europäische Integration und Gesundheitspolitik. Arbeitspapiere aus der Abteilung für Medizinische Soziologie 2003/23. Herausgegeben vom Institut für Medizinische Soziologie Schneider, M./Hofmann, U./Köse, A./Biene, P./Krauss, T. (2007): Indikatoren der OMK im Gesundheitswesen und der Langzeitpflege. Gutachten für das Bundesministerium für Gesundheit, BASYS Beratungsgesellschaft für angewandte Systemforschung, Augsburg Wendt, C. (2006): Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich: Ein Überblick über den Forschungsstand, in: Das Gesundheitswesen, Heft 68, S. 593-599 Zeitlin, J. (2005): Introduction: The Open Method of Coordination in Question (Download: http://eucenter.wisc.edu/OMC/Papers/EUC/JZPP/introduction.pdf)

Zusätzliches

Plain-Text

Gesundheitssystemvergleiche: Vom Best-Practice-Ansatz zu einem europäischen Modell der Versorgungsforschung?

Gesundheitssystemvergleiche liegen im europäischen Trend. Als Trendsetter für eine europäische Gesundheitspolitik zeichnet die EU maßgeblich dafür verantwortlich. Bedingt durch die Wachstumsdynamik des europäischen Staatenbundes im Verlauf der letzten 10 bis 15 Jahre rückte das Interesse an gesundheitsrelevanten und vergleichenden Themenstellungen zunächst punktuell, dann aber umfassend in den Vordergrund. Die Forderung nach einem länderübergreifenden Benchmarksystem kann daher auch als logische Konsequenz auf bisher national suboptimal verlaufende Reformansätze bezeichnet werden. Das Lernen von den Besten wird zu einem europaweiten durchgängigen Gestaltungsprinzip im Sinne strukturierter Suchfindungsprozesse.

>> Ein historischer Blick zurück auf die damalige europäische Gründungsphase lässt erkennen, dass es viele Jahre überhaupt kein öffentliches Interesse an speziellen gesundheitspolitischen Fragestellungen gab, insbesondere wenn es sich um Themenkonstellationen handelte, die aus nationaler Sicht von keinem größeren Belang waren. In Bezug auf andere Politikbereiche herrschte die funktionalistische Auffassung, die ökonomische Integration werde die Integration aller anderen Bereiche nach sich ziehen (Schmucker 2003). Folglich wurde die Sozial- bzw. Gesundheitspolitik lange nicht auf der Integrationsagenda berücksichtigt. Diese ordnungspolitische Bruchstelle fehlender EU-Kompetenzen lässt sich bis zum heutigen Tag, allerdings mit einer gewissen abnehmenden Tendenz nachweisen.
Seit dem Bekenntnis des Europäischen Rates von Lissabon zur offenen Methode der Koordinierung (OMK) im Jahre 2000 ist festzustellen, dass die Einhaltung des Harmonisierungsverbots nicht so strikt ist wie seine vertragliche Formulierung. Denn die OMK ist ein überaus flexibles Instrumentarium, welches die Integration in Bereichen wie dem Gesundheitswesen voranbringen soll, ohne dass dafür nationale Kompetenzfelder gesetzlich an die EU abgetreten werden müssen.
Mit der OMK hat insbesondere auch der Gesundheitssystemvergleich in Europa neue Impulse erhalten (Jaeckel 2009). Die Evaluation europäischer Gesundheitssysteme anhand einheitlicher Vergleichskriterien ist mit dem quantitativen wie qualitativen Voranschreiten der Integration politisch zunehmend relevant. Die politische Forderung nach einem Mindestniveau an medizinischer Versorgung rückt dabei unweigerlich in den Vordergrund (s. Abb. 1).

Erfordernisse eines Gesundheitssystemvergleichs
auf europäischer Ebene

Die Tatsache, dass Wirtschaftswohlstand und soziale Standards einander bedingen, ist unbestritten. Es wird aber auch die Bedeutung des Gesundheitswesens für die Wirtschaft missachtet, wenn Gesundheit als Politikressort ausschließlich auf seine Wohlfahrt stiftende Funktion reduziert wird. Mit dem aktuellen Vorschlag für eine Gesundheitsdienstleistungsrichtlinie könnten die Ländergrenzen auch für Gesundheitsdienstleistungen geöffnet und die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Europa durchaus politisch gewollte Realität werden. Die Möglichkeit, von einer potenziell besseren Behandlungsqualität oder niedrigeren Behandlungskosten im Ausland profitieren zu können, dürfte einen gewissen Wettbewerb zwischen den Gesundheitssystemen entfachen. Wenn mit Patienten aus anderen EU-Ländern künftig Umsatzsteigerungen generiert werden, welche aus einem anderen Finanzierungssystem abfließen, erhält die Suche nach Best-Practice-Ansätzen plötzlich auch ökonomisch eine völlig neue Dimension.
Die Koordination dieser Maßnahme erfordert aber eine länderübergreifende Zusammenarbeit, wobei eine effiziente Erfolgskontrolle durch Indikatoren erfolgen könnte, die im Rahmen von Gesundheitssystemvergleichen ermittelt wurden.

Nationaler Steuerungsbedarf
Den europäischen Mitgliedstaat, der sich die Frage der Finanzierbarkeit seines Gesundheitswesens noch nicht ernsthaft gestellt hat oder stellen lassen musste, gibt es nicht. Der Kostendruck war Anlass dafür, einen Blick über den eigenen gesundheitspolitischen Tellerrand zu werfen, sich mit anderen Gesundheitssystemen zu messen und Lösungsstrategien des Auslands unter die Lupe zu nehmen. Gesucht wurden damals wie heute ökonomisch bewährte Steuerungsansätze, die Antworten und Hilfestellung zu Fragen der Finanzierung und Ressourcenallokation im Gesundheitswesen liefern sollten. Die Analyse anderer Gesundheitssysteme kann also neue Steuerungsoptionen hervorbringen. Die daraus gewonnenen Informationen können eine wichtige Entscheidungsgrundlage für politische Institutionen sein. Angesichts des zunehmenden Spannungsverhältnisses zwischen dem medizinisch Machbaren und dem tatsächlich Bezahlbaren wollen die europäischen Mitgliedstaaten nun wieder verstärkt „voneinander lernen“, um so neue Möglichkeiten für die medizinische Versorgung aufzutun (Schneider et al. 2007).

Entwicklungsstand von
Gesundheitssystemvergleichen

1985 wurden von der OECD erstmals umfassende Daten zu den Ausgaben und der Finanzierung von Gesundheit in den einzelnen Ländern veröffentlicht (Wendt 2005). Heute liegen in diesem Bereich umfangreiche Datenzeitreihen vor. Die vergleichende Gesundheitssystemforschung von heute ist dementsprechend nicht mehr auf rein ökonomische Ansätze begrenzt. Sie vereint stattdessen mehrere Forschungsfelder, welche häufig aufeinander Bezug nehmen. Je nach Gewichtung des einen oder des anderen Forschungsansatzes erlaubt dies unterschiedliche Fragestellungen (Wendt 2005). Systemtheoretische Studien verfolgen einen inhaltlich sehr umfassenden Ansatz. Ihre Verbreitung ist in der vergleichenden Gesundheitssystemforschung jedoch relativ gering. Die Theorie staatlicher Steuerung hat dagegen die Steuerungsfähigkeit des Staates im Blick und begreift Gesundheitssysteme als Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse, also als abhängige Variable. Hinter dem Begriff Institutionentheorie verbirgt sich wiederum ein Ansatz, der Gesundheitssysteme im Gegensatz zur Theorie staatlicher Steuerung primär als unabhängige Variable versteht.
Im Konzept der Europäischen Union für Gesundheitssystemvergleiche wird primär allerdings nicht nach der Gestaltung des Systems gefragt. Stattdessen soll der quantitative Output mittels international vergleichbaren Indikatoren gemessen und so Aussagen über Leistungsfähigkeit und Qualität eines Gesundheitssystems gewonnen werden.

Die offene Methode der Koordinierung (OMK) als
politischer Rahmen und Triebfeder
für Gesundheitssystemvergleiche

Im sozial- und gesundheitspolitischen Bereich ist das Souveränitätsstreben der Mitgliedstaaten besonders manifest. Deshalb hat der Rat von Lissabon im Jahr 2000 mit der OMK ein Instrumentarium gewählt, das eine EU-weite Problemlösung ohne die formale Aufgabe nationaler Hoheiten anvisiert. Voraussetzung für die Einführung eines OMK-Prozesses durch den Europäischen Rat ist die Erkenntnis, dass ein bestimmtes Problem länderübergreifend und gleichzeitig die Bereitschaft, Kompetenzen in diesem Feld an die EU abzutreten, gering ist. Werden nun in verschiedenen Ländern Daten zu den gleichen Indikatoren erhoben, so wird das Ergebnis einer Politik oder eines Systems international vergleichbar. So vielfältig wie ihre Anwendungsgebiete sind auch die Erscheinungsformen der OMK. Denn die offene Methode der Koordinierung gibt es nicht, vielmehr sind es Inhalt und auch Verbindlichkeitsgrad, die eine OMK definieren. Im Gesundheitssystemvergleich werden positive wie negative Outcomes von Gesundheitssystemen identifiziert und veröffentlicht. Somit wird eine völlig neue Diskussionsbasis für die zukunftsfähige Gestaltung der nationalen Gesundheitssysteme geschaffen. Die als „soft law“-Variante bezeichnete Konstruktion der OMK kann dabei mit ihrer Flexibilität und Innovationsfähigkeit punkten.

Indikatorenbildung im Rahmen der OMK:
Historie und Methodik

„Gleiches mit Gleichem vergleichen“ ist ein logischer Grundsatz, der die Analysten von Gesundheitssystemvergleichen vor die Herausforderung stellt, Gesundheitssysteme, die zum Teil unterschiedlicher nicht sein könnten, vergleichbar zu machen. Die Lösung besteht in der Bestimmung von international anwendbaren Indikatoren. Zur Beantwortung der entscheidenden Frage, worauf die Indikatoren letzten Endes Antworten liefern sollen, wurde das Themenfeld „Public Health“ als Untersuchungsgegenstand festgelegt. Die diesem Themenfeld innewohnenden Einflussfaktoren (1) Gesundheitssystem, (2) biologische und genetische Faktoren, (3) physische und soziale Umwelt sowie (4) die Lebensweise wurden in vier übergeordnete Indikatorenkategorien übersetzt: (I) Demographische und sozioökonomische Situation, (II) Gesundheitszustand, (III) Gesundheitsdeterminanten und (IV) Gesundheitssystem.
Eine weitere Eingrenzung der Indikatoren fand im Abgleich mit den in den Mitgliedstaaten am häufigsten thematisierten gesundheitspolitischen Zielen und Aktionsfeldern statt. Hierzu zählen die Zunahme an gesunden Lebensjahren, die Verringerung von Unterschieden bei Gesundheitsversorgung bzw. dem Gesundheitszustand, Fortschritte bei der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention durch Umstellung der Lebensweise besonders bei jungen Menschen, die Verbesserung der Versorgungsqualität und Zugang zur medizinischen Versorgung sowie die Erhöhung der Lebensqualität und Verbesserung der Partizipation älterer Menschen.

Im März 2002 verabschiedete der Europäische Rat in Barcelona die zu vergleichenden Zielbereiche in Bezug auf Sicherung

- der Zugänglichkeit,
- der Qualität und
- der langfristigen Finanzierbarkeit der Gesundheitsversorgung.

Zwei Jahre später wurde ein entsprechender Indikatorensatz durch die Kommission angenommen. Dieser wurde auch in der Studie für das BMG „Indikatoren der OMK im Gesundheitswesen und der Langzeitpflege“ (Schneider et al. 2007) wieder aufgegriffen. In der 2007 erschienenen Veröffentlichung der Studie heißt es, ihr Ziel sei die Bewertung von 16 Indikatoren, wobei vor allem deren Auswahl, Berechnung und Datengrundlage im Fokus stünden. Um die Interpretation dieser Indikatoren zu erleichtern, wurden zehn weitere Zusatzindikatoren hinzugezogen. An der Verbesserung der Indikatoren und der Datenlage arbeiten neben dem Projekt der EU zahlreiche andere Gruppen und Kooperationen mit europäischer Unterstützung. Ziel ist es, langfristig den gesamten Gesundheitsbereich mittels Indikatoren abbilden und bewerten zu können. Darüber hinaus ist die Indikatorenanwendung auf regionaler Ebene, wie auch in der OMK-Studie des Bundesgesundheitsministeriums geschehen, ein zentrales Anliegen der Politik.

Alternative Gesundheitssystemvergleiche
im Überblick

Dass Gesundheitssystemvergleiche längst nicht mehr nur wissenschaftliche Kreise interessieren und beschäftigen, davon zeugt der 2008 mittlerweile zum vierten Mal erschienene European Health Consumer Index (EHCI) der Beratungsgesellschaft Health Consumer Powerhouse. Ihre Indikatoren setzen unter anderem einen Schwerpunkt auf die Bewertung von Patientenrechten und -informationen in den jeweiligen Gesundheitssystemen. Die dafür verwendeten Daten wurden hauptsächlich in Interviews mit Stakeholdern sowie durch sog. Index-Expertenpanels gewonnen, worin sich ein anderer Ansatz als bei den rein quantitativ ausgerichteten Indikatorenvergleichen der EU dokumentiert. Entsprechend der eigenen Einschätzung dürfte die Studie den EU-geförderten Projekten in Sachen statistischer Präzision und Belastbarkeit wohl hinterher hängen. Andererseits fängt der European Health Consumer Index damit die Kritik des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) bezüglich eines Mangels an „qualitative[n] Indikatoren“ in der OMK ab. Mit seinem Anspruch, den Verbraucher über Qualität im Gesundheitswesen zu informieren, ihm eine Grundlage für die Einforderung seiner Rechte an die Hand zu geben und damit letztlich seine Mündigkeit im Gesundheitswesen zu fördern, wird die Studie des Health Consumer Powerhouse dieser Forderung wohl eher gerecht.
Darüber hinaus liefern auch andere privat finanzierte Projekte wie zum Beispiel das European Observatory on Health Systems and Policies der Bertelsmann-Stiftung regelmäßig wertvolle Forschungsbeiträge im Bereich des Gesundheitssystemvergleichs (zum Gesamtüberblick über alternative Gesundheitssystemvergleiche s. auch Abb. 2). Mit dem Ziel, die Lücke zwischen Forschung und Politik durch die zeitnahe Bereitstellung von Informationen zu aktuellen Themen der Gesundheitspolitik zu verringern, werden sozialpolitische Reformen seit 1998 in Industrieländern der vergleichenden Politikanalyse und Benchmarkingprozessen unterzogen (s. auch unter www.reformmonitor.de). Anders als bei dem OMK-Projekt geht es dem Europäischen Observatorium weniger um die Bestimmung von Indikatoren, als vielmehr um die Analyse einzelner gesundheitspolitischer Maßnahmen und Optionen, um in Beraterfunktion wissenschaftlich und vergleichsgestützte Handlungsempfehlungen für die Politik auszusprechen. Es ist also nicht Ziel des Observatoriums, einen immer wieder anwendbaren bzw. aktualisierbaren Indikatorensatz zu schaffen, sondern Informationen zu Wirkung und Übertragbarkeit von konkreten Reformoptionen zu liefern.

Methodische Schwierigkeiten bei
Gesundheitssystemvergleichen

Methodisch schwierig ist beim Gesundheitssystemvergleich nach Art der OMK zum einen die Zusammensetzung des Indikatorentableaus. Zwischen Zugang, Qualität und Nachhaltigkeit existieren Konkurrenzbeziehungen, welche Zielkonflikte unvermeidlich machen: „Je umfassender die Versorgung, desto besser der Zugang und je umfassender die Qualität, desto besser der Outcome. Je umfassender der Zugang und die Qualität, desto höher auch der Finanzierungsbedarf“ (Schneider et al 2007). Was eine optimale und ausgeglichene Zielerreichung betrifft, gilt dabei auch in diesem Anwendungsgebiet der ökonomische Anspruch, dass Zusatznutzen und Zusatzkosten im Gleichgewicht zu halten sind.
Zum anderen sind es vor allem zwei kritische Punkte, mit denen der Gesundheitssystemvergleich steht und fällt: die Vergleichbarkeit bzw. internationale Anwendbarkeit von Indikatoren und die dafür notwendige Datenverfügbarkeit. Sicherlich stellt die Datenverfügbarkeit ex ante meist ein Ausschlusskriterium dar, doch sind die Probleme oft viel subtiler. Trotz aller Bemühungen, die Indikatoren in den beteiligten Ländern so konsistent wie möglich zu gestalten, führen unterschiedliche Definitionen oder Zählweisen bisweilen immer noch zu statistischen Unregelmäßigkeiten, die die Vergleichbarkeit der Daten gefährden.
Aber selbst die beste Methodik wird wertlos, wenn aus dem Ergebnis falsche oder voreilige Schlüsse gezogen werden. Dass quantitative Vergleiche allein auf Basis des Verhältnisses von Gesundheitsausgaben und BIP spätestens seit den 1990er Jahren keine Rückschlüsse mehr auf die Versorgungsqualität zulassen, ist bekannt. Weitere Schwierigkeiten dürften aber auch in der Bewertung und Zuordnung der Ergebnisse liegen. Ebenso können selektive Rückschlüsse auf die Versorgungsqualität einzelner Länder irreführend sein. Folglich dürften Politik und andere gesundheitspolitische Akteure, eifrig darum bemüht, ihre Schlüsse aus Gesundheitssystemvergleichen zu ziehen, gut damit beraten sein, dass die isolierte Betrachtung einzelner Indikatoren oder einzelner Gesundheitssystemvergleiche die Komplexität und spezifischen Eigenschaften eines Gesundheitssystems unter Umständen missachtet.

Der OMK-Prozess als Wegweiser
für den Gesundheitsraum Europa

Auf EU-Ebene wurde mit der Verabschiedung der Lissabon-Strategie eine Absichtserklärung zur Ausbalancierung von Wirtschaftswachstum und sozialer Sicherheit in Europa einerseits und zur Angleichung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten – verschärft vor allem durch die wachsende Zahl der Mitgliedsländer – andererseits geliefert. Besonders in Bezug auf die einzelnen Gesundheitssysteme gilt die OMK als Hoffnungsträger in einem Bereich, wo die traditionelle Politikgestaltung mittels Verordnungen und Richtlinien nur schwerlich Fuß fassen kann (Meusch 2006). Die größte Stärke der OMK ist ihre Flexibilität und ihre „weiche“ Druckausübung („naming and shaming“), das heißt der Verzicht auf Sanktionen. An der Frage, inwiefern sich großartig gesteckte Ziele wie die Harmonisierung im Gesundheitswesen ohne die Stimulanz durch Sanktionsstrukturen umsetzen lassen, ereifern sich die Kritiker der OMK. Doch empirische Daten zur Bewertung der OMK sind derzeit noch Mangelware (Zeitlin 2005). So muss sich die OMK noch weitere Kritikpunkte gefallen lassen. Zwar wird auf der einen Seite die mangelnde Nachhaltigkeit der OMK kritisiert, doch andererseits werden Bedenken geäußert, eine erfolgreiche OMK laufe Gefahr, die Autorität der Gemeinschaftsmethode zu untergraben und somit eine nachhaltige Integration zu verhindern (Langhoff 2006). Ebenso befremdlich ist für OMK-Kritiker der Gedanke, dass intransparente Koordinierungsmethoden vorgeschoben werden könnten, um auf nationaler Ebene unpopuläre Entscheidungen zu rechtfertigen und die Verantwortung dafür auf die EU abzuwälzen. Zugleich wird das in der EU seit dem Vertrag von Maastricht gültige Subsidiaritätsprinzip für gefährdet erklärt. Ihren höchsten Trumpf spielen OMK-Kritiker allerdings, wenn sie der OMK Demokratiegefährdung attestieren.
Was sich heute in Form von Gesundheitsvergleichen als Trend präsentiert, könnte morgen unabdingbare Voraussetzung für ein starkes Europa sein. Denn es ist wohl unumstritten, dass Gesundheit eine wichtige, wenn nicht gar die Grundlage einer leistungsfähigen Gesellschaft und somit des wirtschaftlichen Erfolgs ist. Vor dem Hintergrund demographischer, technischer, medizinischer und gesellschaftlicher Veränderungen und dem daraus entstehenden Kostendruck, ist eine Optimierung der Gesundheitsversorgung unabdingbar. Mittels Gesundheitssystemvergleichen wurde angefangen, Best-Practice-Ansätze zu identifizieren und an Lösungen für eine nachhaltige und zukunftsfähige Gesundheitsversorgung zu arbeiten. Wenn sie, methodisch weiterhin verbessert, nicht zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden und nicht dem „Gesetz der Trägheit“ zum Opfer fallen, könnten Gesundheitssystemvergleiche in Zukunft noch mehr leisten. Denn berücksichtigt man, dass die europäische Integration seit ihrem Beginn einem unumkehrbaren Entwicklungsprozess folgt und Rückschritte so gut wie nicht vorkommen, so ist Gesundheitssystemvergleichen ein nachhaltiger Stellenwert zu prophezeien. Bislang allerdings geht die Politik kleine Schritte. Bedenkt man, dass seit Einführung der OMK im Jahr 2000 bis heute acht Jahre vergangen sind und stellt man dem die Errungenschaften in Form der Indikatorenkurzliste gegenüber, kann von Laufschritt keine Rede sein.
Bedingt wird diese Entwicklungsträgheit wohl auch durch die sukzessive Erweiterung der EU. Je mehr Länder die Gemeinschaft umfasst, desto größer wird der Koordinierungsbedarf. Dies gilt wohl vor allem für die neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten Europas, die aufgrund ihrer historisch bedingten „Abschottung“ noch einigen Aufholbedarf bei der Gesundheitsversorgung aufweisen.

Der Impact von Gesundheitssystemvergleichen auf den künftigen Stellenwert der Versorgungsforschung

Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Gesundheitssystemvergleiche im europapolitischen Kontext eine strukturpolitische Schlüsselfunktion einnehmen. Auch wenn die erforderliche Durchdringungsgeschwindigkeit gegenwärtig eher einem Schritttempo gleicht, ist für die soziale Statik eines freiheitlich geprägten Europas eine Angleichung der Verhältnisse im Bereich der Gesundheitsversorgung auf Dauer anzustreben. Der Weg in Richtung Best-Practice-Konzept ist dabei nicht nur vorgezeichnet, sondern stellt ein wesentliches Erfolgskriterium dar. Für die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU ist es wahrlich kein leichtes Unterfangen, sich zusätzlich zu den eigenen Reformbaustellen im Gesundheitswesen auch noch auf internationaler Bühne freiwillig aneinander messen lassen zu müssen. Insbesondere die Gesundheitssysteme, denen eine wettbewerbliche Grundordnung fremd ist, und dazu zählen nahezu alle Länder, lassen wenig innere Bereitschaft erkennen, diese europapolitische Vorgabe mit gutem Beispiel meistern zu wollen. Dies ist aber genau der Preis für die Beibehaltung der nationalen Steuerungskompetenz. Europa bietet deshalb geradezu einen idealen Nährboden für eine vergleichende Gesundheitssystemforschung. Die strukturpolitische Relevanz, die sich durch den Aufbau eines solchen europaspezifischen Gesundheitssystemvergleichs auf Dauer einstellen wird, lässt sich heute noch nicht eindeutig bewerten. Dafür steckt dieser Entwicklungsprozess noch zu sehr in den Kinderschuhen.
Im Zuge der aufkommenden Managed-Care-Diskussion in Europa (Amelung 2009), wonach es generell um die Implementierung neuer Instrumente und Organisationsformen unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit und verbesserten Qualität der Patientenversorgung geht, bleibt dennoch zu konstatieren, dass der empirische Nachweis für eine beabsichtigte Nutzenmaximierung in der Versorgungspraxis vielfach ausbleibt.
Dieses systemimmanente Manko des Managed-Care-Ansatzes bedeutet gleichzeitig aber auch Chance und Herausforderung für eine Gesundheitssystemforschung auf der Basis aktuell diskutierter Versorgungsforschungsansätze. Nur durch den wissenschaftlichen Nachweis neu eingeführter Versorgungselemente wird ein seriöser Grundstein für künftige gesundheits- und reformpolitische Maßnahmen gelegt. Aktuelle Diskussionen um die Notwendigkeit und den Stellenwert beispielsweise von Hausarztmodellen, Disease-Management-Programmen oder gar integrierter Versorgungsstrukturen bekämen dadurch inhaltlich eine ganz andere Qualität. Zwingende Voraussetzung hierfür ist jedoch ein klares und vor allem auch politisches Bekenntnis, dass Versorgungsforschung keine intellektuelle Spielwiese darstellt, sondern bei der Implementierung neuer Versorgungsformen zum Standardrepertoire gehört. Bisher eher kleinflächig und auch nur vereinzelt initiierte Versorgungsforschungsmaßnahmen hätten damit künftig eine reelle Chance auf eine dauerhafte und flächendeckende Breitenwirkung.
Die reformpolitischen Bemühungen zum Aufbau integrierter Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen sind ein exemplarisches Beispiel dafür, wie strukturelle Versorgungsdefizite wirksam angegangen werden. Von einer flächendeckenden Implementierung dieser Versorgungskonzeption scheint das deutsche Gesundheitswesen aber dennoch noch sehr weit entfernt zu sein. Erst durch einen qualifizierten Abgleich mit anderen Ländern entsteht ein empirisch belegbarer Handlungsrahmen, ob und in welchem Umfang eine angedachte gesundheitspolitische Reformmaßnahme sich für eine konkrete Problemlösung auch tatsächlich eignet. Aus Best Practice entwickelt sich sukzessive ein Ansatz von Good Governance.
Für die Versorgungsforschung, als notwendiges Bindeglied zwischen innovativen Versorgungsformen und Gesundheitssystemvergleichen, bedeutet dies aber auch gleichzeitig, dass rein nationale Anstrengungen im Zuge dieser europäischen und damit gesamtstrategischen Ausrichtung zu kurz greifen würden. Eine europaweite Ausrichtung der Versorgungsforschung ist deshalb nicht nur geboten, sondern im versorgungspolitischen Interesse auch zwingend erforderlich.
Im Ergebnis führt dies zu einem europäischen Modell der Versorgungsforschung, um nicht zuletzt auch den wachsenden gesundheitspolitischen und länderübergreifenden Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung adäquat Rechnung tragen zu können. Aktuelle und europaweit relevante Versorgungsthemen wie Bekämpfung von HIV/Aids, Pandemieplanung oder verbesserter Einsatz von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen (orphan drugs) bedingen den regelmäßigen Einsatz eines auf länderübergreifende Versorgungsmaßnahmen ausgerichteten Controllingverfahrens.
Versorgungsforschung goes Europe? Auf der Basis von qualifizierten Gesundheitssystemvergleichen durchaus ein logischer, aber auch konsequenter Gedanke in Richtung Europäisierung des Gesundheitswesens. <<