Herausforderung Demenz - Versorgungsstrukturen für die Zukunft entwickeln
Nach dem Gesetz von Benjamin Gompertz (1779-1865) steigt das Alter eines Menschen linear an. Die Wahrscheinlichkeit, an einem chronischen Leiden zu erkranken, pflegebedürftig zu werden oder eine Demenz zu entwickeln, nimmt jedoch im Laufe des Lebens exponenziell zu [Gompertz, 1825]. In unserer alternden Gesellschaft kommt dem Umgang mit chronischen Krankheiten, Pflegebedürftigkeit und Demenz eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung des Alterungsprozesses in der Bevölkerung zu. Der Aufbau neuer bzw. Umbau bisheriger Versorgungsstrukturen, die Weiterqualifizierung ärztlichen und nicht-ärztlichen Fachpersonals sowie die gezielte Koordinierung und Einbeziehung informeller Hilfeleistungen ist dringend geboten, um die steigende Zahl älterer Menschen mit Demenz angemessen versorgen zu können.
>> In Deutschland leiden derzeit über 1 Million Menschen an einer Form von Demenz, wobei der überwiegende Anteil (rund zwei Drittel) an der so genannten Alzheimer-Demenz erkrankt ist. Angaben zur jährlichen Neuerkrankungsrate schwanken in der Literatur. Im Allgemeinen wird von ca. 200.000 bis 250.000 neuen Fällen pro Jahr ausgegangen [Alzheimer Europe, 2007]. Als Faustregel kann gelten, dass das Neuerkrankungsrisiko unterhalb von 65 Jahren sehr gering ist. Internationalen Schätzungen zufolge steigt das jährliche Neuerkrankungsrisiko von ca. 0,4 % bei den 65- bis 69-Jährigen auf über 10 % bei den Hochbetagten an [Bickel, 2000; Bickel, 2005; Alzheimer Europe, 2007]. Damit verstärkt die demographische Entwicklung mit der daraus resultierenden doppelten Alterung der Bevölkerung die Problematik erheblich. Da die Menschen immer älter werden und zu wenige Kinder geboren werden, verändert sich auch die Altersstruktur der Bevölkerung. Während die Anzahl der über 60-Jährigen bis zum Jahr 2050 um ca. 10 Mio. zunehmen wird, sinkt die Zahl der 20- bis 60-Jährigen im gleichen Zeitraum um ca. 16 Mio. ab [Statistisches Bundesamt, 2006]. Die heute noch etablierten Versorgungsstrukturen Demenzkranker im ambulanten Bereich werden dann vermutlich nicht mehr ausreichen. Obwohl ca. 65 % bis 85 % aller Kranken mit fortgeschrittener Demenz während ihres letzten Lebensabschnitts institutionalisiert sind und ca. zwei Drittel aller Heimbewohner in Deutschland die Diagnose Demenz haben, werden bis zu 60 % aller Demenzkranken zu Hause versorgt [Schneekloth und von Törne, 2007]. Die pflegenden Angehörigen, in der Regel Kinder oder Ehepartner, weisen durch die hohe Belastung und Anforderungen einer Demenzpflege ebenfalls eine höhere Morbidität als der Durchschnitt der Bevölkerung auf. Aufgrund gesellschaftlicher und demographischer Entwicklungen (höhere Scheidungsraten, Kinderlosigkeit, Mobilitätsanforderungen im Beruf) wird der Bedarf an professioneller Hilfe steigen, wenn an Demenz erkrankte Menschen langfristig in ihrer gewohnten Umgebung adäquat versorgt werden sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass der überwiegende Teil der Demenzkranken über 65 Jahre alt ist. In dieser Gruppe ist im Bevölkerungsdurchschnitt eine hohe Multimorbidität anzutreffen. Beispielsweise leidet jeder Dritte über 75-Jährige an bis zu fünf - meist chronischen - Erkrankungen.
Versorgungsstrukturen Demenzkranker in
Deutschland - Status quo
In der Versorgung von Demenzkranken besteht in vielen Bereichen der Diagnostik und der Therapie Optimierungsbedarf [Arlt et al., 2008; Dörner, 2008; Nesseler, 2008]. Insbesondere mangelnde Kenntnis von Versorgungsstrukturen, Schamgefühl auf Seiten der Betroffenen und Angst auf Seiten des Arztes, einen langjährigen Patienten zu verlieren oder zu verletzen, führen dazu, dass einerseits Angehörige nicht ausreichend über die Diagnose und ihre Implikationen sowie mögliche Therapie- und Hilfsangebote aufgeklärt werden, andererseits jedoch notwendige Differentialdiagnostik und Pharmakotherapie unterbleiben [Dörner, 2008; Gräßel et al., 2009; Kaduszkiewicz et al., 2009; Quinn et al., 2009]. Die mangelnde Integration der verschiedenen an der Versorgung von Demenzkranken beteiligten Leistungserbringer, Kosten- und Leistungsträger sowie der Akteure des Bürgerschaftlichen Engagements führt dazu, dass nicht-pharmakologische Therapieangebote häufig nicht allen Versorgern bekannt sind und daher Patienten und ihre Angehörige nicht darüber informiert werden. Obwohl gerade diese Therapieangebote wissenschaftlich nachgewiesen effektiv und z.B. für den Erhalt der Alltagskompetenz und damit dem Verbleib im häuslichen Umfeld einen wichtigen Beitrag leisten können. Defizite in der Therapie nach wissenschaftlich gesicherten Empfehlungen führen dazu, dass nicht alle Patienten eine geeignete medikamentöse Therapie erhalten. Andererseits werden jedoch teilweise ungeeignete Tests wiederholt durchgeführt, während beispielsweise psychiatrische und neurologische Begleiterkrankungen dieser Patienten häufig nicht erkannt werden. Dadurch kommt es zu Krankenhauseinweisungen, die durch eine adäquate und frühzeitige Diagnose und Therapie hätten vermieden werden können. Ein wichtiges Problem bei der Versorgung von demenzkranken Patienten ist die Unterstützung der pflegenden Angehörigen. Die Überforderung mit der häuslichen Pflegesituation und die mangelnde Kenntnis über Unterstützungsangebote wie beispielsweise Selbsthilfegruppen, niedrigschwellige Angebote wie Demenz-Cafés (§45a-d SGB XI), Freizeitangebote, Tages- und Nachtpflege oder nicht-pharmakologische Interventionen verursacht bei pflegenden Angehörigen nicht selten Erschöpfung bis hin zur Depression.
Um die Versorgungsstrukturen zu optimieren, wird derzeit in Deutschland eine Vielzahl von Projekten durchgeführt. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Demenz-Service-Zentren NRW [KLDS-NRW, 2009] und die vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Leuchtturmprojekte Demenz genannt [BMG, 2008]. Außerdem gab es in der Vergangenheit eine Reihe von umfangreichen Reformen, um die Rahmenbedingungen für innovative Versorgungskonzepte zu verbessern. So besteht durch die Paragraphen 140 a-d SGB V und 192 b SGB XI die Möglichkeit der Integrierten Versorgung und damit der Vernetzung verschiedener an der Versorgung chronisch Kranker beteiligter Akteure. Besonders hervorzuheben ist die Pflegereform 2008, bei der durch den neu geschaffenen § 7a SGB XI ein gesetzlicher Anspruch auf eine individuelle Beratung und Hilfestellung bei Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstützung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder Betreuungsbedarf ausgerichtet sind, besteht. Hierzu gehört die systematische Erfassung des Hilfebedarfs unter Berücksichtigung des MDK-Gutachtens, die Erstellung eines individuellen Versorgungsplans, die Initiierung der erforderlichen Maßnahmen, einschließlich deren Genehmigung, und die Überwachung und ggf. Anpassung des Versorgungsplans. Stattfinden soll die Pflegeberatung in Pflegestützpunkten (§ 92c SGB XI), die in fast allen Bundesländern seit dem 1. Juli 2008 sukzessive eingerichtet werden. Die Pflegestützpunkte haben neben der Funktion als wohnortnahe Anlaufstelle bei allen Fragen rund um das Thema Pflege und darüber hinaus vor allem den Auftrag, alle vorhanden Hilfs- und Unterstützungsangebote zu erfassen und miteinander zu vernetzen sowie Versorgungslücken zu identifizieren und auf deren Beseitigung hinzuwirken.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass in Deutschland insbesondere durch die Pflegereform 2008 die Rahmenbedingungen für eine Weiterentwicklung der Versorgungslandschaft geschaffen worden sind. Jetzt gilt es, diese Möglichkeiten zu nutzen und alle an der Versorgung von Demenzkranken beteiligten wohnortnahen Akteure zu vernetzen und Versorgungspfade zu konzipieren, die flexibel auf die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse der Betroffenen angewendet werden können.
Ziele der medizinischen Versorgung
älterer Menschen mit Demenz
Bei der Optimierung der Versorgungsstrukturen für demenzkranke Patienten hat die Verbesserung bzw. der Erhalt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Patienten und Angehörigen Priorität. Ziel sollte sein, dass die Patienten so lange wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können. Dazu sind geeignete ambulante Versorgungsstrukturen erforderlich, die Krankenhausaufenthalte vermeiden, die Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten, die Heimeinweisung und die Pflegebedürftigkeit verzögern und die Gesundheit pflegender Angehöriger weitestgehend schützen. Dies erfordert eine Verbesserung der Integration und Koordination der Versorgung. Beispielsweise kann die Integration einer geriatrischen Rehabilitation in die ambulante Versorgung die Pflegebedürftigkeit von demenzkranken Menschen verzögern und den Erhalt der Selbstständigkeit fördern [Vollmar et al., 2008]. Darüber hinaus ist jedoch der Aufbau neuer Versorgungsstrukturen notwendig, die über die Koordination und Integration vorhandener medizinischer und pflegerischer Leistungen hinausgehen und folgende Faktoren berücksichtigen:
• Demenzkranke Patienten leiden i.d.R. an mehr als einer
Erkrankung (Multimorbidität)
• Die Krankheit kann einen langen zeitlichen Verlauf nehmen
• In den letzten Lebensabschnitten kommt es fast immer zur
Pflegebedürftigkeit
• Pflegende Angehörige benötigen eine besondere Unterstützung
und Entlastung
Versorgungsstrukturen Demenzkranker in Deutschland - epidemiologische und gesellschaftliche Entwicklungen bedingen Anforderungen an
zukünftige Entwicklungen
Die Dringlichkeit, diese Faktoren beim Aufbau von neuen Versorgungsstrukturen zu berücksichtigen, ergibt sich auf dem Boden epidemiologischer Fakten und der sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: 2050 werden in Deutschland vermutlich ca. 2,3 Mio. Menschen mit Demenz leben. Gleichzeitig werden die „klassischen“ Versorgungsstrukturen, die durch die Familien getragen werden, abnehmen. Dadurch wird ein nicht unerheblicher Teil der Kosten auf die Pflegeversicherung verschoben. Schon heute weist die Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamtes für 2002 rund 5,6 Mrd. Euro für Demenz aus. Der Löwenanteil von ca. 3,6 Mrd. Euro entfällt auf die stationäre und teilstationäre Pflege. Der unbezahlte Betreuungsaufwand pflegender Angehöriger ist hierbei nicht berücksichtigt. Geht man davon aus, dass ca. 60 % aller Demenzkranken zu Hause betreut werden und dass sich diese Anzahl aufgrund des Strukturwandels in der Bevölkerung zu Lasten der stationär betreuten Patienten verschiebt, gleichzeitig jedoch die Prävalenz der Demenz aufgrund der Alterung der Bevölkerung steigen wird, so lässt sich abschätzen, welche Bedeutung dem Aufbau ambulanter Versorgungsstrukturen zukommt, die eine möglichst lange Betreuung im gewohnten familiären Umfeld ermöglicht. Dem langjährigen Hausarzt kommt in solchen Konzepten eine Schlüsselrolle zu. Neben der über Jahre hinweg aufgebauten vertrauensvollen Arzt-Patientenbeziehung kann in der hausärztlichen Versorgung die Koordination aller Akteure sowie aller notwendigen Behandlungsprozesse von der Prävention über Diagnostik, Therapie und Rehabilitation gut verankert werden. Im Vergleich zu bereits etablierten Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke wie z.B. den Disease-Management-Programmen sollten die Strukturen zur Versorgung Demenzkranker aus mehreren Gründen anders ausgestaltet sein: (1) Aufgrund des sich abzeichnenden Arztmangels wird der Versorungsaufwand nicht alleine durch den Arzt leistbar sein. (2) Der besondere Unterstützungsbedarf der Angehörigen erfordert zusätzliche und anders gestaltete Versorgungsstrukturen als die medizinische Versorgung. (3) Die Verzögerung der Pflegebedürftigkeit und der Erhalt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität haben einen hohen Stellenwert. (4) Bestehende Strukturen sind i.d.R. auf die Versorgung von Patienten mit einer definierten Diagnose ausgelegt und für die Versorgung von Patienten mit Demenz häufig nur sehr eingeschränkt geeignet. Zudem wird das Problem der Multimorbidität in bestehenden Strukturen, wie z.B. den DMPs, nicht adäquat berücksichtigt.
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die genannten Probleme in der ambulanten Versorgung Demenzkranker langfristig nur durch eine neue Aufgabenteilung zwischen der ärztlichen und der pflegerischen Profession sowie durch eine verbesserte interprofessionelle Kooperation zu lösen sein werden. Die derzeitige übliche Rollen- und Tätigkeitsverteilung in der ambulanten Versorgung ist auf die Rolle des Arztes als zentrale Entscheidungsposition ausgerichtet. Daraus resultiert eine mangelnde Flexibilität um auf die durch Alterung, Multimorbidität und Demenz hervorgerufenen Probleme angemessen reagieren zu können. Darauf weist auch der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2007 zum Thema „Entwicklung der Zusammenarbeit der Gesundheitsfachberufe als Beitrag zu einer effizienten und effektiven Gesundheitsversorgung“ hin und empfiehlt ein multiprofessionelles ambulantes Team für „die Übertragung der Prinzipien des Chronic Care-Modells zur Verbesserung der ambulanten Versorgung in Deutschland und den verstärkten Einsatz nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe für beratende, edukative, organisatorische und präventive Aufgaben“ [SVR, 2007; SVR, 2009]. Nach den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes sollen die Pflegeberaterinnen und Pflegeberater, die seit 1. Januar dieses Jahres für alle Antragsteller und Empfänger von Leistungen der Pflegeversicherung eine Fallklärung und –steuerung durchführen müssen, neben einer nicht-ärztlichen beruflichen Grundqualifikation Weiterbildungsmodule in den Bereichen Pflegefachwissen, Case Management und Recht durchlaufen haben [GKV-Spitzenverband 2008]. Folglich geht dies konform mit den beschriebenen Anforderungen des Sachverständigenrates.
Versorgung von Demenzkranken im
multiprofessionellen ambulanten Team –
das Guided Care Modell als Weiterentwicklung
des Chronic Care-Modells
Ein Forscherteam der Johns Hopkins University um Chad Boult entwickelte das Guided Care-Modell (GC) auf dem Boden des Chronic Care-Modells sowie weiterer effektiver Interventionen. Das resultierende Modell wurde auf den hausärztlichen Bereich adaptiert. Inzwischen ist die Effektivität und Kosten-Effektvität von GC nachgewiesen [Wolff et al., 2009; Leff et al., 2009; Boyd et al., 2007]. Das Besondere an GC ist die Implementierung von Versorgungsstrukturen für multimorbide ältere Risikopatienten, unabhängig von einer spezifischen Diagnose und unter Berücksichtigung medizinischer und funktionaler Outcomes. Rund 8 % der in GC betreuten Patienten leiden an einer Demenz [Sylvia et al., 2008]. Dennoch geben erste Auswertungen Hinweise auf eine verminderte Anzahl von Krankenhauseinweisungen, kürzeren Krankenhausaufenthalten sowie eine geringere Anzahl an Pflegeleistungen in der Gruppe der GC-Patienten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe in einer Pilotstudie. Diese Ergebnisse konnten in einer cluster randomisierten Studie bestätigt werden [Leff et al., 2009]. Obwohl die Patienten der GC-Gruppe eine höhere Anzahl von Facharztbesuchen, mehr Diagnostik und Therapie erhielten, waren die Gesamtkosten im Vergleich zur Kontrollgruppe geringer.
Dazu implementiert GC analog zu dem Vorschlag des Sachverständigenrats einen interprofessionellen Teamansatz. Eine speziell weitergebildete nicht-ärztliche Gesundheitsfachkraft nimmt in enger Teamarbeit mit dem Hausarzt acht interprofessionelle und interdisziplinäre Aufgabengebiete war (Abb. 1).
Sie führt ein umfassendes Assessment des zu betreuenden Patienten in der häuslichen Umgebung durch, auf dessen Boden unter Berücksichtigung evidenzbasierter Praxisempfehlungen ein individueller Patientenversorgungspfad entwickelt wird. Dieser integriert Inhalte aus den Bereichen Diagnostik, Pflege, Therapie und Versorgung. Im Unterschied zu einem Patientenpfad, der in erster Linie auf die Darstellung des Therapieablaufs zielt, berücksichtigt der Versorgungspfad Elemente der Versorgung wie z.B. Schulung von Angehörigen, Vermittlung von Selbsthilfegruppen oder Tagespflege sowie die Berücksichtigung funktionaler und pflegerischer Aspekte gleichberechtigt neben Aspekten der Therapie und Diagnostik. Alle Aspekte werden mit den Präferenzen des Patienten und seine Angehörigen sowie mit den Empfehlungen des Hausarztes zu Diagnostik, Therapie und Versorgung abgestimmt und in eine elektronische Patientenakte eingepflegt. Aus dem individualisierten Versorgungspfad wird ein für Patient und Angehörige verständliches Patientenprotokoll erstellt, das in der Wohnung des Patienten an prominenter Stelle aufgehängt wird. Es enthält alle wichtigen Gesundheits- und Verhaltensinformationen sowie den individuellen Therapieplan. Die Gesundheitsfachkraft nimmt mindestens einmal pro Monat mit dem Patienten und seinen Angehörigen telefonischen oder persönlichen Kontakt auf, um den Therapie- und Versorgungsplan zu besprechen, neu aufgetretene Probleme zu eruieren und notwendige Anpassungen in Rücksprache mit dem Arzt vorzunehmen. Bei akuten Problemen, Krankenhausaufenthalten oder Wünschen von Seiten des Patienten oder der Angehörigen kann eine kurzfristige Anpassung des Versorgungspfads durchgeführt werden. Wichtig ist, dass die Ergebnisse sowohl im Versorgungspfad als auch in das Patientenprotokoll übertragen werden.
Darüber hinaus koordiniert und integriert die Gesundheitsfachkraft die medizinische und nicht-medizinische Versorgung und informiert Patient und Angehörige beispielsweise über Selbsthilfegruppen, Tagespflegeeinrichtungen und andere unterstützende Maßnahmen. Der GC-Ansatz ist pro-aktiv. Ähnlich wie in den Disease-Management-Programmen werden Versorgungsepisoden durch evidenzbasierte Protokolle und Krankheitsepisoden gleichberechtigt ausgelöst. Medizinische und pflegerische Ziele wie z.B. der Erhalt der Funktionalität stehen gleichberechtigt nebeneinander und werden in der Evaluation gemessen. Für Patienten, deren Erkrankung eine starke Einbindung der Angehörigen erfordert, wie es bei Demenzpatienten der Fall ist, kann GC um die Komponente „GC for family and friends“ erweitert werden. In diesem Zusatzmodul, das ebenfalls von der nicht-ärztlichen Gesundheitsfachkraft getragen wird, werden fünf spezielle Interventionen für pflegende Angehörige zusammengeführt und in den individualisierten Therapieplan integriert:
1. Initiales Treffen mit persönlichem Gespräch
2. Schulung (Information) und Vermittlung von weiteren
Unterstützungsangeboten
3. Kontinuierliches Coaching
4. Workshopangebot
5. Support Group-Angebot
Das initiale Treffen zwischen pflegenden Angehörigen und der Gesundheitsfachkraft findet nach dem Assessment des Patienten in der häuslichen Umgebung statt. Das Treffen wird durch einen Fragebogen vorbereitet, den die Angehörigen vor dem Treffen erhalten und zurücksenden. In dem Fragebogen werden die pflegenden Angehörigen um eine Beschreibung der von ihnen geleisteten Pflege sowie um eine Beschreibung ihrer Erwartung an Informationen, Schulungen, Vermittlung von weiteren Unterstützungsangeboten etc. gebeten. Entsprechende Unterstützungsangebote werden auch in der individuellen Informationsvermittlung vermittelt. Das kontinuierliche Coaching der pflegenden Angehörigen umfasst die Erreichbarkeit per Mail und/oder Telefon der Gesundheitsfachkraft während der regulären Arbeitszeiten sowie jeweils ein Gesprächsangebot vor und nach gesundheitlich relevanten Ereignissen wie z.B. einer Krankenhauseinweisung oder einer Therapieänderung. Das Angebot, an einem Workshop und einer Selbsthilfegruppe teilzunehmen, steht allen pflegenden Angehörigen offen. Während die Selbsthilfegruppe, die von der Gesundheitsfachkraft angeboten wird, einmal pro Monat stattfindet und von der Gesundheitsfachkraft moderiert wird, findet der Workshop als 90-minütige Gruppensitzung über 6 Wochen statt. Erste Auswertungen lassen den Schluss zu, dass durch das Zusatzmodul „family and friends“ sowohl das Stressempfinden als auch das Auftreten einer Depression bei pflegenden Angehörigen moderat positiv beeinflusst werden konnte [Wolff et al., 2009].
GC wurde nicht für Patienten mit Demenz entwickelt, sondern für multimorbide Risikopatienten mit chronischen Krankheiten. Dadurch und durch die systematische Implementierung von wissenschaftlich nachgewiesenen effektiven Interventionen können die besonderen Anforderungen an die ambulanten Versorgungsstrukturen für Demenzkranke in hohem Maße realisiert werden. Der Multimorbidität wird durch die Erstellung eines individualisierten Versorgungspfads Rechnung getragen, der für alle Krankheitsentitäten des einzelnen Patienten evidenzbasierte Empfehlungen enthält. Im Gegensatz zum traditionellen Patientenpfad ist neben Diagnostik und Therapie auch eine Versorgungskomponente für Patienten und Angehörige Teil des Patientenpfads. Durch die kontinuierliche Betreuung durch die Gesundheitsfachkraft wird auch bei langen Krankheitsverläufen die Kontinuität gewahrt. Integration und Koordination der medizinischen, pflegerischen und nicht-medizinischen Leistungen sowie die Schulung und Information von Patienten und Angehörigen sind mit einem erweiterten Case Management vergleichbar.
Fazit und Ausblick
Die Versorgung Demenzerkrankter wird die größte Herausforderung des nächsten Jahrzehnts werden. Das deutsche Gesundheitssystem steht vor einer nie da gewesenen Aufgabe, die es ohne Einbeziehung aller Akteure im Gesundheitswesen nicht bewältigen kann. Vor allem gilt es, alle Anstrengungen zu bündeln, um in der Versorgungsforschung die Krankheit in den Vordergrund zu stellen und die Ergebnisse der Forschung in den Versorgungsalltag zu implementieren.
Die damit einhergehende Diskussion um die Neuverteilung von Rollen, Kompetenzen und Aufgaben zwischen den Professionen sollte jedoch nicht unter dem Aspekt „Delegation vs. Substitution“ geführt werden. Vielmehr sollte der Grundgedanke der Diversifikation und des „Enhancements“ im Vordergrund stehen. Dies bedeutet im Sinne des Sachverständigenrats einerseits die Bildung von Poolkompetenzen, andererseits die Besetzung neuer Aufgaben im Versorgungsmanagement durch entsprechend weiter qualifizierte nicht-ärztliche Gesundheitsberufe.
Durch den gesetzlichen Anspruch auf Fallklärung und -steuerung, sowie die Einrichtung von Pflegestützpunkten sind in Deutschland die Rahmenbedingungen geschaffen worden, tragfähige Strukturen zu entwickeln, die den Anforderungen an die Versorgung von Demenzkranken gerecht werden. Die enge Kooperation mit dem ärztlichen Bereich ist jedoch nicht nur obligatorisch für den Erfolg, sondern sie stellt auch eine der großen Herausforderungen dar, denen sich die Pflegeberatung in den nächsten Jahren stellen muss. Hier sind insbesondere die Pflegestützpunkte in der Pflicht, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, um eine adäquate Versorgung von Demenzkranken sicherzustellen. Die Anpassung von Elementen des amerikanischen Guided Care-Modells auf Deutschland könnte dabei eine wichtige Hilfestellung leisten. <<