Folgt man der auf der bwcon-Veranstaltung kürzlich in Stuttgart vorgetragenen Argumentation von Dr. Werner Baumgärtner, dem Vorsitzenden von MEDI Deutschland sowie von Dr. Rolf Hoberg, dem Vorstandsvorsitzenden der AOK Baden-Württemberg, dann habe „die hausarztzentrierte Versorgung (HZV) auf Bundesebene deutlich an Innovationspotenzial eingebüßt“, sofern der aktuelle Kabinettsbeschluss zum GKV-Finanzierungsgesetz unverändert umgesetzt werden sollte. Das sind Worte - nachzulesen auch in aktuellen Pressemitteilungen - der HZV-Kooperationspartner in Baden-Württemberg, wobei gleich klargestellt worden ist, dass das AOK-Hausarztprogramm, für das der eHealth-Spezialist InterComponentWare AG (ICW) den gekapselten Kern sowie Konnektor und IT-Infrastruktur bereitstellt, bis mindestens Ende 2015 fortgeführt werden soll. Ebenso wird davon auszugehen sein, dass die mit vielen anderen Krankenkassen geschlossenen Hausarztverträge zumindest bis 2012 Bestand haben werden. Die Zeit läuft, in der die Riege der Vertragspartner und ICW als Telematik-Dienstleister beweisen können, ob Hausarztverträge positive Effekte auf Versorgungsqualität und Ökonomie zeitigen. Im Interview: ICW-Vorstandsvorsitzender Peter Kirschbauer und Vorstand Jörg Stadler.
>> Was kann ICW tun, um der hinter der HZV stehenden IT zum Erfolg zu verhelfen?
Stadler: Man muss vor und auch nach dem Inkrafttreten des AMNOG - und hier ist das letzte Wort über die tatsächliche Formulierung der die Selektivverträge betreffenden Passagen noch nicht gesprochen - strikt trennen; einerseits zwischen der Situation, wie sie sich derzeit in Baden-Württemberg heute, in naher und mittelfristiger Zukunft darstellt, und andererseits zwischen der bundesweit zu beobachtenden realen Vertragssituation - ebenfalls heute und in Zukunft. Sicher ist es so, dass - wenn Herr Bundesminister Dr. Philipp Rösler bei seiner Meinung bleiben und diese auch im Gesetz durchsetzen sollte, dass das kollektive Vertragssys-tem die Blaupause für das selektive sein sollte - das künftige selektive Kontrahieren nicht gerade gefördert wird.
Kirschbauer: Doch andererseits wurden in den vergangenen zwei Jahren, in denen Hausarztzentrierte Verträge in Baden-Württemberg existieren und nach und nach mit Leben erfüllt wurden, Fakten geschaffen; und zwar Fakten, die man nicht einfach ignorieren kann.
Als da wären? Wenn man an eine vielleicht irgendwann einmal real existierende IT-Infrastruktur denkt, in die sich ein selektives Vertragsgeschehen integrieren muss?
Kirschbauer: Das Entscheidende der Situation in Baden-Württemberg ist, dass die IT-Struktur hier den Anwendungen folgt und nicht umgekehrt. Denn hier wurde die IT bisher einzig und alleine von der hausarztzentrierten Versorgung getrieben. Hätte es diese neue Vertragswelt nicht gegeben, wäre auch die derzeit schon vorhandene und auch funktionierende Infrastruktur nicht vorhanden.
Wieder das Stichwort Blaupause.
Stadler: In Baden-Württemberg existiert schon heute eine intakte IT-Infrastruktur, die HZV-Ärzte mit den Krankenkassen vernetzt - allen voran mit der AOK Baden-Württemberg, aber auch mit der Bosch BKK und anderen. Diese IT-Infrastruktur ist keine Blaupause mehr, sondern wurde institutionalisiert und industrialisiert. Und: Sie funktioniert und könnte im Endeffekt einen bundesweiten Rollout erfahren.
Wäre es möglich, auf Basis der in Baden-Württemberg existenten IT-Infrastruktur eine größere, ja bundesweite Lösung zu schaffen?
Kirschbauer: Sicher. Wir haben bei der bundesweiten IT-Infrastruktur das klassische Henne-Ei-Problem: Es gab bislang keine Mehrwertapplikationen, weil es keine Infrastruktur gab und umgekehrt wegen fehlender Mehrwertapplikationen keinen Business-Case, um auch nur annähernd die Infrastruktur zu finanzieren. Doch in Baden-Württemberg wurde das Henne-Ei-Problem über die Selektivverträge gelöst, hier wird die IT-Struktur gelebt.
Stadler: Die Sicherheitsanforderungen, die wir bereits heute in Baden-Württemberg erfüllen, würden einen bundesweiten Rollout erlauben. Im Idealfall müssten unsere Konnektoren, die nach Maßgabe unserer Vertragspartner - der AOK und Medi Baden Württemberg - von Anfang an gematik-kompatibel ausgerichtet und beim BSI zertifiziert werden. Doch mit dem BSI sind wir schon heute im Gespräch, um auch außerhalb des Paragraphen 291a eine Zertifizierung zu bekommen. Wenn das gelingt und davon gehen wir aus, setzen wir auf einen Standard auf, der unangreifbar ist.
Eine der Hauptfragen wird es auch sein, in wie weit es Ihre IT schafft, nach oben zu skalieren oder auch zu standardisieren.
Kirschbauer: Das ist eine Frage der Technik und der nötigen Praktikabilität. Natürlich will der Arzt in seinem Tagesablauf nicht mit zu vielen unterschiedlichen Abläufen, Formularen und Oberflächen konfrontiert sein, das ist ja auch verständlich. Richtig ist, dass gewisse Abläufe und Oberflächen der IT-Anwendungen mehr als heute standardisiert werden müssen. Aber das ist nicht so sehr unser, denn das Problem der diversen Praxissystemanbieter.
Weil sie einen fest definierten „gekapselten“ Kern anbieten.
Stadler: Exakt. In diesem Kern spielt sich im Prinzip die gesamte selektive Vertragswelt ab. Und „gekapselt“ heißt er deswegen, weil eine hohe Sicherheitsstruktur verhindert, dass die in ihm gespeicherten und nur den Vertragspartner bekannten Vertragsdetails nach außen dringen. An diesen Kern docken nun diverse Praxissoftwarelösungen anderer Anbieter an, die entsprechende Formulare, Prozeduren und Oberflächen bereit halten. Diese Anbieter sind natürlich aufgerufen, weit mehr als bisher zu standardisieren.
Nachfrage zum „gekapselten“ Kern: Wie viele Verträge können denn über ein und den selben Kern abgewickelt werden? Man kann sich schwer vorstellen, dass in einem Kern 100 oder auch 600 verschiedene Verträge gemanaged werden können, auch wenn die Standardisierung hoch und die Grundmodule gleich sind. Irgendwo muss es doch eine Grenze geben.
Kirschbauer: Der Techniker sagt: Es kommt darauf an. Es ist wirklich so, dass sich die Verträge im Grunde genommen sehr ähnlich sind und auch künftig sein werden. Diese Ähnlichkeit wird im Kern standardisiert abgebildet und muss deshalb nicht 100 oder auch 600 mal in verschiedener Form vorhanden sein. Darüber hinaus gibt es regelbasierte Systeme mit Parametern, die fast jede Kasse zwar unterschiedlich definieren mag, die aber wiederum regelbasiert verarbeitet werden können.
Stadler: Schwierig wird es jedoch bei den Elementen von Verträgen, die in den Ablauf der Praxissysteme eingreifen müssen.
Mit dem Kern haben Sie demzufolge ein eigenes Geschäftsmodell und wo es schwierig wird, sind die Praxissoftware-Anbieter zuständig.
Kirschbauer: Das wäre zu einfach. Wir wollen und können natürlich helfen, zum Beispiel beim Thema Formulare. So könnten wir beispielsweise Heilmittelformulare über unseren Kern an die Nutzeroberfläche bringen und in jedem Arztsystem anzeigen lassen. Die dazu benötigten Daten könnten teilweise schon heute aus Web-Services übernommen werden, damit das entsprechende Formular schon teilweise ausgefüllt ist. Dann braucht der Arzt nur noch wenige Angaben machen, die gegen Wertetabellen abgeprüft werden. Und wenn das Formular keine Fehler aufweist, kann es über den Kern an die verarbeitende Stelle verschickt werden. Das wäre ein Service, der allen PVS-Anbietern viel Entlastung bringen würde, weil eine notwendige technische Lösung eben nur einmal im Kern programmiert werden muss und nicht x-mal in jedem PVS.
Was ist denn mit Ihrer eigenen HZV-Softwarelösung „Hausarzt+“?
Kirschbauer: Neben der Entwicklung des gekapselten Kerns treiben wir gleichzeitig die Entwicklung von Hausarzt+ weiter voran und werden unsere vertraglich zugesagten Verpflichtungen voll erfüllen. In bilateralen Gesprächen und Workshops gehen wir auf die PVS-Anbieter zu, um gemeinsame Stärken zu definieren, oder auch Schwächen zu eliminieren.
Was sind denn die Problemfelder?
Stadler: IT ist und darf nie Selbstzweck sein. Doch ebenso klar muss sein, dass ohne IT ein so komplexes Vertragsgebilde wie das der Hausarztverträge oder auch Facharztverträge nie funktionieren kann. Gerade in der Anfangszeit sah man die Schwierigkeiten, die ein derartiges Unterfangen automatisch mit sich bringt: Das ist vor allem eine wahre Flut von Änderungen, ob nun seitens der Politik, des Datenschutzes oder seitens der Vertragspartner. Für uns als IT-Anbieter bedeutete dies einen enormen Zeitdruck bei der Umsetzung all dieser Anforderungen.
Durch die hohe, dahinterstehende Komplexität?
Kirschbauer: Es ist nicht einfach, wenn sich die Vertragspartner gegen den Druck des KV-Systems oder auch anderer Gruppierungen der Selbstverwaltung auf ein selektives Vertragsgeschehen verständigen und dafür eine ganz neue Versorgungsstruktur aufbauen. Darüber wird verhandelt und - im positiven Sinne - gestritten. Doch wenn sie sich einmal geeinigt haben, wollen sie die dafür nötigen IT-Strukturen natürlich möglichst bereits gestern implementiert sehen. Das ruft einen enormen Zeit- und auch Erfolgsdruck hervor, dem im Prinzip jedoch alle ausgesetzt sind.
Wie kann man die Zusammenarbeit verbessern?
Stadler: Das ist teilweise schon geschehen, indem seitens der Vertragspartner sogenannte Pflichtenhefte erstellt werden, auf deren Basis wir und alle anderen involvierten Softwarehäuser entwickeln können. Doch ist das Pflichtenheft einmal verabschiedet, rennt wieder die Zeit.
Was ist denn mit Ihrer Gesundheitsakte?
Stadler: Technisch könnten alle Patientendaten per Mausklick in die Gesundheitsakte geladen werden.
Was aber nicht oder nur zu selten getan wird.
Kirschbauer: Stimmt. Leider ist es uns und auch den Vertragspartnern der selektiven Verträge noch nicht gelungen, dem Arzt zu kommunizieren, welchen Kernnutzen er oder sein Patient davon hat.
Das führt auf das Problem der bundesweiten IT-Infrastruktur zurück: Solange die zentrale Nutzen-Frage nicht geklärt ist, nützen die beste Struktur oder auch Applikationen herzlich wenig. Aber was hat der Arzt von einer Gesundheitsakte, außer dem Fakt, dass die Daten im Notfall oder im Zweifel auch bei einem Arztwechsel einem anderen Arzt schnell, ausführlich und in digitaler Form zur Verfügung stehen?
Kirschbauer: Die Gegenfrage lautet, ob der Arzt wirklich etwas von einer Gesundheitsakte haben muss. Die Fragestellung sollte doch eher lauten: Was hat der Patient davon?
Wie könnte dieses System in ein besseres überführt werden?
Stadler: Das passiert in den HZV-Verträgen, indem sich Kassen und Ärzteschaften auf ein strukturiertes Versorgungsmodell geeinigt haben. Das ist der erste Schritt. Nun muss der zweite folgen, der dazu führt, dass die Ärzteschaft die zur Verfügung stehenden Patientendaten in digitaler Form vorhält.
Kirschbauer: Das tun sie derzeit nur deshalb zu wenig, weil diese Möglichkeit noch zu wenig in ihren EDV-gestützten Arbeitsablauf integriert ist. In unserer HZV-Softwarelösung Hausarzt+ gibt es diese Möglichkeit übrigens seit langem und die wird auch genutzt. Würden Ärzte die Patientendaten per Mausklick aus ihrem PVS-System heraus in die Gesundheitsakte einstellen oder auch zum weiter behandelnden Arzt schicken können, würden sie das auch machen - zumindest mehr als bisher.
Hier scheint wieder eine ähnliche Systematik zu gelten.
Kirschbauer: Exakt. Hier gilt wieder Henne und Ei: Selektivverträge stiften Nutzen und die IT schafft die Möglichkeiten dafür.
Wo sehen Sie für Ihr Unternehmen die Zukunft? In „Hausarzt+“ - einer HZV-Vertragssoftwarelösung mit eigener Oberfläche? Im „gekapselten“ Kern, der als eine Art „Intel inside“ der HZV-Vertragswelt zu verstehen sein mag?
Stadler: Im Vergleich zum gekapselten Kern wird Hausarzt+ immer weniger nachgefragt. Das zeigen die aktuellen Installationszahlen: Bei rund 7.000 Vertragsärzten läuft unser gekapselter Kern, bei nur 400 Hausärzten Hausarzt+. Unser Ziel muss es demnach sein, mehr als bisher der Enabler der selektiven Vertragswelt zu sein.
Kirschbauer: Daneben haben wir noch weitere Lösungen in unserem Portefeuille. Dazu zählen Lösungen für die Klinikvernetzung oder das Versorgungsmanagement sowie für die Telemedizin. Hier möchte ich das Forschungsprojekt der Berliner Charité „Partnership for the Heart“ nennen, an dem wir mitarbeiten. Hier geht es darum, dass telemedizinische Leistungen bei Herzinsuffizienz Anerkennung in den Regelleistungen finden.
Sind das diverse IT-Welten oder werden gemeinsame Standards genutzt?
Kirschbauer: Wir nutzen hauptsächlich eine Integrations-Plattform für die Entwicklung von Anwendungen und Lösungen. Sie unterstützt sowohl Integrations- als auch Datenaustauschszenarien.
Was wiederum eine eigene kleine IT-Infrastruktur darstellt.
Stadler: Unsere Plattform hostet Daten, bietet Vernetzungsmöglichkeiten und Content Management. Das Motto von ICW heißt ja: Vernetzen statt Ersetzen. Gerade das Vernetzen der verschiedenen Teilnehmer ist eine Kernkompetenz, in der wir viel Erfahrung haben und die entsprechende Technologie anbieten. <<
Das Gespräch führte Peter Stegmaier.