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„Mit IT mehr Transparenz schaffen“

Wolfram-Arnim Candidus, Präsident der Deutschen Gesellschaft Versicherte und Patienten (DGVP) im MVF-Gespräch

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.12.2009

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Als eine der ersten Maßnahmen für die anstehende Neuordnung des Gesundheitswesens hat die schwarz-gelbe Koalition ein Moratorium verfügt, um die Pläne zur elektronischen Gesundheitskarte (EGK) auf den Prüfstand zu stellen. Bis Ende des Jahres sollen trotzdem neun Millionen Menschen in NRW die Karte bekommen, die nicht mehr als den Stammdatensatz und eventuell Notfdalldaten enthält. Danach soll die EGK nach dem - bisher unveränderten - Stand der Roll-out-Planung (s. S. 12) bundesweit in Umlauf gehen. Aber wie stehen eigentlich die Versicherten selbst dazu? „Monitor Versorgungsforschung“ lässt darum den Präsidenten der Patientenorganisation DGVP zu Wort kommen. Er sagt: „Ja zur IT – aber nicht in der jetzt entwickelten Form und nur wenn alle mitmachen, sich vernetzen und Patientengenossenschaften die Daten verwalten.“

>> Herr Candidus, in der neuen Version enthält die elektronische Karte ein Foto und einen Schlüssel zu den Daten einer geplanten Gesundheitsakte, die irgendwo auf Servern noch von der gematik zu bestimmender Dienstleister liegt. Zwar haben die Berufsgruppen und Institutionen sowie der Patient damit Zugriff auf ein neues System, doch dieses System ist bislang leer, weil es diese Daten noch gar nicht gibt. Was bringt das System Telematik den Versicherten und wie reagieren sie darauf?
Zunächst wird durch die Fortführung des jetzt bestehenden Systems EGK und EGA die Geldvernichtungsmaschine erhalten und wird somit die „Rationierung und Priorisierung“ für die Versicherten und Patienten weiter verschärft. Der Unterschied zur bisherigen Karte besteht nach sieben Jahren Bemühungen um die EGK nur in einem Foto – und selbst das ist noch nicht mal identifikationsgeprüft. Weil aber keinerlei sichtbare Mehrwerte, außer der Fehlverwendung der bisherigen Versicherungskarte ohne Foto durch Dritte, vorhanden sind, ist es doch logisch, dass erst einmal Frust und Enttäuschung vorherrschen werden und wir diese Entwicklung stoppen wollen.

Haben die Versicherten denn eine Wahl?
Wie immer keine große. Aber wir sagen unseren Mitgliedern, dass sie eventuell bei diesem Rollout in eine falsche Richtung gesteuert werden - mit einem Produkt, das nicht einwandfrei funktioniert, kaum einen Nutzen bringt und unheimlich viele Finanzmittel verschlingt. Von den Ärzten in Nordrhein-Westfalen verfügt ja erst zwei Drittel über entsprechende Karten-Lesegeräte, doch der Roll-out des Tests in NRW soll laufen und so schnell wie möglich abgeschlossen sein. Aber: Wie soll das gehen? Das ist doch eine totale Fehlentwicklung zu Lasten der Bevölkerung und der Beitragszahler.

Lehnen Sie die EGK und die elektronische Patientenakte (EPA) komplett ab?
Ich kämpfe gegen die EGK und EPA in der jetzigen Form, weil das Ganze von Anfang an falsch angesetzt war. Weder sind wir - die Versicherten - noch die Ärzte gefragt worden. Erst auf starken Druck hin, als die Entwicklung schon weit fortgeschritten war, kam man auf die Idee, die vernachlässigten Berufsgruppen und Institutionen der ambulanten und stationären Versorgung einzubeziehen. Unsere Forderung wäre durchaus mit dem Willen der Politik vereinbar, wenn denn einige Voraussetzungen erfüllt werden würden.

Welche Forderungen sind das?
Das System muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Es muss für den Versicherten = Bürgerin und Bürger = Zahler und den Patienten als Nutzer ein deutlich erkennbarer Mehrwert herauskommen. Wenn das garantiert wird, bin ich sogar dafür, dass sowohl jeder Patient als auch jeder Heilberufler dazu verpflichtet wird, IT zu nutzen. Denn, wenn alle Anwendungen einheitlich aufgebaut sind und miteinander vernetzt sind, gibt es auch Effizienz- und vor allem Qualitäts-Effekte und weniger Risiken, um die es mir als Vertreter der Versicherten und Patienten gehen muss.

Was ist Ihre Empfehlung?
Das von der gematik inszenierte Telematik-Monster erst einmal zu stoppen. Das heißt aber nicht, dass man gleich alles mit dem Bade ausschütten muss. Vielleicht muss man nur etwas den Fokus verschieben und mehr auf den Patienten richten, um aus den Bestandteilen des bisherigen Systems ein neues zu machen.

Auf welcher Basis?
Am besten auf der Grundlage der Prozesssteuerung: Von der Geburt an sollte jeder Versicherte eine elektronische Karte bekommen, hinter der sofort seine persönliche Gesundheitsakte hinterlegt wird, und zwar beginnend mit den Geburtsinformationen wie Datum, Gewicht und Körpergröße und der Erstanamnese, dann folgen Impfungen, Erbkrankheiten usw.

Damit würde die vom Datenschutz eingeforderte Freiwilligkeit des Patienten auf der Strecke bleiben.
Das ist wie immer im Leben ein Abwägen der Vor- und Nachteile! Wir müssen den Bürgern deutlich machen, dass sie ihre Lebensrisiken selbst minimieren können, wenn ihre Daten zeitlebens aufgenommen werden. Dann hat jeder Bürger als Eigentümer seiner Daten zu jeder Zeit die Möglichkeit, den Ärzten alle notwendigen Informationen, die für eine Behandlung wichtig sind, zur Verfügung zu stellen. Auf Basis einer kompletten Datenstruktur kann der Arzt viel schneller und besser entscheiden, was bei der individuellen Behandlung zu berücksichtigen ist. Das wäre doch ein absoluter Mehrwert, den ich für diesen - in meinen Augen ab einem gewissen Level manchmal auch überzogenen - Datenschutz eintauschen würde.

Angenommen, die Daten sind irgendwann einmal in das neue Telematiksystem eingespeist. Wer soll sie hosten? Wer verwaltet sie?
Das darf nicht Aufgabe der Kassen oder von Berufsgruppen und Institutionen der Versorgung sein. Darum schlagen wir vor, eine Versicherten-Genossenschaft zu gründen, die diese Daten in Besitz nehmen, verwalten, sichern und dem Gesundheitssystem zur Verfügung stellen soll. Ich bin davon überzeugt, dass - sobald eine Versicherten- und Patientengenossenschaft die Daten verwaltet - der Widerstand der Ärzte aufhören wird. Die Mediziner befürchten doch mit Recht nur, dass die Behandlungsdaten direkt an die Kasse geleitet werden und dann auf einmal mehr Transparenz und noch mehr destruktiver Einfluss der Krankenkassen als derzeit erfolgt.

Wer soll denn die Behandlungsqualität der Ärzte kontrollieren?
Unsere Antwort auf dieses Problem heißt: Der Medizinische Dienst (MD) soll für aktive Qualitätssicherung sorgen. Dazu muss seine Funktion allerdings von den Krankenkassen als Finanzier losgelöst und gleichzeitig modifiziert werden, denn nur dann kann er die Funktion eines unabhängigen Steuerungs- und Kontrollorgans einnehmen.

Wie stellen Sie sich das vor?
Laut dem Willen von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sollen in den nächsten Jahren 40.000 Pflegeberater in Deutschland aufgebaut werden, was einem Berater pro 5.000 Einwohner entspricht. Wir fordern die Ausrichtung dieser Pflegeberater zu unabhängig agierenden Gesundheitsberatern, die dem modifizierten MD angehören und den Bürgern Tag und Nacht bei Gesundheits- und Pflegefragen Rede und Antwort stehen. Wenn man diesen Gesundheitsberatern, die bei Kommunal- oder Landtagswahlen gewählt werden sollen, nun die Daten des Telematiksystems zur Verfügung stellen würde, hätten wir eine neue, sehr patientennahe Selbstverwaltung, die als Qualitäts- und Steuerungsorgan an der Schnittstelle zwischen dem Kostenträger, dem Leistungserbringer und dem Versicherten und Patienten eingreifen kann.

Was nicht von Übel wäre in einer Zeit, in der die Kassen immer mehr von Payern zu Playern werden und der Patient immer mehr ausgeliefert zu sein scheint. Ist das Panik oder doch eher Fakt?
Als Patientenorganisation hat man das Ohr ganz nah am Markt, sprich an den Bedürfnissen und auch Ängsten unserer Mitglieder und der Bevölkerung. Ein aktuelles Beispiel: Die AOK fordert, und setzt dabei die Kompetenzzentren unter Druck, dass nach Mamma-Operationen frisch operierte Frauen am ersten postoperativen Tag entlassen werden. Denn dann würden die DRG-Kosten nur mit 1.600 Euro zu Buche schlagen, ansonsten mit zwischen 3.000 und 4.000 Euro. Stellen Sie sich das mal vor, was das für die Betroffenen heißt! Diese Frauen sind schwer erkrankt und haben zusätzliche psychische Beschwerden und entsprechenden zeitnahen Behandlungsbedarf und was macht die Kasse? Sie will sie einfach loswerden. Das ist für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kassen zurzeit zu viel Macht bekommen haben sowie oftmals willkürlich ausschließlich nach Gesichtspunkten der einseitigen Kostensenkung entscheiden und scheinbar willkürlich durchgreifen können.

Wie stehen Sie dazu, dass Leitlinien so entwickelt werden sollten, dass die Berufsgruppen und Institutionen der ambulanten und stationären Versorgung genauso wie Leistungsnehmer eine entsprechende Compliance-Verpflichtung eingehen?
Ich bin absolut dafür, dass es für Ärzte wie für Patienten ein Bonus-Malus-System geben sollte. Dann zahlt eben der Patient weniger Kassenbeitrag, der sich aktiv in die Behandlung eingebracht hat oder bekommt der Arzt weniger Honorar, der vorher definierte Qualitätsziele nicht erreicht hat. Wir müssen ein Commitment schaffen, sonst werden weiterhin Finanzmittel hin und her geschoben und die Berufsgruppen und Institutionen der ambulanten und stationären Versorgung bekämpfen sich gegenseitig und zwar zu Lasten der Versicherten und Patienten.

Welche Funktion hat in diesem Kampf der Strukturen die IT?
Wir sprechen uns nicht umsonst für ein international anwendbares Telematiksystem aus – ein einheitliches Datensystem, mit dem in allen Sektoren bei allen Leistungen Transparenz geschaffen wird. Es ist wichtig, dass die Daten in mehreren Ländern in verschiedenen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch usw.) lesbar sind, weil wir ja immer mobiler und internationaler werden müssen. Die IT ist tatsächlich eine Wunderwaffe, wenn es darum geht, auf internationaler Ebene und vor allem bundesweit die Arbeit der Fach- und Hausärzte oder des ambulanten und Krankenhaussystems zu vernetzen.

Wer soll denn die Installation der Wunder-IT bezahlen? Bislang soll das ja der Patient mit einem Teil seiner Kassenbeiträge übernehmen!
Hier ist eindeutig der Staat in der Pflicht – und zwar über Steuermittel. Es kann doch keine Aufgabe der Patienten sein, Milliarden aufzubringen, um die Versäumnisse der so genannten Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zu korrigieren. Der wissenschaftlich bewiesene Faktor „Ohne Daten ein Dilemma“ gilt für das Gesundheitswesen genauso wie für alle anderen Bereiche unserer Gesellschaft und muss beseitigt werden - ebenso der Modernisierungsrückstand im ambulanten und stationären Bereich.

Wie steht es mit möglichem Datenmissbrauch?
Die Datenschutz-Diskussion ist schon wichtig. Ein gewisser Schutzlevel muss einfach garantiert werden. Doch meines Erachtens verdecken die Ärzte mit diesem Argument nur ihre Angst vor der Transparenz und ihren Unwillen, sich einer einheitlichen Struktur anzuschließen. Für mich ist das Ganze eben keine reine Frage des Datenschutzes, sondern eine Frage der Effizienz und des Zwangs derer, die sich als Freiberufler mit hoher Kompetenz zur Diagnose, Therapie und Pflege zu einer konsequenten Ausrichtung des Behandlungsprozesses einbringen müssen. Und ein Behandlungsprozess muss - wie jeder Produktionsprozess auch - gesteuert und kontrolliert werden. <<

Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.