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MVF-Fachkongress: Versorgung 2.0

Erstveröffentlichungsdatum: 01.04.2012

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Versorgungsstrukturen auf dem Land flexibler zu gestalten, das hat sich die Bundesregierung mit dem am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretenen Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) vorgenommen. Dazu gehören sowohl eine zielgenauere Bedarfsplanung als auch eine verbesserte Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor, wie Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr in seinem Grußwort zum Fachkongress „Versorgung 2.0“ erklärte. Der erneut von „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF) in Kooperation mit dem Bundesversicherungsamt (BVA) veranstaltete Kongress diskutierte die künftige Entwicklung von Disease-Management-Programmen hin zu strukturierten Versorgungsansätzen mit Vertretern der Selbstverwaltung, von Patientenorganisationen, Krankenkassen sowie Pharmaherstellern und Serviceanbietern.

>> Die Aktualität, dass anlässlich der Scharfschaltung des GKV-VStG die Richtlinienkompetenz vom BVA auf den Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) übertragen wurde, griff Dr. Maximilian Gaßner, Präsident des Bundesversicherungsamts, in seiner Begrüßung auf. Die Erfahrungen der letzten Wochen, so Gaßner, hätten gezeigt, dass das BVA bei der Erstellung der bisher erlassenen Richtlinien angemessen beteiligt und somit die im Bundesversicherungsamt gesammelten Erfahrungen und Fertigkeiten genutzt worden seien. Seinem Wunsch, dass „diese so fruchtbar begonnene Zusammenarbeit auch zukünftig fortbestehen“ möge, werde – so Dr. Rainer Hess, Unparteiischer Vorsitzender des G-BA – sicher entsprochen, wenn es denn nach ihm ginge. Doch wollte er hier seinem Nachfolger, der schon im April in seinem neuen Amt bestätigt werden soll, nicht vorgreifen, wohl geht er aber mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus. Sicher auch, weil Hess-Nachfolger Josef Hecken – seit Dezember 2009 Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – mit dem Bundesversicherungsamt durchaus vertraut und auch verbunden ist, schließlich war er von 2008 bis 2009 selbst BVA-Präsident und damit Gaßners Vorgänger.
Aufgrund seines bevorstehenden Ausscheidens aus dem G-BA, den Hess seit 1. Januar 2004 als Unparteiischer Vorsitzender leitet, wollte er die in seinem Vortrag gemachten Anmerkungen als persönliche verstanden wissen, um seinem Nachfolger Tür und Tor offen zu lassen. Seinen Worten zu Folge sieht er die Übertragung der DMP-Richtlinienkompetenz auf den G-BA nicht nur als eine „Umstellung der Rechtsgrundlagen inhaltlich unveränderter DMP“, sondern auch als eine „weitergehende Verantwortung“. Und die gleich in mehreren Dimensionen, die G-BA und BVA als gemeinsame Aufgabenstellung begreifen müssten, die dann auch gemeinsam zu erfüllen sei. Das betreffe die weitere Betreuung der DMP als einen Faktor im Morbi-RSA, insbesondere aber den Versuch, DMP künftig als einen wirklichen Beitrag zur Versorgungsqualität einsetzen zu wollen. Nach den ersten zehn Jahren stehe Deutschland an einem Scheideweg und müsse nun folgende Kernfrage beantworten: „Wie können wir die medizinische Versorgungsqualität mit Hilfe von DMP nachweisbar verbessern?“
Die bisherigen, vor allem evaluatorischen Defizite, aber auch die erreichten Verbesserungen in der Qualität der Versorgung könne man unter anderem in den Ausgaben von „Monitor Versorgungsforschung“ nachlesen; nun gelte es aus der Vergangenheit zu lernen. Man müsse überlegen, ob DMP als solche richtig ausgerichtet sind, was er am Beispiel Diabetes deutlich machte: „Es darf künftig nicht immer nur um Diabetes gehen, vielmehr müssen die mit Diabetes verbundenen Folgeerkrankungen im Fokus stehen, die ein Diabetiker nun einmal mit zunehmenden Alter bekommt.“ Daher müssen DMP seiner Meinung nach in Zukunft nicht nur auf eine Eingangserkrankung, sondern immer auf weitere Komorbitäten ausgerichtet werden. Hess: „Wir sind gerade dabei, nicht nur ein Krankheitsbild, sondern eine Krankheitsursache mit ihren Folgen insgesamt in DMP zu integrieren.“ Deshalb habe der G-BA in der jüngsten Vergangenheit ganz bewusst auf die Auflage neuer DMP verzichtet, weil sich der Bundesausschuss derzeit eher mit Komorbiditäten befassen und versuchen will, diese den jeweiligen Programmen zuzuordnen und in einen wirklich sektoren- und einrichtungsübergreifenden integrierten Ansatz einzubringen.
Die bisherigen integrierten Versorgungansätze sind laut Hess zwar gut, weil integrierte Versorgung immer gut sei, doch scheiterten sie nur zu oft am Wettbewerb, an der Bereinigung von Gesamtvergütungen sowie an der begleitenden Finanzierung. Hess: „Das heißt, wir können nicht auf integrierte Versorgung setzen, wenn es darum geht, einen breiteren Ansatz der DMP zu bekommen.“ Darum müssten nun die Programme selbst überarbeitet werden; und zwar stärker die Morphologie einer Erkrankung berücksichtigen, um dann das, was zur Morphologie gehört, in ein entsprechendes DMP integrieren zu können. Ist das gelungen, könnten darauf aufsetzend integrierte Verträge abgeschlossen werden. Hess: „Dazu brauchen wir einen neuen Ansatz für DMP und auch andere Daten als bisher.“ Dazu müssten DMP künftig von Surrogatparametern auf wirklich patientenrelevante Endpunkte wie Mortalität, Morbidität und Lebensqualität ausgerichtet werden. Hess ganz persönliche Meinung: „Wir haben nun zehn Jahre Erfahrungen und sollten den jetzt erfolgten juristischen Schnitt für einen neuen Start nutzen, aber keinen Neustart, sondern einen, der auf dem aufsetzt, was wir gemeinsam erarbeitet haben.“
Das sieht nicht nur einer seiner nachfolgenden Redner, Evert Jan van Lente, als schwierige Aufgabe an, der in seinem Vortrag „Regionale Unterschiede und ihre Folgen aus Kassensicht“ verdeutlichte, welch erstaunliche Schwankungen es in den regionalen Versorgungsdaten gibt, die eben nicht einfach mit der Altersstruktur, sozioökonomischen Faktoren oder der Angebotsstruktur erklärt werden können. Doch ebenso wies der Stellvertretende Geschäftsführer Versorgung im AOK-Bundesverband darauf hin, dass es aufgrund einer Vielzahl von integrierten Versorgungsformen, die oft parallel zu DMP liefen, nahezu unerklärlich wäre, „wenn die Ergebnisse überall gleich wären“. Die für ihn wichtige Frage laute deshalb: „Welche Konsequenzen müssen für die Organisation eines adäquaten Versorgungsnetzwerks daraus gezogen werden?“ Als Herausforderung für die Weiterentwicklung der DMP forderte er deshalb mehr Transparenz („Was wird von welcher Krankenkasse wo gemacht und wie wird es umgesetzt?), Handhabbarkeit („Wie bleiben die Versorgungsmodelle in der Arztpraxis handhabbar?“) und die auch von Hess angesprochene Evaluation, wobei hier zudem die Schwierigkeit bestehe, dass oftmals gleichzeitig auf mehrere Komplex-Interventionen – beispielsweise HzV und DMP – abgestellt werden müsse. Doch der Aufwand lohne, denn laut van Lente ist „DMP ein Kooperationsmodell von Kassen und Ärzten, die in einer gemeinsamen Einrichtung zusammenarbeiten“.
Nach Dr. Jörg Gebhardt, der in seinem Vortrag „Miteinander oder Nebeneinander in der Gesundheitsversorgung?“ die Bewertung der DMP aus Sicht des BVA wahrnahm und der eine stärkere Verzahnung von DMP und IV-Verträgen anregte, bieten DMP auch die Chance, Versorgung systematisch, integriert (also z.B. durch integrierte Versorgung), patientenorientiert und multi-professionell zu organisieren. Will heißen: Unter Einbindung möglichst vieler Gesundheitsberufe, denn „Versorgung aus einer Hand“ sei unrealistisch. Das ist auch die Meinung von Univ.-Prof. Dr. Michael Ewers MPH vom Institut für Medizin-, Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft der Charité. Er forderte in seinem Vortrag „Achillesferse neuer Versorgungsformen – Gesundheitsprofessionen zwischen Subordination, Konkurrenz und Kooperation“ ein zunehmend arbeitsteilig angelegtes Versorgungssystem. Abgestimmtes Handeln unterschiedlicher Akteure und die „Einbindung verschiedener Gesundheits- und Sozialprofessionen“ sowie statt eines Nebeneinanders unterschiedlicher gesundheitlicher und sozialer Hilfen sei ein Mehr an Koordination und Kooperation nötig.
Doch dazu müssten erst einmal die Voraussetzungen und Effekte einer teambasierten und multiprofessionell getragenen Gesundheits- und Sozialversorgung erforscht werden. Das ist – im Gegensatz zu den DMP – wirkliche Terra Incognita. <<