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Nationaler Diabetesplan: Die Politik ist am Zug

Vor 23 Jahren erging durch die „St. Vincent Deklaration“ die Aufforderung an alle unterzeichnenden Länder, die Ziele von St. Vincent umzusetzen und dafür nationale Diabetespläne zu erarbeiten. 2002 erfolgte das „Call for Action Statement” der WHO gemeinsam mit der Internationalen Diabetes Federation (IDF), in dem die Regierungen aufgefordert wurden, nationale Programme zur Primärprävention des Diabetes zu entwickeln, was 2007 durch die „Declaration of Diabetes“ (EU-Resolution P6_TA(2006)0185) der EU verstärkt wurde, in der nachdrücklich alle Mitgliedsländer erneut ermahnt wurden, doch endlich nationale Diabetespläne zu entwickeln. Fakt ist, dass ein „Nationaler Diabetesplan“ für Deutschland zwar bisher nicht umgesetzt, aber inzwischen von allen an der Diabetesvorsorgung beteiligten Parteien zumindest konsentiert und auch schon an den Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr herangetragen wurde. Nun liegt es an ihm, diesen Plan anzunehmen und umzusetzen.

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Erstveröffentlichungsdatum: 24.02.2012

Plain-Text

Vor 23 Jahren erging durch die „St. Vincent Deklaration“ die Aufforderung an alle unterzeichnenden Länder, die Ziele von St. Vincent umzusetzen und dafür nationale Diabetespläne zu erarbeiten. 2002 erfolgte das „Call for Action Statement” der WHO gemeinsam mit der Internationalen Diabetes Federation (IDF), in dem die Regierungen aufgefordert wurden, nationale Programme zur Primärprävention des Diabetes zu entwickeln, was 2007 durch die „Declaration of Diabetes“ (EU-Resolution P6_TA(2006)0185) der EU verstärkt wurde, in der nachdrücklich alle Mitgliedsländer erneut ermahnt wurden, doch endlich nationale Diabetespläne zu entwickeln. Fakt ist, dass ein „Nationaler Diabetesplan“ für Deutschland zwar bisher nicht umgesetzt, aber inzwischen von allen an der Diabetesvorsorgung beteiligten Parteien zumindest konsentiert und auch schon an den Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr herangetragen wurde. Nun liegt es an ihm, diesen Plan anzunehmen und umzusetzen.

Ein wichtiger Meilenstein in der Versorgung des Diabetes war sicherlich die St.-Vincent-Deklaration aus dem Jahr 1989. Doch seither ist relativ wenig passiert, auch zehn Jahre später zeigte das Gutachten des Sachverständigenrates Gesundheit (2000/2001) am Beispiel der Volkskrankheit Diabetes noch immer Versorgungsdefizite auf. Und seitdem hat sich wenig daran geändert, wie der Evidence-based Health Policy Review „Diabetes-Versorgung in Deutschland: Anspruch und Wirklichkeit im 21. Jahrhundert“ zeigte, den das IGES-Institut im Auftrag des Pharmaunternehmens Novo Nordisk Pharma durchgeführt hat (siehe MVF 01/12).
Nach Aussagen des Reviews hat zwar die Evaluation der DMP für Menschen mit Diabetes an etlichen Stellen Verbesserungen von Behandlungsprozessen und Surrogat-Parametern (leitliniengemäße Behandlung, Schulungen, Blutdruckmessung, Zielwertkontrolle) gezeigt, doch sehe es bei der Erreichung der ursprünglich verfolgten patientenrelevanten Ziele anders aus. Die seien entweder nicht erreicht worden, oder es seien für deren Erreichung keine validen Daten generiert worden. Insgesamt sei bei allen Hinweisen auf Verbesserung von Surrogat-, Struktur- und Prozessparametern insbesondere darauf hinzuweisen, dass „die Studienlage zu den eigentlich verfolgten, patientenrelevanten Zielen ausgesprochen mangelhaft ist und eine Beurteilung der Zielerreichung kaum vorgenommen werden kann“.
Der Review kommt zu dem Schluss, dass sich daraus vor allem der Handlungsbedarf ableite, eine nationale und kontinuierliche, zielgruppenspezifische Strategie zur lebensstilbezogenen Primärprävention von Diabetes zu entwickeln, die wirksame Ansätze bündelt und verstärkt, ganzheitliche Verhaltens- und Verhältnisprävention beinhaltet und die eine Evaluation vorsieht.
Genau das steht im „Nationalen Diabetesplan“, der nach langen Verhandlungen von allen an der Diabetes-Versorgung beteiligten Parteien unterschrieben wurde. Sogar die DEGAM ließ sich nach nahezu einem dreiviertel Jahr und endlosen Diskussionen dazu bewegen, den Plan zu paraphieren, nachdem minimalste Änderungen durchgesetzt wurden - wie Insider zu berichten wissen.
Wie es dazugekommen ist, ist jedoch nun eigentlich egal. Hauptsache ist, dass mit dem vorliegenden Papier endlich alle an einem Strang ziehen, selbst Hausärzte und Diabetologen gemeinsam agieren, um die Dia-
betesversorgung neu zu denken.
Dafür ist es auch höchste Zeit, wie aktuelle Studien zeigen. Nach den neusten Zahlen der Internationalen Diabetes Föderation (IDF) ist Deutschland das Land mit der höchsten Diabetesprävalenz in Europa: 12 Prozent der 20- bis 79-Jährigen sind betroffen, insgesamt rund 7,5 Millionen. Und es werden jeden Tag mehr: Pro Tag erkranken in Deutschland über 700 Personen neu an Typ-2-Diabetes, was sich pro Jahr auf rund 270.000 Menschen addiert.
„Es wird immer deutlicher, dass das Gesundheitssystem allein die Diabetesepidemie nicht bewältigen kann. Ein großes Indikationsfeld wie Diabetes braucht eine nationale Strategie“, schrieb Prof. Dr. med. Thomas Danne, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE und Präsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, im Gesundheitsbericht „Diabetes 2011“, vorgelegt von diabetesDE zum Weltdiabetestag des letzten Jahres.
Die aktuellsten Zahlen stammen aus der Fortschreibung der KoDiM-Studie, die die Kosten des Diabetes mellitus von 2000 bis 2009 anhand der AOK-Hessen-Versicherten-Daten verfolgt. Unterstellt man einmal, dass die AOK-Population für die Bevölkerung Deutschlands insgesamt repräsentativ ist, verursachten erkannte und behandelte Diabetiker 2009 in Deutschland direkte Krankheitskosten von 47,4 Mrd. Euro, wie Ingrid Köster und Dr. Ingrid Schubert von der PMV Forschungsgruppe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Köln in einem aktuellen Bericht in der DMW (Dtsch. Med. Wochenschr 2012; 137: 1013-1016) schreiben. Dies entspreche, so Köster/Schubert, einem Plus von + 70,4 % gegenüber den 27,8 Mrd. Euro im Jahr 2000. Unterstelle man nun für den Untersuchungszeitraum die Bevölkerungsstruktur Deutschlands zum 31.12.2009, würde die Summe für 2009 48,2 Mrd. Euro betragen gegenüber 32,6 Mrd. Euro für 2000 (+ 47,9 %); und nach wie vor steigt die Zahl der Neuerkrankungen bei Diabetes konstant.
Jüngere Angaben zur Diabetesprävalenz - definiert als administrative Prävalenz (Häufigkeit von Personen mit einer ambulanten oder stationären Behandlung mit der ärztlichen Dokumentation einer Diabetes-Diagnose - finden sich in einem Beitrag von Gerste/Günster im Versorgungs-Report 2012. Danach waren 2008 7,6 Prozent der deutschen Wohnbevölkerung mindestens einmal mit der Diagnose Typ-2-Diabetes in Behandlung (+ 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Unter den Über-60-Jährigen liegt die administrative Prävalenz bei 22,2 Prozent. Datenbasis sind auch hier AOK-Daten, und zwar die Abrechnungsdaten, standardisiert auf die deutsche Wohnbevölkerung.
„Bisher gibt es nur unzureichende Strategien, wie die Pandemie Diabetes aufgehalten werden kann“, steht denn auch im Diabetesplan, der wie das IGES-Review auf fehlende verlässliche Daten zu Prävalenz und Inzidenz der verschiedenen Diabetesformen, ebenso wie auf ein nationales Diabetesregister hinweist. Genau dies wäre zur Planung und Steuerung von gezielten Maßnahmen zur Prävention und besseren Versorgung von Diabetespatienten eine wesentliche Voraussetzung.
Daran wird freilich auch ein auf der Makroebene agierender „Nationaler Diabetesplan Deutschland“ so schnell nichts ändern können. Dessen wichtigster Bestandteil ist nicht so sehr die Verbesserung der aktuellen Versorgungsstruktur, sondern die dringend nötige gesellschaftliche wie politische Hinwendung zur Prävention.
In einem ersten Schritt werden im „Nationalen Diabetesplan“ die wichtigsten fünf Handlungsfelder definiert, die vorrangig in der ersten Umsetzungsphase des Plans - so ihn denn der Bundesgesundheitsminister genehmigt und mit Leben erfüllt - bearbeitet werden sollten:
1) Primäre Prävention des Diabetes
2) Früherkennung des Typ-2-Diabetes
3) Epidemiologie, Aufbau eines nationalen Dia-
betesregisters
4) Versorgungsforschung, Versorgungsstrukturen und Qualitätssicherung
5) Patienteninformation, -schulung und -empowerment

Modell auf der Mikroebene
„Ein wichtiges Handlungsfeld des Diabetesplans soll darin bestehen, Strategien zu entwickeln, wie neben einer verbesserten Prävention, Früherkennung und Versorgung die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes erhöht werden kann“, verdeutlicht Privatdozent Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernhard Kulzer, Geschäftsführer des Forschungsinstitutes der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM) und eine der treibenden Kräfte des Plans.
Die Prävention hat übrigens auch das „European Diabetes Leadership Forum“, das am 25. und 26. April u.a. mit Unterstützung von Novo Nordisk in Kopenhagen stattfand, im Fokus. In der am 4. Juni finalisierten „Copenhagen Roadmap“ wird u.a. empfohlen: „Use a cross-sectoral approach to promote healthy behaviour and create an environment enabling healthy lifestyle.“
Ein solches Modellprojekt, das im Handlungsfeld 4 des Plans anzusiedeln wäre, ist die kürzlich vorgestellte „Versorgungslandschaft Diabetes“ (siehe „Monitor Versorgungsforschung“ 3/2012), ein auf viele Indikationen übertragbares Stratifizierungscluster, auf dem sektoren- und berufsgruppenübergreifende Versorgungslösungen aufgesetzt und in Selektivverträge (§ 140a ff. und § 73c SGB V) eingebracht werden können. Basis dieses Modellprojekts sind jeweils IV-Verträge, die mit einzelnen Kassen abgeschlossen werden (die ersten Verhandlungen zu Diabetes laufen mit der TK) und jeweils drei Versorgungsebenen - hier die für Diabetes - einschließen:
• Ebene 1: HzV-Hausarzt (zugelassener HzV-Hausarzt mit Sitz im KV-Bezirk)
• Ebene 2: Diabetologische Schwerpunkteinrichtung (DSP)
• Ebene 3: Krankenhaus (stationär)
Ein Instrument dieses Modells könnte wiederum ein patientenzentrierter und praxisorientierter Leitfaden werden, den eine Expertengruppe um Priv.-Doz. Dr. med. Erhard Siegel, noch stellvertretender Vorsitzender und nächster Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) entwickelt hat. Auf Basis eines nur auf den ersten Blick einfachen Ampelsystems sollen ganz gezielt Hausärzte befähigt werden, Teststreifen nur noch dann zu verordnen, wenn sie denn auch Sinn machen.
„Es gibt viele Patienten, die jeden Tag Teststreifen benutzen und ihren Blutzucker messen“, erklärt Diabetologe Siegel, der auch weiß, wie es nur allzu oft weitergeht: „Diese Patienten kommen mit einem Wert von 180 in die Praxis, der dokumentiert dem Arzt vorgelegt wird.“ Danach seien beide zufrieden, weil der Patient nichts ändern und der Arzt wenig reden muss. Siegel: „Es macht keinen Sinn, einem solchen Patienten Teststreifen zu verordnen, weil Blutzuckermessung ohne Konsequenz sinnlos ist.“ Die Kernfragen lauteten daher erstens, welche Patienten überhaupt Teststreifen brauchen und zweitens wie viele davon? Die dazu nötige Risikostratifizierung müsse dann langfristig in eine Vertragsstruktur eingebunden werden, um die dadurch möglichen Effizienzgewinne auch wirklich heben zu können (siehe MVF 03/12).

Neue Leitlinien wohl erst bis Ende 2012
Ebenfalls in das Kapitel 4 dürfte die Weiterentwicklung der Diabetes-Leitlinien fallen, die seit längerem zwischen den Fachgesellschaften diskutiert wird.
Die Europäer und Amerikaner sind zumindest seit kurzem so weit: Am 19. April 2012 erschien eine neue Leitlinie zur Behandlung des Typ-2-Diabetes, gemeinsam herausgegeben von der Europäischen (EASD) und der US-amerikanischen Diabetesgesellschaft ADA. „Im Unterschied zur bisherigen Leitlinie der beiden Gesellschaften und auch zu vielen anderen Leitlinien von (Anm. der Red: auch der deutschen) Fachgesellschaften macht diese deutlich weniger genaue Vorschriften und Empfehlungen zu den Therapiezielen und Medikamenten in Form von Algorithmen“, verdeutlicht Prof. Dr. med. Dr. h. c. Helmut Schatz, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Vielmehr rücke die neue Leitlinie den „individuellen Patienten in den Mittelpunkt“.
So legt die neue Leitlinie das Therapieziel - definiert als Zielwert des HbA1c - nicht mehr mit einer starren Zahl, zum Beispiel 6,5 Prozent oder 7 Prozent, fest, sondern solle es für jeden einzelnen Patienten individuell bestimmt werden: Ein älterer Mensch mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen etwa und lange bestehendem Diabetes wird damit weniger streng einzustellen sein als ein junger Diabetespatient.
Als erste Therapiemaßnahme nach der Dia-
gnose eines Typ-2-Diabetes empfiehlt die Leitlinie erneut allein Lebensstiländerungen wie Ernährungsumstellung und Bewegung, verbunden mit intensiver Schulung. Eine sofortige Gabe von Tabletten sieht sie dagegen nicht vor. Erst wenn sich die „nicht-pharmakologische“ Therapie als unwirksam erweise, seien Tabletten indiziert. Hier stehe an erster Stelle nach wie vor möglichst Metformin, erklärt Prof. Schatz, Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bergmannsheil der Ruhr-Universität in Bochum: „Was im nächsten Schritt gegeben werden soll, ist derzeit schwer zu entscheiden, da es für die Kombinationstherapien kaum Outcome-Studien gibt.“
Da hat er leider recht, selbst wenn Boehringer-Ingelheim in Kooperation mit Eli Lilly bereits 2010 die „CAROLINA“-Studie* gestartet hat, um Head-to-head Lina-gliptin+Metformin versus SU+Metformin zu untersuchen. Da die Studie jedoch Ereignis-getrieben ist, wird es wohl 2018 werden, bis erste belastbare Ergebnisse vorliegen. Aus Studien wie diesen könnten dann Aussagen getroffen werden, unter welcher Arzneimittel-Kombination z.B. der Patient länger (über)-lebt oder weniger Herzinfarkte auftreten.
In Deutschland wird zur Zeit unter Mitwirkung der DDG eine Aktualisierung der Nationalen Versorgungsleitlinie zum Thema „Therapieplanung bei Typ-2-Diabetes“ erstellt, wie Prof. Dr. med. Monika Kellerer, Leitlinienbeauftragte des DDG-Vorstands, erklärt. Sie geht davon aus, dass auch in dieser neuen „Natio-
nalen Versorgungsleitlinie“ (NVL) die individuelle Diabetestherapie mehr als bisher in den Vordergrund rückt.
In einer offiziellen Stellungnahme vom Mai hebt sie hervor, dass sich die Autoren der ADA/EASD-Leitlinie von starren HbA1c-Zielwerten abgewendet und eine patientenorientierte Sicht unter Berücksichtigung von individualisierten Therapiezielen und Strategien in den Mittelpunkt gestellt hätten. Dies entspreche auch dem aktuellen Verständnis der DDG zum therapeutischen Vorgehen bei Typ-2 Diabetes.Nach ihrem Kenntnisstand sollte die Aktua-
lisierung der NVL bis Ende des Jahres abgeschlossen sein und damit dann die derzeitige Therapieleitlinie der DDG ersetzen. <<