>> In den Gutachten der Jahre 2007 und 2009 hat sich der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) ausführlich mit den Inhalten der so genannten „besonderen Versorgungsformen“ auseinandergesetzt. Diese Versorgungsformen umfassen die Strukturverträge nach §73a, die Modellvorhaben nach §§63-65, die Hausarztzentrierte Versorgung nach §73b, die besondere ambulante Versorgung nach §73c, die Integrierte Versorgung nach §140a-d sowie die strukturierten Behandlungsprogramme nach §137f-g (alle SGB V 1). Sie werden in ihrer transsektoralen beziehungsweise steuernden Komponente durch die Medizinischen Versorgungszentren nach §95, die Praxiskliniken nach §115 sowie durch Pay for Performance Programme nach §136 Abs. 4 SGB V ergänzt und sind in wechselndem Umfang durch Merkmale gekennzeichnet, wie sie sich auch in Managed Care Programmen z.B. in den Vereinigten Staaten wieder finden (Übersicht siehe SVR-Sondergutachten 2009, Nr. 380) - insbesondere interdisziplinäre und sektorübergreifende Orientierung, besondere finanzielle Anreize und Capitation. Die Modellvorhaben und die strukturierten Behandungsprogramme erlauben darüber hinaus ein selektives Kontrahieren: Bei der hausarztzentrierten Versorgung, der besonderen ambulanten Versorgung und der integrierten Versorgung ist das selektive Kontrahieren außerdem mit einer Einschränkung des Sicherstellungsauftrages der Kassenärztlichen Vereinigung kombiniert.
Diese zunehmende Bedeutung der transsektoralen Perspektive und des Wettbewerbs der Leistungsanbieter ist seit Inkrafttreten des GKV-WSG mit dem Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss verbunden, die Leistungsanbieter-bezogene Qualitätssicherung um einen transsektoralen Ansatz zu ergänzen (§137). In Zusammenarbeit mit der unabhängigen Institution nach §137a, mittlerweile übernommen durch das AQUA-Institut, sollen „möglichst sektorübergreifend abgestimmte Indikatoren“ entwickelt werden, um die „Versorgungsqualität in allen Versorgungsbereichen“ messen und darstellen zu können. Die entsprechenden Richtlinien des G-BA befinden sich in der Abstimmung.
Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Initiativen und Entwicklungen möchten die Autoren jedoch auf einen dringenden Handlungsbedarf hinweisen, der sich in den zurückliegenden Monaten im Hinblick auf zunehmende Bedeutung der Selektivverträge und der populationsbezogenen Versorgung ergeben hat. Die neuen besonderen Versorgungsformen, vor allem die hausarztzentrierte Versorgung und die besondere ambulante Versorgung sind nicht in die Qualitätssicherung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen nach §135a in Verbindung mit §137 SGB V mit einbezogen. Zwar besteht die Verpflichtung, die personellen und sächlichen Qualitätsanforderungen, die vom gemeinsamen Bundesausschuss sowie in den Bundesmantelverträgen geregelt sind, einzuhalten (§73c Abs. 1 Satz 3 sowie indirekt §140b Abs. 4 Satz 1) oder zu übertreffen (§73b Abs. 2), konkrete Vorgaben dazu, wie die Umsetzung dieser Vorgabe zu gewährleisten ist, fehlen aber völlig. Hinzu kommt, dass Verträge mit Populations- bzw. Versicherten-Bezug, die entweder nach §73b, nach §73c oder nach §140a abgeschlossen werden, hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung nicht sinnvoll durch Leistungserbringer-bezogene Qualitätsindikatoren beschrieben werden können, da diese sektoralen Indikatoren sich auf die einzelnen Institutionen beziehen und nicht auf die Gesamtversorgung einer Versichertenpopulation (s. SVR Gutachten 2007, Nr. 501). Auch transsektorale Indikatoren, die erkrankungsbezogen die punktuelle sektorübergreifende Zusammenarbeit kooperierender Einrichtungen betreffen, sind keine Lösung für die Frage, wie sich die Qualität der Versorgung entwickelt, wenn Versichertenpopulationen von Gruppen von Leistungsanbietern unter Maßgabe einer kontaktunabhängigen Pauschale (Capitation) versorgt werden (s. systematischer Review zu Managed Care und Qualität des SVR, Sondergutachten 2009, Nr. 988 ff.), so wie es sektorbezogen in den Hausarztverträgen oder populationsbezogen in den Integrationsverträgen vom Typ Kinzigtal der Fall ist.
Natürlich ist zu konzidieren, dass der primäre Ansatz eine qualitätssteigernde Absicht verfolgt, sei es durch die Verbesserung der Koordination im Sinne des Gatekeeping (Hausarztverträge) oder sei es durch die gemeinsame finanzielle Verantwortung für die möglichst effiziente sektorübergreifende Versorgung (populationsbezogene integrierte Versorgung). Wenn jedoch für Verträge mit Capitation-Ansatz, bei denen eine prospektive Pauschale für eingeschriebene Patienten gezahlt wird, keine Qualitätssicherung betrieben wird, die neben der Perspektive der Qualität der einzelnen Leistungserbringer auch die Perspektive der Qualität der Versorgung der Versicherten bzw. eingeschriebenen Population im Auge hat, gleicht dies einem Blindflug mit ungewissem Ausgang. Wenig nachvollziehbar erscheint auch, wenn für die gleichen Leistungserbringer im Kollektivvertrag der Nachweis von Qualitätssicherungsmaßnahmen in hoher Regelungstiefe gefordert wird, in den selektiven Vertragsformen aber keine weiteren Bestimmungen über die prinzipielle Verpflichtung hinaus getroffen werden.
Der Sachverständigenrat hat hierzu einen umfangreichen Systematischen Review angefertigt, der auf der Basis von knapp 11.000 Literaturhinweisen 107 kontrollierte Studien identifiziert hat, die die Auswirkungen einer populationsbezogenen Versorgung mit Capitation (Managed Care) auf die Qualität der Versorgung beschreiben (SVR Sondergutachten 2009, Nr. 991 ff). Bei 6 Studien handelte es sich um randomisierte Studien, bei 5 Studien um ein quasi-experimentelles Design, der Hauptteil der Studien waren vergleichende Kohortenstudien. Die Studien sind in den USA zwischen den Jahren 1979 und 2007 durchgeführt worden, mit einem Häufigkeitsgipfel in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, zu einem Zeitpunkt, an dem sich Managed Care in den USA starker Kritik ausgesetzt sah. Das Ergebnis auf die Qualität war ausgewogen: 18 Studien zeigten eine positive Auswirkung auf die Qualität, 17 Studien negative Ergebnisse. Unter dem Strich ist folglich die Gefahr eines negativen Einflusses von populationsbezogenen Capitation-Verträgen auf die Qualität der Versorgung nicht von der Hand zu weisen, auch wenn es mengenmäßig genauso viele Studien gibt, die positive Effekte zeigen. Zu beachten ist auch, dass die Konstellationen, wie sie in den USA untersucht wurden, nicht ohne weiteres auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen werden können, sondern allenfalls Hinweise auf die Potenziale, aber auch Gefahren bestimmter Versorgungsmodelle liefern. Die Heterogenität der Ergebnisse legt darüber hinaus den Schluss nahe, dass es stark auf die jeweilige Ausgestaltung des Versorgungsmodells ankommt. Da diese wiederum von den institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt, ist mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit und Versorgungssicherheit in Deutschland zu fordern, dass der Gesetzgeber hier besondere Sorgfalt walten lässt.
Vor diesem Hintergrund ist unbedingt zu fordern, dass rasch adäquate Instrumente entwickelt werden, die die Entwicklung von populationsbezogenen Verträgen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Qualität der Versorgung evaluieren, insbesondere da eine wissenschaftliche Evaluation ausschließlich für die Modellvorhaben und die strukturierten Behandlungsprogramme vorgeschrieben ist. In der Folge ist ebenfalls die Frage zu diskutieren, wer - in Abstimmung mit der Zuständigkeit des G-BA - auf Landesebene die Qualitätssicherung tragen, für die „Qualitätssicherung der Qualitätssicherung“ zuständig sein und eventuell sinnvolle Vergütungsanreize in Anwendung bringen soll. Zu berücksichtigen sind hier insbesondere Selektivverträge unter Aufhebung des Sicherstellungsauftrages der Kassenärztlichen Vereinigungen, kleinräumige Verträge mit eigener Rechtsstellung und Verträge mit bundesland-übergreifendem Einzugsgebiet.
Von entscheidender Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang die Zeitachse, wenn vermieden werden soll, dass die spontane Entwicklung erst zu spürbaren Qualitätsverlusten führt, die populationsbezogene Verträge und sinnvolle Ansätze, die mit einer dringend notwendigen Verbesserung der sektorübergreifenden Versorgung einhergehen, in schlechtem Licht erscheinen lassen. Eine Diskussion um Vorenthaltung von Leistungen, Unterversorgung und Benachteiligung chronisch und multipel Erkrankter wie in den USA in den 90er Jahren sollte uns erspart bleiben. <<