Patientenorientierung als Zukunftsthema bei der Rehabilitation der Mundgesundheit
Zahnmedizinische Behandlungen wurden über viele Jahre zumeist über Veränderungen von klinischen Befunden bewertet. So stellt die Überlebenszeit von Zahnersatz einen der wichtigsten Erfolgsparameter bei prothetisch-zahnmedizinischen Therapien dar (Lang et al. 2004; Pjetursson et al. 2004a; b; Tan et al. 2004). Weitere klinisch-technische Erfolgsparameter sind ein geringer Randspalt einer Restauration, die optimale Retention von abnehmbaren Zahnersatz (Teilprothesen) und eine adäquate Funktion hinsichtlich Phonation und Mastikation. Gleichzeitig kann eine Bewertung des biologischen Status (Schmerzen, Karies, Parodontitis, Zahnverlust) zur Darstellung der Mundgesundheit und zur Bestimmung von Behandlungsbedarf sowie von Effekten zahnmedizinischer Therapien genutzt werden. Diese Parameter sind in zahlreichen klinischen Studien untersucht und erlauben bei den meisten Patienten klinisch gut vorhersagbare Therapieergebnisse (Creugers et al. 2005; Fokkinga et al. 2007; Heydecke und Peters 2002; Kreissl et al. 2007; Priest 1996; Walter et al. 2010; Wostmann et al. 2005).
>> Eine Verbesserung klinischer Symptome und funktioneller Aspekte ist aber nicht prinzipiell mit einem Behandlungserfolg gleichzusetzten (Celebic et al. 2003; Chamberlain et al. 1984). Trotz einer als klinisch erfolgreich bewerteten Behandlung korreliert diese Bewertung häufig nicht mit der subjektiven Einschätzung der Patienten (Marachlioglou et al. 2010). Diese Diskrepanz zwischen objektiver Bewertung (durch Behandler) und subjektiver Einschätzung (durch Patienten) basiert auf Unterschieden in den Kriterien, die für die Evaluation des Behandlungsergebnisses herangezogen werden. Während Behandler den Erfolg einer Behandlung mittels der oben genannten Kriterien bewerten, sind diese für Patienten zumindest zum Teil von nur untergeordneter Bedeutung oder werden nicht primär sondern über die Folgen der komplexen Interaktionen bewertet. Wesentlich bedeutender bei Patienten sind funktionelle, psychische und soziale Veränderungen. Daher spricht man vom einem biopsychosozialen (Krankheits-)Modell, welches allen relevanten Aspekten aus Sicht von sowohl Behandlern als auch Patienten gerecht wird.
Ein biopsychosoziales Verständnis von Krankheit berücksichtigt besonders, dass Schmerzen oft mit psychosozialen Beeinträchtigungen einhergehen (Von Korff et al. 1992). Des Weiteren wird es der Tatsache gerecht, dass es sich beim Verlust von Zähnen, einer der zentralen Behandlungsindikationen in der restaurativen Zahnmedizin, um einen Strukturverlust handelt, der aktuell (noch) nicht im Sinne einer restitutio ad integrum komplett wiederhergestellt werden kann. Vielmehr wird, wie bei allen chronischen Krankheiten, ein Defekt bestehen bleiben (World Health Organization 2001). Die Behandlung ist nicht kausal sondern symptomatisch. Sie zielt auf eine umfassende funktionelle, psychische und soziale Rehabilitation der Patienten. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Perspektive der Patienten bei der Bewertung der Mundgesundheit und der Evaluation von Therapieergebnissen besonders an Bedeutung.
Patientenbasierte Zielgrößen
in der Zahnmedizin
Patientenorientierung bezieht sich in der Zahnmedizin zumeist auf die Einbindung von patientenbasierten Zielgrößen in klinischen Studien. Zwei Konzepte von patientenbasierten Zielgrößen können in der Zahnmedizin unterschieden werden. Mittels Zufriedenheit werden Ergebnisse zahnmedizinischer Therapien oder der Behandlungen an sich in Bezug auf die Erwartungshaltung der Patienten bewertet. Das Konzept Lebensqualität erfasst die Ausprägung von funktionellen Möglichkeiten, psychosozialen Aspekten und Schmerzen, die durch Probleme im Mundbereich beeinflusst werden.
Zufriedenheit
Das Einsatzgebiet für Zufriedenheitsmessungen entstammt primär der Qualitätsanalyse. Dabei sind 3 grundsätzliche Bereiche zu unterscheiden (Donabedian 1988). Als Strukturqualität werden Bewertungen von strukturellen Voraussetzungen medizinscher Versorgungen erfasst. Unter Prozessqualität bewertet man Abläufe konkreter (zahn-)medizinischer Interventionen. Ergebnisse dieser Interventionen werden mittels Ergebnisqualität erfasst.
Anfangs wurde Zufriedenheit der Patienten primär in Bezug auf Strukturen der zahnmedizinischen Behandlung (z.B. Erreichbarkeit des Arztes, Öffnungszeiten, Kosten und Erstattung, Ambiente, technische und menschliche Qualität der Behandlung) erhoben (Davies und Ware 1981; Hengst und Roghmann 1978; Heydecke 2002a; Ware et al. 1983). Aktuellere Untersuchungen fokussieren sich vermehrt auf die Bestimmung der Zufriedenheit mit Behandlungsergebnissen (Awad und Feine 1998; Heydecke et al. 2008). Im Rahmen der immer größer werdenden Bedeutung von Qualitätsmanagement in der Zahnmedizin wird das subjektive Empfinden der Patienten während zahnärztlicher Behandlungen zunehmend als Indikator für Prozessqualität angesehen.
Eine wesentliche Limitation des Konzeptes Patientenzufriedenheit ist die nur unzureichende Untermauerung durch eine theoretische Definition. Daher wird in der Zahnmedizin weitaus häufiger das Konzept Lebensqualität als patientenbasierte Zielgröße eingesetzt.
Lebensqualität
Das Konzept Lebensqualität wurde ursprünglich in der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrts- und Sozialindikatorenforschung entwickelt (Zapf 1984). Entgegen dem sehr umfangreichen Konzept der allgemeinen Lebensqualität beschränkt sich das Konzept Lebensqualität in der Medizin auf die Erfassung subjektiver Indikatoren der Gesundheit (Heydecke 2002b).
Das in der Zahnmedizin am häufigsten verwendete Konzept der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität basiert auf dem Modell der Mundgesundheit von Locker aus dem Jahre 1988 (Locker 1988). Entsprechend der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen der Weltgesundheitsorganisation stellt das Modell eine kontinuierliche Kette von der Erkrankung über Funktionseinschränkungen und psychische Beeinträchtigung bis hin zu sozialer Benachteiligung dar (World Health Organization 2001).
Bei der Bestimmung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität hat sich das 1994 von Slade und Spencer entwickelte Oral Health Impact Profile (OHIP) durchgesetzt (Slade und Spencer 1994; Slade 1997). Das OHIP basiert auf dem konzeptionellen Modell von Locker (Locker 1988). Entsprechend dieses Modells erfassen die Fragen des OHIP nur negative Aspekte von Gesundheit (höhere Werte stehen für eine schlechtere Lebensqualität). Auch wenn die faktorielle Struktur (Dimensionen) des OHIP nicht abschließend geklärt ist (John 2007) und weitere konzeptionelle Kritikpunkte bestehen (Kieffer et al. 2009), stellt das OHIP in der Zahnmedizin den Goldstandard zur Bestimmung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität dar. Das OHIP ist validiert und in mindestens 20 Übersetzungen verfügbar (z.B. John et al. 2002; Larsson et al. 2004; Pires et al. 2006; Szentpetery et al. 2006; Wong et al. 2002; Yamazaki et al. 2007).
Zu patientenorientierten Zielgrößen sind aktuell zwei wissenschaftliche Themenbereiche in der Zahnmedizin relevant: Klinischen Untersuchungen zur Beeinträchtigung durch Krankheiten und zu Effekten der Therapien stehen methodische Untersuchungen zu Messinstrumenten der Lebensqualität gegenüber.
Klinische Untersuchungen zur Mundgesundheit
Die klinischen Studien bestimmen die Auswirkungen von verschiedenen oralen Erkrankungen (Tabelle 1) auf die Lebensqualität der Patienten, vergleichen Krankheitseffekte und bestimmen Auswirkungen zahnmedizinischer Therapien auf patientenbezogene Zielgrößen.
Im Folgenden sollen ausgewählte Studien zu diesen Fragestellungen vorgestellt werden.
Auswirkung von Krankheiten
und Beeinträchtigungen
Zahnmedizin beschäftigt sich nicht „nur“ mit Zähnen, Mundschleimhaut und zahntragendem Knochen, sondern auch mit der Kaumuskulatur und den Kiefergelenken (Tabelle 1). Erkrankungen, welche die Kaumuskulatur und die Kiefergelenke betreffen, werden unter dem Begriff kraniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) zusammengefasst (Okeson 1996). Die wesentlichen Symptome von CMD sind Schmerzen in den genannten Regionen, Einschränkung der Unterkieferbeweglichkeit und Kiefergelenkgeräusche während Unterkieferbewegungen. In der erwachsenen Allgemeinbevölkerung stellen schmerzhafte CMD mit einer Prävalenz von etwa 10 % ein wesentliches Public-Health-Problem dar (LeResche 2001). Die Schmerzen und funktionellen Einschränkungen lassen eine starke negative Auswirkung von CMD auf die Lebensqualität der Patienten erwarten.
In einer aktuellen Untersuchung wurde mittels des OHIP die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität von konsekutiv rekrutierten Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen von CMD (N=416) mit Personen aus einer Zufallsstichprobe der Allgemeinbevölkerung (N=2026) verglichen (John et al. 2007b). Die Patienten wurden nach einem validierten und international verbreiteten Diagnoseschema - den Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) - untersucht (Dworkin und LeResche 1992; John et al. 2006). Es konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einer CMD-Diagnose eine deutlich eingeschränktere Lebensqualität aufwiesen, als es bei Personen aus der Allgemeinbevölkerung der Fall war. Des Weiteren zeigten sich unterschiedliche Einflüsse von CMD auf die Lebensqualität in Abhängigkeit von der spezifischen Diagnose (Abb. 1).
Diese Unterschiede werden besonders augenscheinlich, wenn man den spezifischen Einfluss von einer oder mehreren CMD-Diagnosen bestimmt (Reissmann et al. 2007). Dazu wurden die OHIP-Werte von Personen aus der Allgemeinbevölkerung ohne CMD-Diagnose von den Werten von CMD-Patienten abgezogen. Es wurde die Differenz des OHIP-Summenwertes bestimmt, die nur durch die CMD-Diagnose hervorgerufen wurde. Schmerzassoziierten CMD-Diagnosen (Gruppe I und Gruppe III) führten im Vergleich zu schmerzfreien CMD-Diagnosen (Gruppe II) zu einer stärkeren Einschränkung der Lebensqualität (Abbildung 2). Ab zwei gleichzeitig vorliegenden CMD-Diagnosen lag die Beeinträchtigung auf dem Niveau von einer schmerzbezogenen Diagnose. Eine dritte Diagnose führte nicht einer weiteren Verschlechterung der Lebensqualität (Abbildung 2). Der Wert von knapp 40 OHIP-Punkten stellt somit die maximal zu erwartende Beeinträchtigung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität durch CMD dar (Abb. 2).
Vergleich von Krankheiten
Ein weiteres Einsatzgebiet für Instrumente zur Bestimmung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität stellt der Vergleich der Auswirkungen verschiedener Erkrankungen dar. Dabei besteht die Möglichkeit, nicht nur an Hand von Summenwerten die komplette Beeinträchtigung der Patienten zu bestimmen, es sind auch differenziertere Betrachtungen auf Ebene der Lebensqualitätsdimensionen oder der einzelnen Aspekte der Lebensqualität möglich.
Beim Vergleich der Antworten auf die 14 Fragen einer Kurzversion des OHIP von Personen der Allgemeinbevölkerung mit Patienten mit kraniomandibulären Dysfunktionen (CMD) und Patienten mit Zahnbehandlungsangst zeigte sich eine deutlich eingeschränktere Lebensqualität der beiden Patientenkollektive (Schierz et al. 2008). In Bezug auf funktionelle Einschränkungen und Schmerzen bestanden zwischen CMD-Patienten und Patienten mit Zahnbehandlungsangst kaum Unterschiede (Abb. 3).
Dem gegenüber wiesen Patienten mit Zahnbehandlungsangst vor allem bei psychosozialen Aspekten deutlich höhere Werte als Patienten mit CMD auf (Abb. 3). Diese Betrachtungsweise der (eingeschränkten) Lebensqualität der Patienten erlaubt eine genauere Beurteilung und ein besseres Verständnis der Patientenperspektive. Dies ist wichtig für die Diagnostik und die Planung einer individuellen Therapie.
Effekte zahnmedizinischer Therapien
Neben der Auswirkung oraler Erkrankungen auf die Lebensqualität gilt ein besonderes Augenmerk der Verringerung der Beeinträchtigungen und damit der Verbesserung der Lebensqualität der Patienten durch zahnmedizinische Therapien. Mehrere Studien konnten für Therapien mit Zahnersatz eine (zumindest kurzfristige) Erhöhung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität nachweisen (Heydecke et al. 2003; John et al. 2004; Nickenig et al. 2008).
Die Verbesserungen der Lebensqualität sind zum Teil so groß, dass sie sich auch mittels einer einzelne globalen Frage nach der Selbsteinschätzung der Mundgesundheit mit 5 Antwortkategorien (von „schlecht“ bis „ausgezeichnet“) nachweisen lassen (John et al. 2007a; Reißmann et al. 2006). Bei etwa einem Drittel der Patienten kam es in dieser Studie zu einer Verbesserung der Selbsteinschätzung. Aber nicht nur die wahrgenommene Mundgesundheit der Patienten wird beeinflusst, es kann auch zu einer Verbesserung der Selbsteinschätzung der allgemeinen Gesundheit der Patienten kommen (Reissmann et al. 2011b). Während es bei 15,4 % der Patienten zu einer Verschlechterung der Selbsteinschätzung kam, wurde von 22,2 % eine Verbesserung angegeben. Zieht man normale Fluktuationen durch äußere Einflüsse und Messfehler in Betracht, dann kam es zu einem Nettoeffekt von 6,8 % Verbesserung (p < 0,05). Damit kann ein direkter (positiver) Effekt der Zahnmedizin auf die Selbstwahrnehmung der Allgemeingesundheit nachgewiesen werden. Dies unterstreicht die Bedeutung der Zahnmedizin für die Gesundheitswahrnehmung der Patienten.
Langfristige Untersuchungen zu zahnmedizinischen Therapieeffekten sind bisher selten. Eine Untersuchung bei prothetischen Patienten über einen Nachkontrollzeitraum von bis zu zwei Jahren konnte auch den mittelfristigen positiven Effekt der prothetischen Therapie auf die Lebensqualität der Patienten nachweisen (Reißmann et al. 2008). Trotz einiger Fluktuationen im Beobachtungszeitraum bestand der initiale Therapieeffekt des Zahnersatzes auch noch nach zwei Jahren (Abb. 4).
Bei differenzierter Betrachtung der Therapieeffekte entsprechend der prothetischen Behandlungen (festsitzender Zahnersatz, abnehmbarer Zahnersatz, Totalprothesen) zeigten sich wesentliche Unterschiede im Ausmaß und Zeitraum der nachweisbaren Veränderungen (Abb. 5). Die Verschlechterung der Lebensqualität bei Patienten mit Totalprothesen nach sechs Monaten war ein Messartefakt auf Grund der sehr geringen Anzahl (N=14) von Patienten in dieser Gruppe. Die Lebensqualität war am Ende der 2-Jahres-Periode im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Therapie immer noch bei 62,7 % aller Patienten verbessert (p < 0,01). Es lässt sich schlussfolgern, dass umfangreiche prothetische Therapien die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität wesentlich über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren verbessern (Abb. 5).
Methodische Untersuchungen zu
Messinstrumenten
Vergleichbarkeit von Studienergebnissen
Ein wesentliches Kriterium bei der Bewertung von Messinstrumenten der Lebensqualität wurde vom Medical Outcome Trust als Vergleichbarkeit alternativer Erhebungsformen definiert (Scientific Advisory Committee of the Medical Outcomes Trust 2002). Nur dies kann sicherstellen, dass Ergebnisse verschiedener Studien, in denen die Daten mit verschiedenen Methoden erhoben wurden, verglichen werden können.
In einer aktuellen Untersuchung (Reissmann et al. 2011a) zu dieser Fragestellung bei prothetischen Patienten unter Nutzung der deutschen Version des OHIP (John et al. 2002; Slade 1997) konnte festgestellt werden, dass die Informationen, welche mit verschiedenen Methoden (persönliches Interview, Telefoninterview, selbst ausgefüllter Fragebogen) erhoben wurden, fast identisch sind (Reliabilität: ICC=0,90; 95 % Konfidenzintervall=0,85-0,95). Der Anteil der Gesamtvarianz, welche durch den Erhebungsmodus erklärt wurde, betrug lediglich 0,5 %. Damit konnte belegt werden, dass der Erhebungsmodus keinen wesentlichen Einfluss auf OHIP-Werte bei prothetischen Patienten hat.
Bestimmung von Behandlungseffekten - Retest-Effekte
Ein wesentliches Element bei der Verwendung von patientenorientierten Zielgrößen ist deren Fähigkeit, den Einfluss von Interventionen durch die Bestimmung von Differenzen aus Messungen vor und nach Therapie ermitteln zu können. Diese Differenzen werden als Maß der Therapieeffekte angesehen. Eine Grundvoraussetzung dabei ist, dass beide Messungen unabhängig von einander sind, d.h. die zweite Messung wird nicht durch Ergebnisse der ersten Messung beeinflusst (z.B. durch Gedächtnis) (McKelvie 1992). Solche Retest-Effekte würden sonst die Bestimmung von kurzfristigen Therapieeffekten und akuten Problemen deutlich erschweren und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Messpunkten verkleinern (Ormel et al. 1989; Pevalin 2000).
Eine aktuelle Untersuchung operationalisierte Retest-Effekte als Unterschiede in Reliabilitätskoeffizienten zwischen unterschiedlich langen Zeiträumen zwischen Erhebungszeitpunkten und als Einfluss der Zeitabstände zwischen zwei Messungen auf die Differenz der dazugehörigen Reliabilitätskoeffizienten (John et al. 2008). Dazu wurde bei 21 Patienten der OHIP zweimal an einem Tag im Abstand von 1 bis 2 Stunden und des Weiteren noch einmal nach 3 bis 78 Tagen erhoben. Die Differenz des Reliabilitätskoeffizienten für die beiden Messungen am gleichen Tag und des Koeffizienten für die Messungen an zwei unterschiedlichen Tagen war klein (∆rho=0,08; p=0,02). Der Einfluss der Zeit zwischen zwei Messungen auf die Reliabilitätskoeffizienten war gering und nicht statistisch signifikant (Regressionskoeffizient für 1 Tag: -0,04; 95% CI: -0,29 - 0,21; R2 und adjustiertes R2 < 0,01). Diese Resultate belegen, dass auch wiederholte Messungen von mundgesundheitsbezogener Lebensqualität über kurze Zeiträume bei sich schnell ändernder Mundgesundheit zu einer validen Veränderungsbestimmung führen. Dies erweitert das Einsatzgebiet des OHIP erheblich.
Bestimmung von Behandlungseffekten - Response Shift
Patienten können im Laufe einer Behandlung die eigenen Konzepte von Lebensqualität und die internen Standards ändern. Dieser Veränderung der Bestimmungsgrundlagen wird als Response Shift bezeichnet. Die klinische Bedeutung dieses Phänomens konnte bisher weder von der Richtung des Effekts noch vom Umfang abschießend bestimmt werden (Schwartz et al. 2006). Eine erste Untersuchung bei zahnlosen Patienten kam zu der Schlussfolgerung, dass Response Shift zu einer Maskierung von Behandlungseffekten von neuen Totalprothesen auf die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten führte (Ring et al. 2005).
Eine Studie bei einer konsekutiv rekrutierten Stichprobe von 126 Patienten mit prothetischem Behandlungsbedarf bestimmte den Response Shift des OHIP (Reißmann et al. 2010). Die Anwendung des OHIP erfolgte unmittelbar vor der Therapie und wenige Wochen nach Abschluss der Therapie. Als die Patienten ihre Lebensqualität nach der Behandlung einschätzten, wurden sie gebeten, ihre Lebensqualität vor der Therapie nochmals (retrospektiv) einzuschätzen, ohne Zugang zu den Ausgangsdaten zu haben. Der Unterschied in den ermittelten Therapieeffekten zwischen prospektiver und retrospektiver Betrachtung betrug 6,3 OHIP Punkte (p < 0,001). Entsprechend der Definition von Cohen (Cohen 1988) ist die Effektgröße aber nur als klein zu betrachten. Auch wenn es aktuell noch nicht bekannt ist, ob die prospektive oder die retrospektive Bestimmung von Veränderungen der MLQ valider ist, scheinen die vom Patienten wahrgenommenen Behandlungseffekte größer als bisher angenommen.
Bestimmung von Behandlungseffekten - minimal wahrnehmbare Differenz
Die Beurteilung von Veränderungen der Lebensqualität setzt voraus, dass bekannt ist, welche Veränderung der Lebensqualität vom Patienten wahrgenommen wird. Diesen Wert der Veränderung bezeichnet man als minimal wahrnehmbare Differenz (Minimal Important Difference; MID). Die MID ist definiert als die kleinste Veränderung in einer Zielgröße, die vom Patienten als vorteilhaft wahrgenommen wird und welche bei der Abwesenheit von unerwünschten Nebenwirkungen und übermäßigen Kosten zu einer Veränderung der Patientenversorgung führt (Jaeschke et al. 1989). Eine Übersichtsarbeit zu diversen Instrumenten zur Erfassung von patientenbezogenen Zielgrößen fand heraus, dass die MID mit der halben Standardabweichung des Unterschieds (Effektgröße von 0,5) übereinstimmen würde (Norman et al. 2003).
In einer Studie wurde die MID des OHIP mittels der Übereinstimmung mit einer globalen Veränderungsfrage bestimmt (John et al. 2009). Zusätzlich zu der prospektiven Anwendung des OHIP wurden die Patienten im Anschluss an die prothetische Therapie gebeten, eine umfassende Einschätzung der Veränderung der Lebensqualität anzugeben (Antwortkategorien: „stark verbessert“, „etwas verbessert“, „gleichgeblieben“, „etwas verschlechtert“ und „sehr verschlechtert“). Von 224 Patienten gaben 47 an, nach der Therapie eine „etwas verbesserte“ Lebensqualität aufzuweisen. Bei dieser Gruppe von Patienten wurde eine Differenz der OHIP-Werte und damit eine MID von 6 OHIP Punkten (95% Konfidenzintervall: 2 - 9) ermittelt. Dieser Wert ist eine bedeutende Größe zur Bestimmung der klinischen Signifikanz in Bezug auf patientenbezogene Zielgrößen.
Ausblick
Effizienz von zahnmedizinischen Therapien
Unter immer stärker werdendem Kostendruck im Gesundheitssystem kommt der Effizienz der zahnmedizinischen Interventionen eine immer größer werdende Bedeutung zu. So haben sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für zahnärztlich-prothetische Versorgungen von 3,48 Mrd. EUR im Jahr 1991 auf 2,92 Mrd. EUR im Jahr 2008 verringert (Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung - KZBV 2009). Um diese Mittel effizient einsetzen zu können, muss zahnmedizinische Therapie auch unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt betrachtet werden.
Studien zu Kosten-Nutzen-Analysen von zahnmedizinischen Therapien sind rar und beziehen sich zumeist auf prothetischen Zahnersatz. In einer Untersuchung zur Therapie des zahnlosen Patienten mit entweder konventionellen Totalprothesen oder mit implantatunterstützen Deckprothesen konnten die effektiven Kosten je angestrebter Verbesserung der Lebensqualität über einen Zeitraum von knapp 18 Jahre bestimmt werden (Heydecke et al. 2005). Dies ermöglicht den Patienten eine individuelle Abwägung hinsichtlich Kosten und Nutzen und somit eine besser informierte Therapieentscheidung.
In einer Übersichtsarbeit wurde der Nachsorgeaufwand von implantatgetragenem festsitzenden Zahnersatz mit abnehmbaren Teilprothesen verglichen (Pieger und Heydecke 2008). Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass abnehmbarer Zahnersatz mehr Nachsorgeaufwand und höhere Folgekosten verursacht.
Kosten-Nutzen-Analysen sind wichtig für gesundheitspolitische Entscheidungsträger und liefern Informationen, um dem Patienten zu einer informierten Entscheidung über zahnmedizinische Therapien zu verhelfen. Dies wird zu einer stärkeren Patientenorientierung in der Zahnmedizin führen. Weitere Studien sind unbedingt wünschenswert.
Entscheidungsfindung und Patientenorientierung
Ein weiteres wichtiges Thema ist der Prozess der Entscheidungsfindung. Dies kann bei (zahn)medizinischen Behandlungen auf verschiedenen Wegen erfolgen. Im paternalistischen Modell kommt dem Patienten fast ausschließlich eine passive Rolle zu (Coulter 1999). Bei dem Informationsmodell fließt die Information unidirektional vom Zahnarzt zum Patienten (Charles et al. 1997). Der Zahnarzt stellt die Information zur Verfügung, die Entscheidung wird vom Patienten selbstbestimmt getroffen. Zwischen diesen beiden Modellen liegt das Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung (PEF; engl.: Shared-Decision-Making, SDM), in dem Patient und Behandler die Entscheidung zusammen bedenken und zusammen treffen (Chin 2002; Härter et al. 2005). Diese Strategie stellt einen optimalen Kompromiss zwischen der Therapiefreiheit des Behandlers und dem Mitbestimmungsrecht des Patienten dar und wird aktuell als Optimum für die Arzt-Patienten-Kommunikation angesehen.
Eine Untersuchung zum Vorgehen bei klinischen Entscheidungen bei prothetisch tätigen Zahnärzten Nordamerikas zeigte, dass etwa die Hälfte (50,8 %) der befragten Zahnärzte der Ansicht ist, dass die Entscheidung in einer gleichberechtigten Diskussion zwischen Patient und Behandler erfolgen sollte (Koka et al. 2007). Fast der komplette Rest der Befragten (43,3 %) stellte die eigene Meinung und die eigene Einschätzung hinter die des Patienten. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch eine Untersuchung bei Zahnärzten in Schweden. Bei der Wahl der Therapie standen vor allem Aspekte wie „Wunsch des Patienten“ und „Prognose der Behandlung“ im Vordergrund (Kronstrom et al. 1999a; b). Auch wenn diese Studien ein durchaus positives Bild von der Patientenbeteiligung bei zahnmedizinischen Therapieentscheidungen zeigen, geben sie doch nur die eigene Einschätzung der Zahnärzte wieder.
Eine Untersuchung in Großbritannien zur Wahrnehmung von Patienten zeigte ein anderes Bild. Von 40 zahnmedizinischen Patienten bevorzugte der Großteil der Patienten eine gleichberechtigte Entscheidungsfindung (Chapple et al. 2003). Im Gegensatz dazu wurde die eigene Rolle bei Entscheidungen eher als passiv wahrgenommen. Patienten wurden entgegen ihres eigenen Wunsches nur gering oder gar nicht in die Entscheidungsfindung eingeschlossen. Diesen offensichtlichen Konflikt gilt es zukünftig zu lösen.
Weitere Untersuchungen zu indikations- und settingspezifischen Einflussfaktoren auf Partizipationspräferenzen sollten zu einem besseren Verständnis der Patientensichtweise und zu einer verstärkten Partizipation der Patienten bei Entscheidungsfindungen führen. Durch eine intensivere Kommunikation von Patienten und Behandlern kann erreicht werden, dass sich Patienten der eigenen Verantwortung hinsichtlich der Therapieergebnisse bewusst werden, was sich positiv auf den langfristigen Therapieerfolg auswirken kann (Sadan 2005; 2007). Des Weiteren sind durch die verstärkte Einbindung der Patienten eine verbesserte Therapietreue (Compliance), eine höhere Zufriedenheit mit der Therapie und dem Therapieergebnis sowie eine Erhöhung des Wissensstandes der Patienten möglich (Johnson et al. 2006; Joosten et al. 2008; Loh et al. 2007). Daher stellt der Entscheidungsfindungsprozess im Rahmen der Patientenorientierung bei der Rehabilitation der Mundgesundheit ein wichtiges Forschungsfeld dar, welches es zu intensivieren gilt.
Schlussfolgerung
Patientenorientierung wird zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen in der Zahnmedizin rücken. Während aktuell zumeist Konzepte wie Zufriedenheit und Lebensqualität als Zielgrößen klinischer Studien und als Untersuchungsgegenstand in methodischen Studien involviert sind, werden zukünftig vermehrt Kosten-Nutzen-Analysen zu zahnmedizinischen Therapien und Patientenbeteiligung bei diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen Gegenstand der Forschung sein. <<