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„Pay for Outcome - oder: Das Gesundheitsystem neu denken!“

Mit mehr als 750 wissenschaftlichen Publikationen, über 250 Originalarbeiten, 12 herausgegebenen Büchern und mehr als 700 Vorträgen gehört Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund A. M. Neugebauer zweifellos zu den „Motoren“ unter den deutschen Versorgungsforschern. Für seine Arbeiten hat der Lehrstuhlinhaber für Chirurgische Forschung, gleichzeitig Direktor des Institutes für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) und Forschungsdekan der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke, mehrere Preise der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sowie unter anderem auch eine Ehrenprofessur (Prof. h.c.) von der chinesischen Southern Medical University in Guangzhou (Kanton) verliehen bekommen. Neugebauer, erster Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) - von 2007 bis 2009 auch Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) - liegt besonders ein Thema am Herzen: der Patient. Es ist, so Neugebauer, an der Zeit, „unser Gesundheitssystem neu zu denken!“

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Erstveröffentlichungsdatum: 25.09.2012

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Mit mehr als 750 wissenschaftlichen Publikationen, über 250 Originalarbeiten, 12 herausgegebenen Büchern und mehr als 700 Vorträgen gehört Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund A. M. Neugebauer zweifellos zu den „Motoren“ unter den deutschen Versorgungsforschern. Für seine Arbeiten hat der Lehrstuhlinhaber für Chirurgische Forschung, gleichzeitig Direktor des Institutes für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) und Forschungsdekan der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke, mehrere Preise der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sowie unter anderem auch eine Ehrenprofessur (Prof. h.c.) von der chinesischen Southern Medical University in Guangzhou (Kanton) verliehen bekommen. Neugebauer, erster Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) - von 2007 bis 2009 auch Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM) - liegt besonders ein Thema am Herzen: der Patient. Es ist, so Neugebauer, an der Zeit, „unser Gesundheitssystem neu zu denken!“

>> Herr Prof. Neugebauer, der Patientennutzen scheint auch im Gesundheitssystem anno 2012 noch nicht unbedingt im Vordergrund zu stehen.
Die Diagnose ist richtig. Und der Grund dafür schlicht: Das gesamte Gesundheitssystem ist bisher nicht danach ausgelegt, für Patientenoutcome zu bezahlen. Es wird außerdem nicht vergütet, ob sich ein Arzt mehr als ein anderer um seine Patienten kümmert und ob er mit seiner Arbeit die Lebensqualität seiner Patienten verbessert. Dabei ist im Modell „Input-Throughput-Output-Outcome“ das zentrale Element das letztgenannte: das Outcome. Der Begriff „Outcome“ bezieht sich auf patientenbezogenes Outcome oder eben den Patientennutzen.

Doch das, was der Arzt tut, wird im Krankenhaus nach dem DRG-System, im ambulanten Bereich nach EBM-Abrechnungsziffern bezahlt.
Hier muss eine Neuorientierung erfolgen. Die Leistungserbringung - gerade auch im Hinblick auf die aktuelle Honorardebatte der Ärzte - muss sich künftig stärker an Patientennutzenkriterien orientieren. Ob man die nun über Patient Related Outcomes oder Conjoint-Analysen definiert, ist erst einmal einerlei. Es geht mir um das Grundsätzliche, das ich in der Zeit, in der ich das Amt als Vorsitzender des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung inne habe, thematisieren möchte.

Was wäre zu tun, um dem Ziel „Patientennutzen“ schrittweise näherzukommen, denn eine Ad-hoc-Änderung des Gesundheitssystems wird es wohl nicht geben können.
Gesundheit ist für viele ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Gut. Wenn dies so ist, müssen wir versuchen, die Bürger besser zu erreichen, das heißt: Bevor sie zu Patienten werden. Dafür gibt es schon probate Ansätze, wie etwa Bürgeruniversitäten.

Sie denken an Jena und Hannover.
Da hat es begonnen. Doch inzwischen gibt es schon etwas mehr. Ich denke unter anderem auch an Bürgerkonferenzen, wie etwa in Lübeck, wo unter Beteiligung relevanter Bürgergruppen über die Kriterien der Priorisierung der medizinischen Versorgung beraten wurde oder die DEGAM-Leitlinien, bei deren Abfassung sehr früh auch Patienten die Verständlichkeit prüfen.

Das sind sicher gute Ansätze, doch das Hauptproblem ist die Diskrepanz des Wissens, das auf der einen Seite bei Leistungserbringern, auf der anderen bei Patienten und Bürgern akkumuliert ist. Wie kann man diese Wissenslücke schließen?
Das ist die Kardinalfrage. Wenn man die berühmte Wissenslücke schließen würde, hätte das einen Lerneffekt auf beiden Seiten zur Folge. Auch und vor allem auf Ärzteseite, denn der Arzt muss zuallererst wieder die Zeit dazu bekommen, mit dem Patienten zu sprechen. Das ist besonders den jüngeren Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren seit Einführung der DRG 2004 in unser Gesundheitssystem nicht mehr vergönnt.

Weil Kommunikation und die dafür benötigte Zeit nicht genügend bezahlt wird?
Klingt traurig und trivial, aber so ist es. Wer für Kommunikation keine Zeit haben darf, verliert eventuell sogar nach und nach diese elementare Fähigkeit.

Damit passen sich wohl oder übel Patient wie Arzt dem System an.
Aber nicht zum Besseren. Kommunikation ist für beide Parteien ein wichtiges Element. Meine Universität Witten/Herdecke hat das übrigens schon lange erkannt und mit ihrer Gründungsidee seit 1983 das Ausbildungssystem für Mediziner grundlegend verändert. Angehende Ärzte trainieren bei uns Kommunikation, unter anderem auch mit Schauspielerpatienten. Und an der Uni Witten/Herdecke gibt es seit zwei Jahren sogenannte Ausbildungsstationen, auf denen Studenten Patienten versorgen, natürlich unter entsprechender Anleitung und Aufsicht - und die Patienten sind hoch zufrieden. Denn Studenten haben noch Zeit und hören zu!

Was kann man denn tun, um - sagen wir - das System Witten bundesweit auszurollen, damit nicht nur ein paar Prozent der auszubildenden Ärzte in den Genuss einer kommunikativen Ausbildung kommen?
Es muss zuförderst anerkannt werden, dass der Patient Co-Produzent seiner Erkrankung ist. Auf ihn selbst kommt es entscheidend an, wenn es um Heilung oder Linderung seiner Beschwerden geht. Jeder Patient kann und muss seinen Anteil zum Gesamterfolg beitragen, wobei dieser Part mindestens so bedeutsam ist wie der der Behandlung, die ihm der Arzt, Pfleger oder welcher Leistungserbringer auch immer zuteil werden lässt.
Wenn beide lernen würden miteinander umzugehen.
Der Arzt muss lernen zu kommunizieren, der Patient ebenso. Dazu muss der Nimbus des Arztbilds vom „Halbgott in Weiß“ ein für alle mal ad acta gelegt werden. Und der Patient muss lernen, dass er ebenso viel Kompetenz hat wie der Arzt; nur eben eine komplementäre Art von Kompetenz, die ganz anders gelagert ist als die Fachkompetenz des Arztes. Diese Patientenkompetenz muss er einbringen können - nur so kann das Outcome auf eine neue Ebene gehoben werden. Dies zu fördern ist Pflicht des Arztes.

Wie sollen denn Arzt und Patient kommunizieren lernen?
Vor allen Dingen müssen Beide lernen, auf einer wissenschaftsgestützten Basis zu kommunizieren. Dazu braucht es evidenzbasierte Patienteninformationen und Entscheidungshilfen, die in einer Sprache gehalten sind, die nicht nur jeder Patient versteht, sondern auch annehmen kann.

Und das unter den Vorzeichen einer tatsächlich existenten 6-Minuten-Medizin.
Wenn man Kommunikation als zentrales Element wieder ins Gesundheitssystem einbringen möchte, kann das nicht in einem Drei- oder auch Sechsminutengespräch abgehandelt werden. Wer eine bessere Kommunikation mit Patienten will, muss Strukturen im niedergelassenen, als auch im Krankenhausbereich entscheidend verändern. Beispielsweise durch die Einrichtung von Zentren für Shared-Decision-Making. Es müssen Räume geschaffen werden, in denen sich der Patient nach Diagnosestellung über seine Erkrankung informieren kann - und zwar unabhängig informieren kann. Warum haben wir denn keine Patienten-Bibliotheken zu verschiedenen Erkrankungen in unseren Krankenhäusern? So etwas gibt es seit langem in Amerika. Wieso gibt es bei uns so gut wie keine Entscheidungshilfe-Tools? Für Rückenschmerz, Bandscheibenvorfall, Krebsoperationen oder was auch immer. In vielen Fällen gibt es doch nicht nur eine Therapieoption, sondern mehrere. Nur: Welche ist die richtige? Solche Informationen müssen natürlich wissenschaftlich und patientengerecht aufbereitet werden - evidenzbasiert und ganz objektiv mit allen Pros und Cons.

Bisher hat diese Informationspflicht der Arzt alleine.
Die nimmt ihm ja auch keiner ab oder kann ihm keiner abnehmen. Klar ist aber auch, dass die derzeitige Form der Aufklärung alles andere ist als eine Aufklärung im Sinne des Worts. Es gibt mehrere Untersuchungen, bei denen Patienten nach dem Arztgespräch gefragt wurden, was sie eigentlich verstanden haben. Das traurige Ergebnis: Der Erkenntnisgewinn ist nahe Null. Von dem, was der Arzt gesagt hat, kann der Patient schon kurz nach dem Gespräch fast nichts wiedergeben. Er traut sich häufig auch nicht nachzufragen. Der Patient hat aber ein Recht auf Information - in einer für ihn verständlichen Sprache. Das wissen viele Patienten nicht.

Was wäre die Lösung?
Es gibt sicher nicht nur eine Lösung. Eine Anregung könnte sein, es wie Banken bei einem Kreditvertrag zu machen: Arzt und Patient dokumentieren aktiv das Gespräch, das zum Schluss noch einmal repetiert und gegebenenfalls in Gegenwart von Dritten gemeinsam unterschrieben wird. Neu ist eine Initiative von Studenten aus Greifswald, denen Patienten Arztbriefe zum „Übersetzen“ schicken können - das ist sicher für den Status quo hilfreich und lobenswert, aber doch ein eher trauriges Zeichen des kommunikativen Versagens seitens der Leistungserbringer. Besser wäre es, wesentliche Teile des notwendigen Informationsaustausches zeitlich vorzuverlagern. Wenn die Diagnose steht, kann sich der Patient bei Elektiveingriffen umfassend informieren. Damit wird der Patient befähigt, wissender als bisher in ein Folgegespräch mit dem Arzt zu kommen, was beiden mehr bringt. Und wenn man dann noch so etwas wie Patienten-Coaches einsetzt, ist man schon auf dem Weg zum kompetenten Patienten, der auf einer ganz anderen Ebene mit dem Arzt reden kann.

Was Sie damit fordern, setzt ein hohes Maß an Objektivität auf beiden Seiten und ein ebenso hohes Maß an Vertrauen voraus. Dieses Vertrauen impliziert, dass dieses System mehr denn heute entökonomisiert wird.
So ist es. Das Vertrauensverhältnis ist durch die Ökonomisierung der Leistungserbringung erheblich gestört. Beispiel: IGeL. Dieses Vertrauen in Ärzte wieder herzustellen, daran muss man arbeiten. Letztendlich muss der Arzt wieder Arzt sein dürfen und nicht zunehmend auch noch Hilfsökonom.

Dennoch besteht im Krankenhausbereich die gesetzliche Vorgabe, eine Klinik wirtschaftlich zu führen.
Wirtschaftliche Führung und Qualität schließen sich aus meiner Sicht nicht aus. Im Gegenteil. Einige ärztliche Direktoren von Krankenhäusern haben dies bereits erkannt; sie werden in der Zukunft zu den Gewinnern gehören.

Was ist mit dem Arzt im niedergelassenen Bereich? Der ist nun einmal Unternehmer und nicht unbedingt der Qualität verpflichtet.
Ein Mensch wird in erster Linie deshalb Arzt, weil er Leiden mindern und Krankheiten heilen möchte. Das ist seine primäre Aufgabe. Alles andere macht das System mit ihm. Genau darum fühlen sich viele Ärzte in diesem System auch überhaupt nicht mehr wohl. Das tun Patienten übrigens auch nicht, die sich zunehmend einem System, das nur noch der Ökonomie gehorcht, ausgeliefert sehen. Doch warum verhindert das Gesundheitssystem, dass die beiden wichtigsten Player im Gesundheitswesen - nämlich Arzt und Patient - zusammenkommen? Das ist eine Fehlentwicklung, die es zu korrigieren gilt.

Wie könnte ein schrittweises Modell vom Gegeneinander zum Miteinander aussehen?
Ganz einfach: Man muss die Anreizsysteme schrittweise ändern. Weg von Abrechnungsziffern in der gegenwärtigen Form hin zu einem viel stärker am Patienten-Outcome orientierten Vorgehen. Der Nutzen für den Patienten muss der Bewertungsmaßstab für Qualität sein.

Also Pay per Performance.
Pay per Performance ist nicht einfach. Aber die Richtung ist auf jeden Fall richtig. In einer Autowerkstatt zahle ich den Mechaniker auch nicht nach dem, was er getan hat, sondern gemessen am Ergebnis seiner Arbeit. Wer zahlt denn eine Werkstattrechnung, die so erläutert wird: „Wir haben den ganzen Tag geschraubt, das Auto von oben bis unten durch gecheckt und dann ein neues Kabel verlegt, aber der Wagen läuft leider immer noch nicht.“

Bei sogenannten vertragsgebundenen Auto-Werkstätten verbirgt sich hinter den Arbeitskosten ein Abrechnungsschlüssel, den die Automobilhersteller für jeden Handgriff eines Mechanikers festgelegt haben. Daraus errechnen sich jene Arbeitswerte, die eine Vertragswerkstatt seinen Kunden in Rechnung stellen darf. Aber es gilt auch: Etwaige Mehrarbeit ist für den Kunden gratis.
Unser Gesundheitssystem funktioniert, vereinfacht dargestellt, genau so. Nur legen hier Spitzenverband Bund und Kassenärztliche Bundesvereinigung beziehungsweise Krankenhausgesellschaft EBM- und DRG-Werte fest.

Was fehlt, ist die Orientierung am Outcome sowie die Deckelung nach oben.
Wenn man nur Leistungsanreize, bezogen auf das Outcome und die Qualität der Versorgung vereinbaren würde, wäre das schon die halbe Miete. Denn damit verändert sich das System ganz automatisch. Wenn dann noch eine Denke - Daten dazu gibt es reichlich - erzeugt wird, dass die Patienten wichtige Co-Produzenten sind, wäre das Gesundheitssystem auf neue Beine gestellt.

Wer könnte die Aufgabe übernehmen und hätte sowohl die Objektivität als auch das Wollen, Patientenedukation als Basis eines wahrhaftig „empowerten“ Patienten als Mitgestalter seiner Gesundheit zu installieren?
Zu beginnen wäre damit, das Unterrichtsfach „Gesundheitslehre“ in Schulen einzuführen. „Ernährungslehre“, „Umweltschutz“ - all das gibt es bereits. Nur das Fach „Gesundheitslehre“ oder so ähnlich gibt es in den Lehrplänen noch nicht. Auf Basis eines damit in Richtung Gesundheit edukierten Bewusstseins könnten dann Krankenhäuser aufsetzen, indem sie sich zu Gesundheitszentren entwickeln. Solche integrierten Versorgungsmodelle wären ein Weg in die Zukunft.

Funktioniert das?
Im Prinzip könnte so etwas durchaus funktionieren. Dann könnten die Krankenhäuser endlich den Patienten wirklich in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen, was sie sonst immer so gern auf ihren Hochglanzbroschüren oder Homepages schreiben, aber häufig nicht wirklich leben.

Böse gesagt: Leistungserbringer haben gar keinen Anreiz, einen Patienten gesund zu machen, weil sie an dessen Krankheit verdienen.
Richtig. Und das Dritte ist, dass Leistungserbringer bislang keine gesamthafte Kostenverantwortung für einen Patientenkollektiv übernehmen, wie das Modelle wie das Kinzigtal tun. Diese Systeme funktionieren schon heute in Regionen mit einer bestimmten Einzugskohorte.

Was müsste denn getan werden, um solche Modelle zu skalieren? Zum Beispiel im Raum Köln, im Einzugsbereich des Klinikums der Uni Witten/Herdecke am Standort Köln, an dem Sie arbeiten?
Wir sind auf dem Weg dahin. Projektiert sind integrierte Versorgungszentren, in denen ein Patient eine Art Komplettangebot - also alles aus einer Hand - bekommt. Die Lungenklinik am Standort ist dazu ein gutes Beispiel: Von der Intensivtherapiestation kann der Patient über eine Weaningstation in ein Beatmungspflegeheim verlegt und danach durch einen ambulanten Beatmungspflegedienst betreut werden. Von hier aus erfolgt die Vorstellung zur Kontrolle in unserer Ambulanz für heimbeatmete Patienten. Diese geschlossene Versorgungskette hat den Vorteil, dass durchgehend eine Betreuung durch uns erfolgt, die Standards entlang der Kette definiert sind und wir unsere Mitarbeiter entlang der Kette ausbilden können. Schließlich sind auch Verhandlungen mit den Kassen über eine Pauschalisierung der Budgets möglich. Und schließlich wird auch die Patientenbeteiligung gefördert. Ein Gesundheitszentrum hier in Merheim wäre schon meine Vision, die auch unser ärztlicher Direktor und die Geschäftsführung mit mir teilen. Die Begleitforschung zu relevanten Outcomeparametern wäre hier übrigens echtes Neuland.

Da beschreiten Sie einen langen Weg.
Na klar, aber man muss doch mal anfangen.

Die Frage wird sein, wie man Outcomes definiert, ob über Patient Related Outcomes oder patientendefinierte Outcomes, die mit ökonomischen Modellen wie Conjoint Analyse und AHP erforscht werden können, die auf zwei Pilotprojekte des IQWiG zurückgehen und die im Fokus des nächsten MVF-Fachkongresses am 29. Oktober stehen.
Ich beschäftige mich nun seit ungefähr 20 Jahren mit Fragestellungen zur Lebensqualität und zum Patientenoutcome. Es gibt überdies ein von mir initiiertes Memorandum des Deutschen Netzwerks für Versorgungsforschung zum Thema Lebensqualität, getragen von fast 50 Fachgesellschaften - übrigens mit Beteiligung von Vertretern des IQWiG. Auch die FDA unterstützt zunehmend die Verwendung der Patient Related Outcomes.

Die Frage ist, wer die Legitimation und damit die Macht hat zu definieren, was für den Patienten relevant ist und was nicht. Für Wissenschaftler ist beispielsweise eine 6-Minuten-Gehstrecke ein messbarer, aber doch recht virtueller Wert, der erst für den einen wirklichen Wert bekommt, der in der Zeit schmerzfrei in die Küche, ins Bad oder zum Rollstuhl kommt. Das hat erheblichen Einfluss auf dessen Lebensqualität.
Daher brauchen wir individualisierte Kriterien. Letztendlich kann eine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapie nur über Parameter getroffen werden, die der Patient in seiner persönlichen Situation selbst als wichtig erachtet.

Also keine Kohorten-, sondern Individual-Definition der patientenrelevanten Endpunkte und Kriterien.
Das wäre doch die beste Form evidenzbasierter Medizin! Ein Patient sucht sich den besten Arzt nach möglichst objektiven Kriterien aus - denn der Arzt muss seine Qualität nachweisen in Form von Kennziffern zu Behandlungen, Erfolgen, Komplikationen, Wiedereinweisungen etc. Dieser Arzt wird dann die patientenindividuellen Bedürfnisse, Präferenzen und Lebensumstände erfragen und gemeinsam mit dem Patienten das weitere diagnostische Vorgehen oder die Behandlung festlegen. Hierbei stützt er sich auf externe Evidenz wie aktuelle wissenschaftliche Studien oder Leitlinien als Unterstützungshilfe.

Beides wäre doch mal eine andere Herangehensweise als die der aktuell doch eher mechanisierten und ökonomisierten Medizin. Eine solche patientenzentrierte Medizin wäre natürlich viel kleinteiliger, andererseits vielleicht aber gerade dadurch auch wirkungsvoller.
Davon bin ich überzeugt. Letztendlich ist der Erfolgsfaktor der Patientenwille. Und den kann ich - mit welchen Instrumenten auch immer - nur erfassen, indem ich mit ihm rede. Dieses Reden muss man lernen.

Dann wäre wohl das höchste Maß an evidenzbasierter Medizin die Kommunikation.
Exakt. Nur ist das bisher noch nirgendwo evidenzbasiert untersucht worden. Im Endeffekt müsste das Gesundheitssystem grundlegend neu ausgerichtet werden. Ich wiederhole das noch mal: Das Wichtigste ist die stärkere Orientierung am Patientenoutcome, nicht nur das, was an ihm an Leistung erbracht wird.

Damit würden Ihnen wahrscheinlich die Krankenhausgesellschaft als auch die Ärzteorganisationen aufs Dach steigen.
Das glaube ich nicht. Auch sie haben das Patientenwohl sehr wohl im Blick. Doch als Versorgungsforscher muss mein Interesse der Praxis der Versorgung des Patienten unter Alltagsbedingungen gelten. Denn für ihn ist das Gesundheitssystem schließlich da - alles andere, wie zum Beispiel die Standespolitik, interessiert mich nur im Zusammenhang mit dem Kontext der Versorgung. Das heißt nun nicht, dass ich die Zwänge der Ökonomie nicht kenne oder zu beachten bereit bin, wenn denn der Fokus wieder stärker auf den Patienten gerichtet wird.

Sehen Sie wirklich jenseits dieser ansprechenden Vision eine Chance?
Ich sehe immer eine Chance, weil ich durch eine optimistische Grundhaltung geprägt bin. Dennoch: Wir brauchen gute Vorbilder und anerkannte Universitäten im Rücken. Ich bin sicher, mit meiner Universität, der Uni Witten/Herdecke, genau an der richtigen Uni zu sein: Sie steht für „Neu denken“ und dafür, Anstöße für Veränderungen zu geben, um den Patienten wieder tatsächlich in den Mittelpunkt unseres Gesundheitssystems zu stellen. Das war übrigens auch das Fazit eines Treffens von Vertretern aus Ärzteschaft, Förderern, Wissenschaft und Kostenträgern im November 2010 in Köln, bei dem eine Priorisierung der wichtigsten Versorgungsforschungs-Themen erstellt wurde. An Nummer 1 standen Themen wie Patientenpräferenz, Patienteninformation sowie Patienten- und Nutzerperspektive und individuelle Ressourcen.

Und was wurde daraufhin in diesen wichtigen Feldern erforscht?
Vieles! Wir selbst haben beispielsweise gerade eine Untersuchung zu diesem Thema durchgeführt. Wir haben das Bedürfnis der Patienten nach Beteiligung an medizinischen Entscheidungen erhoben und unter anderem die Zufriedenheit mit dem Entscheidungsprozess erfragt. Die Studie haben wir übrigens in drei unserer Kliniken durchgeführt.

Was kam denn dabei heraus?
Die Zahlen sind noch nicht publiziert. Doch ich kann sagen, dass 62 Prozent aller Patienten gemeinsam mit dem Arzt über die Behandlung entscheiden wollen. Gut 20 Prozent der Patienten sehen sich jedoch im Gespräch mit dem Arzt durch diesen eher nicht bis überhaupt nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt. Wir können auch ableiten, dass jene Kliniken besonders gut in der Kommunikation sind, in denen der Chef eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation als Vorbild vorlebt. Die Zahlen werden wir nun den Kliniken zurück spiegeln, damit diese in ihren Kolloquien entsprechende Änderungen diskutieren können.

Änderung braucht eben zuerst einmal Analyse. So etwas könnte doch mit Sicherheit jede Klinik machen, um damit einen erheblich besseren Therapieoutput zu generieren.
Ohne vorhergehende Analyse wird der Umsetzungsgrad verschwindend gering sein. Ich habe ähnliche Erfahrungen bei der Schmerztherapie gemacht. Auch hier war am Anfang die Akzeptanz in der Chirurgie eher bescheiden. Ein Chirurg antwortete mir einmal bei einer Visite: „Was, meine Patienten haben Schmerzen? - Unsinn! Wenn du den Patienten aus dem Krankenzimmer schreien hörst, dann hat der Schmerzen. Hast du einen gehört bei der Visite?“ - das war die Antwort, die ich allerdings schon vor Jahren bekommen habe. Dann haben wir Untersuchungen und Analysen durchgeführt, bei denen heraus kam, dass 75 Prozent der chirurgischen Patienten am ersten postoperativen Tag mittelstarke bis starke Schmerzen haben. Wir alle wissen, dass dies ernsthafte negative Auswirkungen auf die Inzidenz von akuten Komplikationen hat, zur Verlängerung des Krankenhaus-Aufenthaltes führt und der Auslöser für chronische Schmerzen in einem Ausmaß von 10 bis 50 Prozent ist.

Was haben Sie denn mit dieser Erkenntnis angefangen?
Auf Basis der Untersuchung haben wir begonnen, S3-Leitlinien zur Behandlung von akuten Schmerzen zu erstellen und die „Initiative schmerzfreie Klinik“ gegründet. Dazu wurde mit dem TÜV ein Zertifizierungsverfahren „Qualitätsmanagement Akutschmerztherapie“ auf den Weg gebracht und bei uns in Köln-Merheim im Jahr 2006 implementiert. Das Schöne daran: Es funktioniert, wie wir in publizierten Evaluationsstudien zeigen konnten.

Das ist ein Beispiel für den Impact von Versorgungsforschung.
Es muss nicht immer die große epidemiologische Studie mit riesigen Datenmengen sein. Versorgungsforschung ist gerade auch bei kleineren Themen und Umfeldern indiziert, bei denen auch schneller Nutzen und Mehrwert generiert werden kann. Auch der Zeithorizont ist eher überschaubar. Beim Thema Schmerz hat die Erstellung und Implementierung der Leitlinie rund drei Jahre gedauert. Dazu gehörte aber auch die Entwicklung eines Qualitätsmanagementkonzeptes. Und es kommt noch ein ganz anderer Effekt dazu: Plötzlich ist das Thema omnipräsent und es entsteht eine ganz andere Stimmung in der Klinik: Denn man redet plötzlich miteinander und die Patienten sind zufriedener:

Was ist denn Ihr nächstes Ziel in diesem Zusammenhang?
Ich möchte den Schmerz fächerübergreifend als Qualitätsindikator in Krankenhäuser einführen.

Wer könnte denn so etwas anordnen?
Anordnen nicht, aber befördern: Dazu müsste das AQUA-Institut diesen Qualitätsindikator festlegen.

Haben Sie mit AQUA darüber gesprochen?
Ja, auf dem nächsten AQUA-Kongress möchte ich dieses Thema vortragen, denn es wird Zeit für neue patientenrelevante Qualitätsindikatoren. Und Schmerz ist ganz bestimmt ein sehr patientenrelevanter Indikator. Worüber redet denn ein Patient, wenn er aus dem Krankenhaus kommt?

Übers schlechtes Essen.
Darüber, ob er Schmerzen gehabt hat oder nicht. Dabei sind Schmerzen nach Operationen absolut überflüssig. Wenn das die Patienten einmal verinnerlichen würden! Wir haben dazu eine evidenzbasierte Patienteninformation erstellt, die offenbar noch zu wenig eingesetzt wird. Wie vorher erwähnt, braucht es aber auch eine Bewusstseinsveränderung bei den Patienten.

Gibt es denn Studien, die das Thema Kommunikation untersuchen?
Ja, inzwischen sehr viele. Wir machen dazu selbst auch gerade eine Untersuchung zur Arzt-Patienten-Kommunikation, die von der DFG gefördert wird. Doch nicht nur der Effekt auf die Zufriedenheit des Patienten wird analysiert, sondern auch der auf das Patientenoutcome! Mit der Studie wollen wir zeigen, dass Patientenempowerment die Ergebnisqualität verbessert - hier das Auftreten von akuten und chronischen Schmerzen signifikant reduziert.

Wenn die Ergebnisse vorliegen, müsste danach im Endeffekt das gesamte Versorgungskonzept umgestellt oder zumindest angepasst werden.
Jetzt sind wir an einem entscheidenden Punkt: Was ist die wesentliche Zukunftsaufgabe der Versorgungsforschung? Es gibt gute Studien, es gibt S3-Leitlinien, aber hat sich damit die Gesundheitsversorgung entscheidend verbessert? Um dieses Thema zu forcieren, sind wir eine Kooperation mit der AWMF eingegangen und werden einen gemeinsamen Workshop im November zum Thema „Implementierung und Evaluation von Leitlinien“ veranstalten.

Leitlinien kennen und anwenden sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Dabei ist die Erstellung einer Leitlinie eine langwierige und mühselige Arbeit. Die Leitlinie für Polytrauma hat vier Jahre gedauert. Die Schmerzleitlinie drei Jahre.

Man verschwendet Lebenszeit ...
... und es passiert nichts. Ich möchte jetzt gerne wissen, wie die Erkenntnis beim Patienten ankommt.

Ist das der nächste Schritt der noch jungen Disziplin Versorgungsforschung, sich verstärkt in die Umsetzungsverantwortung zu nehmen?
Ja, eines der Hauptzielsetzungen auch des Netzwerkes für Versorgungsforschung ist es, mehr als bisher in die Politikberatung zu investieren. Versorgungsforschungsergebnisse sollten verpflichtend in die Kosten-Nutzen-Bewertung und die Allokationsentscheidungen eingebaut werden: Für die alltagsnahe Ressourcenallokation ist Versorgungsforschung unverzichtbar. Daher sollte sie auch in den Prozess der Allokationsentscheidung auf allen Politikebenen - zum Beispiel auch im IQWiG und im G-BA - eingebaut werden.

Wird sich das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung in Zukunft wesentlich mehr und aktiver in die Politik einmischen und Stellungnahmen zu anstehenden Entscheidungen abgeben?
Wir haben damit begonnen, indem wir im letzten Jahr eine Stellungnahme des Vorstands zu Allokationsentscheidungen herausgegeben haben. Aktuell haben wir uns zur Umsetzung der Vorschriften über die Datentransparenz geäußert und uns zum Referentenentwurf zum Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des Nationalen Krebsplans klar positioniert. Und: Wir werden weiter wachsam sein. Dabei muss man aber immer beachten, dass Versorgungsforschung eben immer noch eine ziemlich junge Disziplin in Deutschland ist.

Die klinische Forschung hat auch mehr als 20 Jahre gebraucht, bis sie die wichtigsten Fragen beantwortet hat.
Genau. Doch wir müssen jetzt aufpassen, dass wir Versorgungsforschung nicht überregulieren. Einen Mittelweg zwischen guter Evidenz und Machbarkeit zu finden, ist eine Herausforderung ohne Ende.

Wie kann Versorgungsforschung mehr in die Transmission kommen?
Versorgungsforschung kostet Geld und die Finanzierung ist bisher nicht langfristig ausgerichtet. Erfolgt kein finanzieller Quantensprung, wie Kollege Pfaff in einem öffentlichen Fachgespräch im Juni im Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung in Berlin ausgeführt hat, wird die Versorgungsforschung den Erwartungen, die in sie gesetzt werden, auf Dauer nicht gerecht. Sie ist, da sie hohen wissenschaftlichen Standards genügen muss, nicht billig. Auf die Ausschreibung des BMBF zur Versorgungsforschung haben wir viel zu lange gewartet. Es existiert ein ungeheurer Studienstau.

Wobei sich jeder mit nahezu jedem Forschungsthema bewerben kann.
Natürlich, das ist offene Wissenschaft. Der wesentliche Punkt ist aber: Es muss endlich ein ausreichendes Budget zur Verfügung gestellt werden. Zur Abdeckung der Finanzierungslücke bietet sich nach Pfaff eine Dreifach-Strategie an: Erstens: Verschieben der BMBF-Forschungsprioritäten zugunsten der Versorgungsforschung. Zweitens: Erhöhung des BMG-Budgets für Gesundheitsforschung. Und drittens: Verpflichtung der Kassen, 0,5 bis 1 Prozent ihres Haushaltes für Versorgungsforschung auszugeben, die Hälfte davon zweckgebunden zur Finanzierung der BMBF- und BMG-Versorgungsforschungsprogramme.

Das wären schon mal einige hundert Millionen Euro.
Irgendwo muss das Geld herkommen. Sonst sehe ich Deutschland in der Versorgungsforschung in den nächsten Jahren immer noch im Status eines Entwicklungslandes - und genau das können wir uns auf Dauer überhaupt nicht leisten. Was bei uns für Versorgungsforschung an Mitteln zur Verfügung gestellt wird, sind selbst im Vergleich zu Nationen wie Finnland oder Holland Peanuts.

Wie sieht es bei den Bundesländern aus?
Das Bundesland, welches in meiner Wahrnehmung Versorgungsforschung angemessen fördert, ist Baden-Württemberg mit einer Aktion zur Nachwuchsförderung.

Wieso machen so etwas die anderen Bundesländer nicht auch?
Weil sich leider die Erkenntnis, dass Versorgungsforschung nicht nur Sache von Krankenkassen, der Pharmaindustrie oder den Leistungerbringern - hier vor allem der Ärzte - ist, in den Köpfen der Politik noch nicht gefestigt hat. Versorgungsforschung braucht aber sowohl eine nationale, als auch eine regionale, bundeslandbezogene Strategie. Nur so können die Aufgaben, die auf unsere Gesellschaft - und damit vor allem auch auf Bundes- und Landespolitik - zukommen, auf eine evidente Art und Weise analysiert und dann in die entsprechende Transmission gebracht werden. Dazu müssen wir aber zuerst ganz dringend die Nachwuchssituation verbessern und das geht wieder nur über die Förderung der Aus-und Weiterbildung und über die Einrichtung entsprechender Zentren und Lehrstühle an Universitäten. Das DNVF richtet bereits zweimal pro Jahr Methodenseminare aus und im kommenden Jahr wird es eine modular aufgebaute Springschool geben - hier kann sich Jeder eine Woche lang in seinen Interessensfeldern weiter- und fortbilden.

Herr Prof. Neugebauer, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.