Psychotherapie vs. fachärztliche Behandlung in der ambulanten psychiatrischen Versorgung
In vergleichenden Analysen von Psychotherapie und fachärztlicher Behandlung (psychiatrische Basisversorgung) soll untersucht werden, in wie weit die gegenwärtige ambulante Versorgung den Maßgaben von Bedarfsorientierung/Versorgungsgerechtigkeit und Kosteneffektivität/Wirtschaftlichkeit genügt. Da zur psychiatrischen Basisversorgung mehrere Arbeiten vorliegen (z.B. Melchinger 2008, 2010), wird hier der Fokus auf Psychotherapie gelegt.
>> Dichte und Qualität von psychiatrischen Versorgungsangeboten sind durch erhebliche regionale Disparitäten gekennzeichnet. Einer psych-iatrischen Überversorgung in den Großstädten und insbesondere in den Universitätsstädten steht teilweise eklatante Unterversorgung in ländlichen Regionen gegenüber. Einige Beispiele: In Bremen steht ein niedergelassener Nervenarzt/Psychiater für 7.000 Einwohner zur Verfügung, in Brandenburg einer für 26.500 EW. Es gibt Regionen mit 60.000 Einwohnern ohne einen einzigen Facharzt. Extrem disparat stellt sich die Dichte der niedergelassenen Psychotherapeuten dar. In München steht ein Psychotherapeut für 2.000 Einwohner zur Verfügung, in Sachsen-Anhalt einer für 14.100 EW. Und es gibt Extrembeispiele wie Heidelberg. Dort sind mehr Psychotherapeuten niedergelassen als im ganzen Land Brandenburg oder im ganzen Land Sachsen-Anhalt.
Zunahme von psychischen Erkrankungen
Gegenläufig zur Entwicklung bei somatischen Erkrankungen sind bei psychischen Erkrankungen kontinuierliche Zuwächse zu verzeichnen. Der Anteil psychischer Erkrankungen am gesamten Krankenstand hat sich von 1998 auf 2010 fast verdoppelt (6,6 vs. 12,1 %) (DAK 2011). Psychische Erkrankungen sind heute die vierthäufigste Krankheitsart. Die in allen Sektoren der psychiatrischen Vorsorgung beobachtbaren Zuwächse gelten allerdings nicht für das ganze Spektrum psychischer Erkrankungen. Zuwächse zeigen sich in erster Linie bei somatoformen Störungen, bei depressiven Episoden und bei altersassoziierten psychischen Erkrankungen wie Demenzen. Bei schweren psychischen Erkrankungen wie Psychosen oder bipolaren Störungen gibt es keine Zuwächse.
Nach Daten des Bundes-Gesundheitssurveys sind 31 % der Bevölkerung im Verlauf von 12 Monaten von einer psychischen Störung betroffen, aber nur 36 % der Bevölkerung erhalten eine Intervention (Jacobi et al. 2004). Vor dem Hintergrund des hohen Anteils unbehandelter Störungen werden Zuwächse bei psychischen Erkrankungen in der Literatur zuweilen als Belege für die Wirksamkeit von Kampagnen zur Entstigmatisierung und für eine gewachsene Sensibilität der Ärzte für psychiatrische/psychotherapeutische Behandlungserfordernisse gewertet.
Besonders auffällig sind die Zuwächse in der Psychotherapie. In einem Zeitraum von sieben Jahren nahm die Häufigkeit von bewilligten Psychotherapien um 61 Prozent zu (Abb. 1).
Mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes von 1999 ist die Anzahl niedergelassener Psychotherapeuten sprunghaft angestiegen. Es gibt heute rund 18.500 Psychotherapeuten, denen knapp 5.000 niedergelassene Nervenärzte/Psychiater gegenüber stehen. Auf einen Nervenarzt/Psychiater kommen also rund vier Psychotherapeuten.
Zur Häufigkeit von Richtlinien-Psychotherapien kursieren in der Fachliteratur stark divergierende Angaben. Auf der Homepage der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) wurden (10/2010) noch „knapp 300.000“ Psychotherapiefälle pro Jahr angegeben. Wenn dieser Wert, der auch von anderen Autoren übernommen wurde (z.B. Wittmann 2010), gültig wäre, würde ein Psychotherapeut pro Jahr rechnerisch nur 16 Patienten behandeln. Die Gmünder Ersatzkasse (GEK) hatte bereits 2007 eine Hochrechnung vorgelegt, nach der von 730.000 Psychotherapiefälle/Jahr auszugehen ist. Die divergierenden Angaben veranlassten die BPtK zu einer neuen Berechnung (12/2010). Danach werden gegenwärtig „mindestens 960.000 Patienten“ pro Jahr im Rahmen einer Richtlinienpsychotherapie behandelt, also rund 1 Mio. Patienten.
Die durchschnittliche Dauer von Therapien variiert zwischen 38,6 Sitzungen bei Verhaltenstherapie über 53,7 Sitzungen bei tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie bis weit über 100 Sitzungen bei analytischer Psychotherapie (Angaben der BPtK).
Zunahme von Erkrankungen oder verändertes
Inanspruchnahmeverhalten?
Die BPtK führt die beobachtbare Zunahme von psychischen Erkrankungen primär auf veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten zurück. Als Beispiele werden genannt: Zeitdruck und Arbeitsverdichtung im Beruf, im Berufsleben geforderte räumliche Mobilität mit Folge einer Abnahme dauerhafter sozialer Beziehungen, Sorge vor Verlust des Arbeitsplatzes, veränderte Rollenerwartungen an Frauen und Männer u.a. Um dem wachsenden Behandlungsbedarf gerecht werden zu können und um die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu verkürzen, fordert der Präsident der BPtK eine erhebliche Erhöhung der Bedarfsplanungszahlen für Psychotherapeuten: „In der Versorgung von psychisch kranken Menschen stoßen wir seit Langem an Kapazitätsgrenzen, die sich nur durch ein größeres Angebot von Behandlungsplätzen lösen lassen“ (Richter 2011).
Die Ursachenzuschreibungen haben eine hohe Plausibilität, empirisch belegt sind sie aber nicht. Natürlich kann Leistungsüberforderung ebenso wie Leistungsunterforderung zu psychischen Erkrankungen führen und psychotherapeutischen Behandlungsbedarf auslösen. Als universelle Erklärung für die stark gewachsene Nachfrage nach Psychotherapie sind diese Ursachenzuschreibungen aber nicht tauglich. Wären die Zusammenhänge so eindimensional und so eindeutig, wäre die Erwartung nahe liegend, dass sich die krank machenden gesellschaftlichen Gegebenheiten auch in einer Zunahme von Suiziden widerspiegeln würden. Aber hier findet man eine genau gegenläufige Entwicklung: Die Häufigkeit von Suiziden nimmt seit 30 Jahren kontinuierlich ab, die Suizidrate war im Jahr 2007 weniger als halb so groß wie 1980.
Andere Fachleute führen die behauptete/vermeintliche Zunahme von psychischen Erkrankungen primär auf eine gesellschaftliche Tendenz zurück, die manchmal mit dem saloppen Begriff „Jammern auf hohem Niveau“ beschrieben wird. Klaus Dörner stellt dazu fest: „Immer geringere Grade von Unwohlsein werden schon als ‚krankheitswertig diagnostiziert‘ und damit als therapiebedürftig anerkannt, was sich - weil objektiv kaum kontrollierbar - nach Konjunktur im Prinzip so weit ausweiten lässt, bis sich alle als psychotherapiebedürftig empfinden“ (Dörner 2010).
Vermutungen von Krankenkassen, dass Zuwächse in der Psychotherapie ein Stück weit auch auf den Faktor angebotsinduzierte Nachfrage zurückzuführen sind, werden nicht nur durch regionale Ballungen von Therapiefällen gestützt, sondern auch durch einen beobachtbaren Mentalitätswechsel bei den Betroffenen. In der Klientel, die von Psychotherapie erreicht wird, ist Psychotherapie oft nicht mehr stigmatisiert, man spricht im persönlichen Umfeld offen über die Absicht, sich einer Therapie zu unterziehen, oder über eigene Erfahrungen in der Psychotherapie. Die Angebote zur Psychotherapie sind vielfältig, sie kosten nichts, es bedarf keiner ärztlichen Überweisung und der Weg zu einem Psychotherapeuten ist nicht weit. Die Schwelle, einen niedergelassenen Psychotherapeuten aufzusuchen, ist für manche Betroffene heute offensichtlich niedriger als die Schwelle, eine Vertrauensperson zu kontaktieren, mit der man über persönliche Probleme sprechen könnte, oder zum Beispiel eine der viele Tausend psychosozialen Beratungsstellen aufzusuchen. Es gibt Beratungseinrichtungen mit den Angeboten Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Erziehungsberatung, Krisenintervention, Suchtberatung, Sexualberatung, Beratung für psychisch Kranke; die Hochschulen unterhalten psychotherapeutische Ambulanzen für Studierende, Gewerkschaften bieten psychosoziale Beratung an, in größeren Verwaltungen und Unternehmen werden im Rahmen von betrieblichem Gesundheitsmanagement psychosoziale Hilfen angeboten usw.
Lange Wartezeiten in der Psychotherapie
Die Ursachen für die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz müssen näher untersucht werden. Daten aus ganz unterschiedlichen Regionen ergeben in der Zusammenschau eine kuriose Gesetzmäßigkeit: Die Zunahme von Psychotherapeutensitzen führt nicht zu einer Verkürzung der Wartezeiten auf einen Therapieplatz, sondern zu einer Verlängerung. Nur ein Beispiel: Der Leiter einer psychiatrischen Klinik war bis zum Jahr 2000 über eine Ermächtigung als einziger Arzt in seiner Versorgungsregion psychotherapeutisch tätig. Er konnte den Bedarf neben seiner klinischen Tätigkeit abdecken. Heute sind in dieser Region 13 Psychotherapeuten niedergelassen. Der Klinikleiter stellte resigniert fest, dass er auf der Suche nach einem Therapieplatz für einen akuten Fall heute auf Wartezeiten bis zu einem halben Jahr verwiesen würde.
Interessant sind in diesem Zusammenhang Daten aus dem Bereich der KV Bremen, die grundsätzlich aber verallgemeinerbar sind. Dort rechnen Psychotherapeuten im Durchschnitt 21 Stunden ab und damit nur etwas mehr als die Hälfte der 36 Therapiestunden, die vom Bundessozialgericht als Maximalauslastung von Psychotherapie-Praxen festgelegt wurden. Der niedrige Durchschnittswert erklärt sich dadurch, dass ein Teil der Psychotherapeuten zwar einen vollen Psychotherapeutensitz in Anspruch nimmt, tatsächlich aber nur wenige Stunden therapeutisch tätig ist. Die KV Bremen hielt diese Situation unter dem Aspekt von Qualitätssicherung für nicht vertretbar und hat deshalb in den letzten Jahren 15 Psychotherapeutensitze aufgekauft und still gelegt. Aus der Sicht der KV Bremen wäre das Problem der Wartezeiten gelöst, wenn sich mehr Psychotherapeuten wenigstens dem Durchschnitt von 21 Stunden annähern würden. Von Hausärzten wird dies anders gesehen. Deren Position fasste ein Hausarzt so zusammen: „Egal ob wir halb so viele oder doppelt so viele Psychotherapeutensitze hätten, der Engpass würde weiter bestehen, denn viele Patienten gehen von sich aus zum Psychotherapeuten und der Bedarf ist riesig. Und wir Hausärzte finden dann weiterhin keine Plätze für schwerer psychisch Erkrankte unter unseren Patienten. Hilfreich wäre ein vernünftiges Primärarztsystem, in dem die Patienten vom Hausarzt an den Psychotherapeuten überwiesen werden. Einen Großteil der seelischen Nöte könnte man auch in der Hausarztpraxis in den Griff bekommen“ (Bakker 2009).
Zur Erklärung der nur teilweise ausgeschöpften Behandlungskapazitäten trägt auch der hohe Frauenanteil unter den Therapeuten bei. Der Beruf des Psychotherapeuten ist einer der wenigen akademischen Berufe, die es ermöglichen, Familie und Beruf zu vereinbaren und - in der Regel als Zweitverdiener - mit relativ geringer Zeitinvestition relativ gut zu verdienen. Was unter familien- und beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten zu begrüßen ist, stellt sich unter versorgungspolitischen Aspekten und unter Qualitätsgesichtspunkten als höchst bedenklich dar.
Kritik zur psychotherapeutischen Versorgung
Friedrich Neitscher, Vorsitzender der Vereinigung psychotherapeutisch tätiger Kassenärzte e.V., bilanzierte seine Erfahrungen zur gegenwärtigen Praxis der Psychotherapie so: „Wir haben den Eindruck, dass zunehmend mehr im Normalbereich therapiert wird und dass man sich immer mehr aus dem Bereich von wirklichen Erkrankungen zurückzieht.
Prof. Thomas Bock, Leiter der Sozialpsychiatrischen Psychose-Ambulanz am Universitätskrankenhaus Eppendorf, stellt fest: „Die Struktur von (Psychotherapie-) Einzelpraxen hat wesentlich dazu beigetragen, dass immer mehr finanzielle Ressourcen in die Arbeit mit fast gesunden Menschen gebunden sind und bei eher schwer psychisch kranken fehlen. Entsprechende Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit Psychosen oder bipolaren Störungen hier fast ausgeschlossen sind. … Ähnliche Konsequenzen hat die unsinnige kostentreibende und in Europa einmalige Trennung beziehungsweise Doppelung psychiatrischer und psychosomatischer Strukturen“ (Bock 2010: 23,24).
Diese kritischen Positionen werden durch die Ergebnisse einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse bekräftigt. Mit der Techniker Krankenkasse hatte sich erstmals eine Krankenkasse mit der Verteilung der Ressourcen in der psychotherapeutischen Versorgung näher auseinandergesetzt. Im Ergebnis spricht die TK von einer erheblichen Fehlallokation von Ressourcen und begründet diese Feststellung mit den folgenden Befunden (Ruprecht 2008) (Übersicht 1).
Auf die genannten Kritikpunkte soll im Folgenden näher eingegangen werden. Nehmen wir als Beispiel einen Patienten mit einer Zwangsstörung. Für die Therapie von Zwangsstörungen wäre Verhaltenstherapie prädestiniert. Die Patienten werden dies in der Regel nicht wissen und sie werden auch nicht unbedingt die therapeutische Ausrichtung des Psychotherapeuten kennen, den sie aufsuchen werden. Landet ein Patient zufällig bei einem tiefenpsychologischen Therapeuten, wird die Zwangsstörung eben dort behandelt. Hier werden Irrationalitäten des Psychotherapeutengesetzes transparent. Die Ausbildung der Psychotherapeuten erfolgt in der Regel immer noch orientiert an einem überholten Schuldenken. Gäbe es die längst überfällige Ausbildung zu einer evidenzbasierten störungsorientierten Psychotherapie, könnte sich nicht der Fall ergeben, dass Problemstellung von Patienten und Ausbildungshintergrund von Psychotherapeuten nicht gut „zusammen passen“.
Die Angebote der drei zugelassenen Psychotherapieverfahren sind regional sehr ungleich verteilt, was zur Folge hat, dass das zum Einsatz kommende Therapieverfahren vom Wohnort des Patienten abhängig werden kann. Einige Beispiele aus Regionen (jeweils Postleitzonen): In München-Stadt/Mitte wird Psychotherapie von depressiven Patienten in rund 30 Prozent der Fälle von Psychoanalytikern geleistet, in der Region Hamm dagegen in keinem einzigen Fall. In der Region Niederrhein kommt in 77 Prozent dieser Fälle Verhaltenstherapie zum Einsatz, im Vogtland nur in 16 Prozent. Bei gleicher Diagnose kann ein Patient an einem Ort 25 Stunden Psychotherapie erhalten, an einem anderen Ort 150 Stunden oder mehr.
Ob ein Patient auf die Behandlung ansprechen wird und nach wie viel Therapiesitzungen das Therapieziel erreicht sein wird, lässt sich natürlich nicht voraussagen. Insofern wäre die naive Erwartung, dass die tatsächliche Dauer der Therapie unabhängig von der bewilligten Anzahl von Therapiestunden variieren würde. Dies ist aber in der Regel nicht so. Werden z.B. 25 Therapiestunden bewilligt, wird dieses Kontingent auch voll ausgeschöpft. Für die Annahme, dass mehr psychotherapeutische Sitzungen als unbedingt notwendig für den Patienten von Vorteil sind, gibt es keine empirische Belege.
Unter den Behandlungsfällen nimmt der Anteil von Patienten mit höherer Krankheitslast stetig ab und entsprechend nimmt der Anteil von leichten und mittleren Störungen stetig zu. Psychotherapie erreicht Personen, die eine vergleichsweise hohe Kompetenz aufweisen, sich Leistungen zu erschließen. Nach Analysen von Daten der Gmünder Ersatzkasse zeigen Personen mit genehmigter Psychotherapie sowohl vor als auch nach Psychotherapie eine höhere Inanspruchnahme von gesundheitlichen Leistungen als Vergleichsstichproben (GEK 2007: 25). Psychisch kranke ältere Menschen gehören nicht zu dieser Gruppe und erst recht nicht zurückgezogen lebende Psychosekranke.
Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung widerspricht dieser Darstellung und betont, dass in der Psychotherapie die gesamte Palette der psychischen Störungen mit allen Schweregraden behandelt wird. Der Widerspruch wird allerdings nicht durch Daten zum Schweregrad der Erkrankungen von Psychotherapiepatienten unterfüttert, sondern mit dem Argument, dass es unter den Psychotherapeuten Tradition wäre, „in den Kassen zugänglichen Dokumenten für die Anträge und Abrechnungen abgeschwächte Diagnosen anzugeben, um ihren Patienten möglichst wenig zu schaden“ (Best 2010: 5). Nach Aussage des Präsidenten der BPtK liegen valide Daten zum Schweregrad der Erkrankungen von Psychotherapiepatienten nicht vor (Richter 2010).
Gleichzeitig stellt der Vorsitzende des Landesverbands Bayern der Vertragspsychotherapeuten fest: „Psychotherapeuten sind auch gehalten, vor allem Patienten mit guten Veränderungspotenzialen durch eine Psychotherapie zu behandeln“ (Waldherr 2010:12). Verbindlichkeit dieser Maßgabe unterstellt müssten sich Richtlinienpsychotherapeuten auf leichter Erkrankte fokussieren, für die bessere Veränderungspotenziale Definitionsmerkmal sind. Damit wäre implizit die Regel aufgestellt: Für leichter Erkrankte ist Psychotherapie zuständig, für schwerer Erkrankte der Psychiater.
Wie wird die psychotherapeutische Versorgung von den Angehörigenverbänden bewertet? In einem Leserbrief zu einem Beitrag über psychiatrische Versorgung im „Deutschen Ärzteblatt“ schrieb der Vorsitzende des Landesverbandes Hamburg der Angehörigen psychisch Kranker e.V.: „Bezüglich der psychotherapeutischen Versorgung wird von uns vor allem moniert, dass sich kaum Psychotherapeuten finden, die fachlich qualifiziert und außerdem bereit sind, Patienten zum Beispiel mit Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline, und Zwangserkrankungen zu behandeln. Dies sind unsere Erfahrungen in einer Groß- und Universitätsstadt, wie mag es im Flächenstaat aussehen? Wir halten es für einen untragbaren Zustand und beschämend für das System und diejenigen, die Verantwortung hierfür tragen, dass gerade schwer erkrankten Menschen die erforderliche therapeutische Hilfe in praxi vielfach nicht zuteil wird“ (Meyer 2009). In der Folge erklärte der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. diese Aussage als ubiquitär gültig.
In der ambulanten Versorgung entfallen von allen psychiatrischen Diagnosen 32 Prozent auf Personen ab 60 Jahre, aber nur sechs Prozent dieser Altersgruppe erhalten eine Psychotherapie (KVB 2009: 31) (Abb. 2). In der Region Münster konnte aufgezeigt werden, dass auch in psychotherapeutisch sehr gut versorgten Regionen nur ein Bruchteil psychisch erkrankter älterer Menschen bedarfsgerecht psychotherapeutisch behandelt wird (Imai 2007). Dabei ist belegt, dass Psychotherapie bei älteren Menschen nicht weniger wirksam ist als bei jüngeren.
Anträge auf Gewährung von Psychotherapie durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Mit Nachweis von hinreichender Erfahrung kann ein Psychotherapeut von der Gutachterpflicht auch befreit werden. Das reguläre Begutachtungsverfahren verschlingt Millionen Euro, hat aber keinen Steuerungseffekt, da praktische alle Erstanträge (96 %) bewilligt werden (KBV-Statistik 2006). Unter wirtschaftlichen Aspekt wäre es günstiger, das gegenwärtige Gutachterverfahren ganz abzuschaffen. Die Ausgaben für die bisher abgelehnten Einzelfälle wären gegenüber den eingesparten Kosten für das Gutachterverfahren vernachlässigbar.
Kann man Psychotherapeuten Vorwürfe machen, weil sie in der Regel eher leichter kranke und jüngere Patienten behandeln, keine Gruppenpsychotherapie anbieten, nicht in die regionale Versorgung eingebunden sind, nicht an Kriseninterventionen beteiligt sind? Eigentlich nicht. Solange das System so ist, dass ein Psychotherapeut bei hoher Nachfrage und bei gleichem Entgelt zwischen schwierigen und weniger schwierigen Patienten wählen kann, wird er natürlich die Patienten mit guten Veränderungspotentialen auswählen, Fälle, die mit weniger Aufwand zu behandeln sind, Fälle mit erwarteter guter Compliance, Fälle, die den getakteten Tagesablauf des Therapeuten nicht gefährden usw.
Grenzziehung zwischen akademischer und
nichtakademischer Psychotherapie
Bisher wurde Psychotherapie mit Richtlinienpsychotherapie gleichgesetzt. Psychotherapie ist aber nicht die Domäne von Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten allein. Auch andere Berufsgruppen erbringen Psychotherapie: Sozialarbeiter/-pädagogen in der Suchttherapie oder in Beratungseinrichtungen, Soziotherapeuten im Rahmen von IV-Verträgen, von ambulanter psychiatrischer Krankenpflege wird teilweise Psychotherapie erbracht usw. Das Heilpraktikergesetz ermöglicht eine Zulassung als „Psychotherapeut/in nach dem Heilpraktikergesetz“, dessen/deren Leistungen von privaten Krankenkassen in der Regel erstattet werden. Die Vergütungssätze der nicht-akademischen Therapeuten liegen natürlich weit unter denen der Richtlinienpsychotherapie.
Von zentraler Bedeutung wird die Frage, an welcher Stelle auf dem Kontinuum zwischen leichteren Belastungen oder Befindlichkeitsstörungen bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen die Grenze zu ziehen ist, von der an eine Behandlung durch akademisch ausgebildete Psychotherapeuten erforderlich/gerechtfertigt ist.
Prof. Michael Linden, Leiter der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik an der BfA-Klinik Seehof und Leiter des Referats Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), stellt zu dieser Problematik fest: „Hohe Ausbildungsstandards für Psychotherapie sind nur zu rechtfertigen, wenn Psychotherapie sehr viel konsequenter auf Krankenbehandlung im engeren Sinne eingeschränkt wird und supportive Therapie oder die Unterstützung bei der Bewältigung allgemeiner Lebensbelastungen anderen überlassen wird. Es muss gefordert werden, dass Psychotherapeuten deutlich anderes tun als wohlmeinende Helfer. Eine gute Therapeut-Patient-Beziehung wie sie von integrativen Psychotherapiemodellen als zentrales Heilmittel propagiert wird, wird nicht hinreichen können“ (Linden 2010: 166).
Korrekturbedarfe
Die unter den Aspekten von Versorgungsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit aufgezeigten Schieflagen im System der Richtlinienpsychotherapie bedürfen einer Korrektur. Hier sollen nur einige mögliche Ansatzpunkte für Veränderungen angerissen werden. Innovative Versorgungsmodelle, wie sie z.B. von der Techniker Krankenkasse entwickelt wurden, bleiben außer Betracht.
• Da unterhalb der Schwelle von Richtlinienpsychotherapie ein umfangreiches Angebot von psychotherapeutischen Hilfen zur Verfügung steht, könnte die Bewilligung von Richtlinienpsychotherapie vom Nachweis abhängig gemacht werden, dass diese Hilfen ausgelotet/ausgeschöpft wurden und sich als nicht geeignet/ausreichend erwiesen haben.
• Um zu gewährleisten, dass Psychotherapie Patienten vorbehalten bleibt, die im engeren Sinn psychisch krank sind, sollten objektivierbare und nachprüfbare „Zugangskriterien“ entwickelt werden.
• Es sollte mehr Flexibilität und Ökonomie im Umgang mit Ressourcen gewährleistet werden. Die Umfänge von Psychotherapieerfordernissen variieren auf einem breiten Kontinuum. Psychosoziale Beratungsstellen können Hilfen im Umfang von nur wenigen Stunden anbieten. Reichen diese Hilfen nicht aus und wird deshalb eine Psychotherapie beantragt, steht dafür zunächst ein Kontingent von 25 Therapiestunden zur Verfügung. Warum die Bewilligung jedes Erstantrags auf Gewährung von Psychotherapie gleich 25 Therapiestunden einschließt, ist fachlich kaum begründbar, zumal Verlängerungsanträge ohnehin möglich sind.
• Empirisch belegt ist, dass der Nutzen einer Therapie nicht linear mit der Dauer der Therapie zunimmt (Margraf 2009). Vor diesem Hintergrund sollten bei der Bewilligung von Langzeittherapien und Verlängerungsanträgen verstärkt Kosten-Nutzen-Erwägungen stattfinden. Unter dem Aspekt von Versorgungsgerechtigkeit sollten dabei auch die Gegebenheiten in der psychiatrischen Basisversorgung im Blickfeld behalten werden. 150 Psychotherapiestunden schlagen mit 12.000 Euro zu Buche. Dieser Betrag entspricht etwa den Ressourcen, mit denen ein Psychiater für die Behandlung von 75 meist schwerer psychisch Kranken über vier Quartale auskommen muss.
• Der Sachverhalt, dass psychisch erkrankte ältere Menschen von Psychotherapie bisher weitgehend ausgeschlossen sind, ist nicht tolerierbar. Die BPtK und die Verbände der Psychotherapeuten sind gefordert, Regelungen zu treffen, die sicher stellen, dass auch ältere Patienten bedarfsgerechte psychotherapeutische Hilfen erhalten.
• Wie für alle anderen Versorgungsbereiche ist auch für Psychotherapie die Etablierung von standardisierten Verfahrensweisen zur Qualitätssicherung und zur Ergebnistransparenz dringlich geboten.
Psychotherapie vs. psychiatrische Versorgung
Das Psychotherapeutengesetz führte zu einer grundlegenden Verschiebung der Gewichte von psychiatrischer Basisversorgung und von Psychotherapie. Von den Gesamtausgaben in der vertragsärztlichen Versorgung entfallen rund drei Viertel auf Richtlinienpsychotherapie und nur ein Viertel auf die Leistungen von Nervenärzten/Psychiatern (Melchinger 2008).
Die große Mehrheit der in der Psychiatrie Tätigen fühlt sich konzeptionell dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell verpflichtet. Der aus diesem Modell abgeleitete integrative Behandlungsanspruch, der das komplexe Bedingungsgefüge für die Entstehung und die Aufrechterhaltung von Erkrankungen ins Blickfeld nimmt, wird aber selten realisiert. Man hat sich daran gewöhnt, dass psychiatrische Basisversorgung und Psychotherapie durch verschiedene Berufsgruppen geleistet werden. In der Praxis stößt man nicht selten auf die Sichtweise, dass es zur Behandlung von psychischen Störungen grundsätzlich eine dichotome Perspektive gäbe, Psychotherapie oder Psychopharmakotherapie. Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell wird damit konterkariert.
Niedergelassene Psychiater, die das Gros der psychisch Kranken behandeln, haben den Anspruch, als eine Art Leitstelle für die Versorgung zu fungieren, ein Gesamtbehandlungskonzept zu entwickeln und zu steuern und Kontakte zu anderen Hilfeangeboten zu vermitteln. Den Fachärzten steht pro Quartal aber nur etwa eine halbe Stunde finanzierte Behandlungszeit zur Verfügung. Unter diesen Vergütungsgegebenheiten bleibt ihnen oft keine andere Wahl, als sich auf Verordnung von Medikamenten und auf kurze Gespräche zu beschränken. Die für einen Behandlungserfolg unverzichtbare stützende, lösungsorientierte, compliancefördernde, am Bedarf und am Krankheitsstadium flexibel orientierte psychiatrische Therapie wird nicht finanziert. Psychotherapie geschieht an einem anderen Ort und nicht immer unter Rückkoppelung mit dem behandelten Facharzt.
Verlierer in der Versorgung
Die Verlierer in der Versorgung sind ältere psychisch kranke Menschen und vor allem die chronisch psychisch Kranken, die Gruppe, deren Versorgung in der Psychiatrieenquete als prioritär verbesserungsbedürftig herausgestellt wurde. Wären diese Patienten nur leichter erkrankt, hätten sie auch die Chance auf intensive Psychotherapie oder auf einen Behandlungsplatz in einer der zahlreichen Reha-Kliniken für psychosomatische Medizin. In diesen Häusern, die oft in Hochglanzbroschüren unter Hinweis auf eine Vier-Sterne-Hotel-äquivalente Ausstattung um Patienten werben und die sich aus Marketing-Gründen gerne von der „vulgären“ Psychiatrie absetzen, wird man keine chronisch psychisch Kranken finden. Ein chronisch psychisch Kranker, dem eine Auszeit aus einem pathogenen Lebensumfeld wenigstens temporäre Entlastung verschaffen könnte, wird keinen Kostenträger zu finden, der eine entsprechende Maßnahme finanzieren würde, und in diesen Kliniken würde er ohnehin nicht aufgenommen werden.
Im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 wurde ambulante Soziotherapie als Leistungsanspruch für chronisch psychisch Kranke gesetzlich festgeschrieben. Soziotherapie wurde damals vom Bundesgesundheitsministerium gewürdigt als „erste und bisher einzige Leistung in der ambulanten psychiatrischen Versorgung, die der Vorgabe des § 27, Abs.1 SGB V ‚Bei der Krankenbehandlung ist den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen‘ folgt“. Aus Kostengründen wird dieses Gesetzes durch die Krankenkassen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bis heute blockiert. Bürokratische Hürden und prohibitiv niedrige Vergütungssätze verhindern die Etablierung von flächendeckenden Angeboten und damit die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer gesetzlich verankerten Leistung. Einem chronisch psychisch Kranken, für dessen Stabilisierung gelegentliche Unterstützung durch ambulante Soziotherapie konstitutiv sein könnte, wird diese Hilfe verweigert.
2005 wurde mit der ambulanten psychiatrischen Krankenpflege ein zweites Versorgungsangebot für chronisch psychisch Kranke gesetzlich verankert. Die Erfahrungen aus der Praxis sind sehr positiv. Auf der Landkarte findet man aber heute nur einige wenige Flecken, wo ambulante psychiatrische Krankenpflege tatsächlich angeboten wird. Die Gründe für die Blockade von ambulanter psychiatrischer Krankenpflege sind die gleichen wie die für die Verweigerung von ambulanter Soziotherapie aufgeführten.
Betriebswirtschaft vs. Volkswirtschaft
Unter betriebswirtschaftlichem Aspekt ist die unzureichende ambulante Versorgung von chronisch psychisch Kranken für die Krankenkassen nicht immer ungünstig. Wird zum Beispiel ein schizophren erkrankter Patient nicht ausreichend ambulant versorgt und kommt es in der Folge zu wiederholten Rezidiven, kann ein eigenständiges Leben zunehmend schwieriger werden und die Aufnahme in das Betreute Wohnen oder eine Heimunterbringung können unvermeidbar werden. Damit tritt dann die Kostenzuständigkeit des Sozialhilfeträgers und/oder der Pflegeversicherung ein, die jetzt mit erheblichen höheren dauerhaften Ausgaben belastet werden. Die Leistungspflicht der Krankenkassen besteht dann zwar weiterhin, aber Krankenkassenleistungen, die geeignet sein könnten, um die Betroffenen für ein Leben außerhalb von Einrichtungen zu rüsten, werden aber de facto nicht mehr gewährt. Volkswirtschaftlich betrachtet bedeutet die Sektorisierung von Kostenzuständigkeiten eine immense Verschwendung von Ressourcen.
In seinem berühmt gewordenen „Inverse Care Law“ stellte Julian Tudor Hart für das britische Gesundheitssystem fest: „The availability of good medical care tends to vary inversely with the need for it in the population served“ (Hart, 1971). Frei übersetzt: Je größer der Hilfebedarf von Kranken ist, desto weniger Hilfen stehen zur Verfügung. Diese Feststellung trifft uneingeschränkt auch für die psychiatrische Versorgung in Deutschland zu.
Psychische Erkrankungen sind bekanntlich nicht unabhängig von der sozialen Herkunft. Die Erkrankungsraten sind in den unteren sozialen Schichten zwei- bis dreimal so groß wie in den Mittelschichten. Die Benachteiligung von chronisch psychisch Kranken bedeutet damit auch gravierendes soziales Unrecht. Die ärztliche Selbstverwaltung kann die erforderlichen Korrekturen aus eigener Kraft nicht bewerkstelligen. Hier ist eine Intervention der Politik gefordert. Die Politik scheut jedoch die bei jeder Intervention zu erwartenden Konflikte mit einflussreichen Gruppen und zieht sich deshalb gerne auf das hehre Argument zurück, sich nicht in die ärztliche Selbstverwaltung einmischen zu wollen. Es geht hier aber nicht um standespolitische Interessen, sondern um die Einforderung von grundgesetzlich garantierter Chancengleichheit, die auch für die psychiatrische Versorgung gelten muss. <<