Der Einfluss der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Arbeit der STIKO und Vorschläge zur Vorbereitung auf die nächste Pandemie
Impfstoffe sind Arzneimittel und zählen durch ihre präventive Wirkung als Schutz vor Erkrankung oder schwerwiegender Erkrankung – sofern verfügbar - auch in pandemischen Lagen zu den effektivsten pharmakologischen Interventionen (Graña 2022). Für die Regelversorgung mit Impfungen in der gesetzlichen Krankenversicherung existiert ein umfassender rechtlicher Rahmen. Dieser basiert auf dem in § 20i Sozialgesetzbuch V (SGB V) geregelten Leistungsanspruch der Versicherten auf Schutzimpfungen. Die Einzelheiten bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in der Schutzimpfungsrichtlinie. Die Beschlüsse des G-BA basieren auf den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut. Sie wurde 1972 gebildet und ihre Arbeit basiert auf § 20 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Die STIKO ist ein ehrenamtlich tätiges Gremium, das ohne Honorierung arbeitet. Die SARS-CoV-2-Pandemie erforderte die Organisation einer in Umfang und Geschwindigkeit beispiellosen Impfkampagne. Die Arbeit der STIKO hatte eine zentrale Rolle, um auf Grundlage der Daten zu Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Schutzdauer möglichst zeitnah wissenschaftlich fundierte Empfehlungen für den Einsatz der verfügbaren Impfstoffe abzuleiten. Entsprechend war das öffentliche Interesse an ihrer Tätigkeit wohl nie in ihrer 50-jährigen Geschichte so groß wie im Kontext der SARS-CoV-2-Pandemie. Die außerordentliche Herausforderung, der sich die STIKO als ehrenamtlich tätiges Gremium durch die SARS-CoV-2-Pandemie stellen musste, war in Verbindung mit der zentralen Bedeutung ihrer Empfehlungen Anlass der vorliegenden Untersuchung, wie die Empfehlungspraxis der STIKO durch die SARS-CoV-2-Pandemie beeinflusst wurde.
>> Die STIKO legt auf den Internetseiten des Robert Koch-Institut (RKI) ihre Aktivitäten detailliert offen. Dazu zählen die Sitzungsprotokolle der STIKO, die ab der 74. STIKO-Sitzung vom 05./06.11.2012 fortlaufend zugänglich sind. Dazu gehören auch Veröffentlichungen wie Empfehlungen im Epidemiologischen Bulletin, Pressemitteilungen und weitere.
Durch eine quantitative Erfassung der Inhalte dieser Dokumente gegliedert nach Indikationen konnten für den fünfjährigen Zeitraum von 2015 bis 2019 Zahl und inhaltliche Ausrichtung der Befassungen der STIKO unter „normalen“ präpandemischen Bedingungen erfasst und mit den zunehmend von der SARS-CoV-2-Pandemie geprägten Jahren 2020 bis 2022 (für letzteres bis 30. Juni) verglichen werden.
Methodisches Vorgehen
Für eine vergleichende Darstellung der Empfehlungspraxis der STIKO wurden für den Analysezeitraum vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2022 zunächst alle auf den Webseiten des RKI veröffentlichten Empfehlungen, Mitteilungen, Stellungnahmen und Pressemitteilungen der STIKO ermittelt. Hierzu wurden die Webseiten des RKI (RKI-Startseite) systematisch nach allen Veröffentlichungen der STIKO
im Analysezeitraum durchsucht.
Als wesentliche Quellen wurden dabei die Sitzungsprotokolle (RKI STIKO-Protokolle) und Empfehlungen der STIKO identifiziert. Empfehlungen der STIKO werden in unterschiedlichen Veröffentlichungsmedien publiziert. Dazu gehören u. a. Mitteilungen, Stellungnahmen und Begründungen im Rahmen des Epidemiologischen Bulletins sowie Pressemitteilungen. Die Veröffentlichungsmedien (Epidemiologisches Bulletin (RKI Epid. Bulletin) und Pressemitteilungen (RKI Presse) werden ebenso auf der Website des RKI veröffentlicht.
Alle für den Zeitraum 01.01.2015 bis 30.06.2022 ermittelten Veröffentlichungen der STIKO wurden chronologisch erfasst und nach Kriterien (Datum, Typ der Veröffentlichung, Format, weitere) tabellarisch geordnet, um eine differenzierte Erfassung der jeweiligen Veröffentlichung zu ermöglichen (Gerbsch et. al 2022: 80). Besonders wurde dabei die Indikation bzw. der Impfstoff berücksichtigt, mit der bzw. dem sich die Veröffentlichung inhaltlich befasst.
Um die Empfehlungspraxis der STIKO zu den Schutzimpfungen insbesondere im Hinblick auf die verschiedenen Indikationen bzw. Impfstoffe zu analysieren, wurden die Veröffentlichungen ausgehend von dem Kriterium Indikation/Impfstoff differenziert ausgewertet. Wenn der Gegenstand einer Veröffentlichung sich inhaltlich mit verschiedenen Indikationen bzw. Impfstoffen gleichzeitig befasst, wurde diese Veröffentlichung mehrmals erfasst und jede Indikation bzw. jeder Impfstoff einzeln aufgenommen.
Da die erfassten Veröffentlichungen inhaltlich unterschiedliche Themen behandeln, wurde als Oberbegriff einer Eintragung der Terminus „Befassung“ gewählt. Die Auswertungen erfolgten primär durch Zählung der Befassungen.
Für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis zum 30.06.2022 wurden insgesamt 657 Befassungen, d. h. Veröffentlichungen der STIKO, differenziert nach dem Kriterium Indikation/Impfstoff identifiziert. Um sicherzustellen, dass bei der Analyse der Empfehlungspraxis der
STIKO regelmäßig wiederkehrende Veröffentlichungen den Umfang von neuen Empfehlungen zu Schutzimpfungen nicht verzerren, wurden drei verschiedene Erfassungsversionen der STIKO-Veröffentlichungen erstellt:
• Version 1: Vollständige Erfassung aller Veröffentlichungen der STIKO. Sie beinhaltet alle STIKO-Protokolle, Epidemiologische Bulletins, Pressemitteilungen und sonstige Veröffentlichungen, zusammen 657 Befassungen.
• Version 2: Beschränkung der Erfassung nur auf Tätigkeiten der STIKO, die in Protokollen der STIKO-Sitzungen dokumentiert sind; Teilmenge von Version 1; 249 von 657 Befassungen.
• Version 3: Weitere Teilmenge von Version 1, bei der die in STIKO-
Protokollen dokumentierten Befassungen der Version 2 und regelmäßig wiederkehrende (Standard-)Veröffentlichungen zu Impfempfehlungen ausgeklammert sind. Letztere betreffen die jährlich erscheinende Empfehlung der STIKO zu Schutzimpfungen, Reiseimpfempfehlungen oder Empfehlungen zu Impfungen von Personal in medizinischen Einrichtungen; 155 von 657 Befassungen.
Durch den unterschiedlichen Umfang in den verschiedenen Versionen kann bei der Analyse der Empfehlungspraxis der STIKO unterschieden werden zwischen:
• einer umfassenden Analyse, welche die gesamten Veröffentlichungen der STIKO abdeckt (Version 1),
• einer Analyse mit einem Fokus auf die Tätigkeit der STIKO im Rahmen ihrer turnusmäßigen Sitzungen (Version 2),
• einer Analyse, bei der ausschließlich die neuen Empfehlungen der STIKO berücksichtigt werden und damit die jährliche Aktivität der STIKO unabhängig von standardisierten Empfehlungen gemessen werden kann (Version 3).
Im vorliegenden Beitrag werden aus Platzgründen nur die Ergebnisse der Entwicklung der Gesamtzahl der Befassungen pro Indikation und Jahr für die drei vorgenannten Versionen gezeigt. Es sei darauf hingewiesen, dass in der Studie weitere Auswertungen z. B. nach Befassungstypen sowie der Gesamtzahl der Befassungen mit und ohne Covid-19 vorgenommen wurden.
Ergebnisse
1. Befassungen pro Indikation und Jahr von 2015 bis 2022
(Version 1)
Die Analyse aller STIKO-Befassungen zeigt in den Jahren 2015 bis 2019 vor der SARS-CoV-2-Pandemie zwischen 64 und 81 Befassungen pro Jahr (Abb. 1). Der Durchschnitt liegt in diesem Zeitraum bei 74 Befassungen pro Jahr.
Das Jahr 2020 wurde in die Durchschnittsbildung des Referenzwertes nicht einbezogen, da hier die Pandemie bereits erste Auswirkungen zeigte. So nahm die Anzahl der Befassungen zu Covid-19 im Jahr 2020 mit acht Befassungen bereits einen Spitzenwert bei den Indikationen ein. Dieser lag knapp über bisherigen Spitzenwerten (HPV, 2018 und Pertussis, 2019 mit je sieben Befassungen).
Deutlich werden die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie im Jahr 2021. Die Zahl von 55 Befassungen nur mit der Indikation Covid-19 liegt fast um den Faktor acht über dem Spitzenwert der Befassung mit einer einzelnen Indikation in der präpandemischen Phase. Die Gesamtzahl der Befassungen liegt mit 123 um 67% über dem Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019, wovon allein 45% auf die einzelne Indikation Covid-19 entfallen.
Aus Gründen der Lesbarkeit werden in Abbildung 1 nur die Legenden der zwölf häufigsten von 49 Indikationen/Hinweisen gezeigt. Die Vielzahl der Farben zeigt das breite Spektrum der jährlich behandelten Indikationen, die Höhe der Felder deren Häufigkeit pro Jahr. Eine vollständige Legende findet sich im Volltext der Studie (Gerbsch et al. 2022: 86).
Bereinigt um die Befassungen mit Covid-19, ist 2021 die Zahl der Befassungen mit den verbleibenden Indikationen im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015- 2019 um 8% gesunken.
Deutliche Abweichungen in den Pandemiejahren zeigen sich auch bei Betrachtung der Befassungsintensität. Hier wird der Durchschnitt der Zahl der Befassungen pro Jahr und Indikation ermittelt, der zwischen 2015 und 2019 bei 2,4 Befassungen pro Indikation und Jahr liegt. Über alle Indikationen hinweg steigt dieser Durchschnitt im Jahr 2021 auf 3,2 an, bei Bereinigung um Covid-19 fällt er jedoch auf 1,8. Der Fokus lag auf der Indikation Covid-19, mit der sich die STIKO intensiv befassen musste, während die Befassungsintensität für alle anderen Indikationen um rund 25% zurückging.
2. Befassungen in STIKO-Protokollen von 2015 bis 2022
(Version 2)
Die Auswertung der STIKO-Protokolle bezieht sich auf die Teilmenge der 249 Befassungen, die ausschließlich den STIKO-Protokollen entnommen sind.
Die Analyse aller STIKO-Befassungen im Zeitverlauf des Analysezeitraums zeigt in den Jahren 2015 bis 2019 vor der SARS-CoV-2-Pandemie zwischen 32 und 46 Befassungen pro Jahr (Abb. 2), der Durchschnitt liegt bei 39 Befassungen.
Das Jahr 2020 wurde in die Durchschnittsbildung nicht einbezogen, da sich auch bei dieser Auswertung erneut erste Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Arbeit der STIKO zeigten: Die Zahl der in den Protokollen dokumentierten Befassungen sank gegenüber dem Durchschnittswert auf 32 und liegt damit im Bereich des Minimums der Vorjahre (gleichauf mit 2018).
Deutlich wird die prägende Rolle der Pandemie im Jahr 2021. Hier lag die Zahl der Befassungen bei 13 und damit 67% unter dem präpandemischen Durchschnitt. Davon entfielen sieben Befassungen auf Covid-19, was die Konzentration der Arbeit auf diese Indikation verdeutlicht, denn die STIKO war nicht weniger tätig, sondern musste ihre in den STIKO-Protokollen dokumentierte Tätigkeit auf weniger Indikationen und hier vor allem auf Covid-19 konzentrieren.
Auch der Rückgang bei Betrachtung der unterschiedlichen Indikationen fällt auf: Dokumentieren die Protokolle im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019 die Befassung mit 14 unterschiedlichen Indikationen pro Jahr, sinkt dieser Wert im Jahr 2021 auf vier Indikationen, bereinigt um Covid-19 sogar auf nur drei, was einen Rückgang um 72% und ebenfalls eine weitgehende Fokussierung auf Covid-19 belegt.
Ähnlich starke Veränderungen zeigt die Analyse der Befassungsintensität. Lag die durchschnittliche Zahl der Befassungen pro Indikation und Jahr im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019 bei 2,8, so steigt dieser Wert 2021 auf 3,3, bereinigt um Covid-19 ging er jedoch auf 2,0 und damit für die Indikationen außer Covid-19 um rund 28% zurück.
3. Befassungen ohne STIKO-Protokolle und Standardempfehlungen von 2015 bis 2022 (Version 3)
Diese Auswertung basiert auf der Erfassung der STIKO-Veröffentlichungen ohne STIKO-Protokolle und regelmäßig wiederkehrende (Standard-)Veröffentlichungen zu Impfempfehlungen (wie z. B. die jährlich erscheinende Empfehlung der STIKO zu Schutzimpfungen, Reiseimpfempfehlungen oder Empfehlungen zu Impfungen von Personal in medizinischen Einrichtungen). Sie basiert auf 155 Befassungen und spiegelt damit vor allem die Befassung mit neuen Indikationen und Fragestellungen, die über das „Standardprogramm“ hinausgehen.
Während die Auswertungen auf Ebene der STIKO-Protokolle in Abschnitt 2 einen erheblichen Rückgang der Befassungen auf absoluter Ebene zeigen, belegt die Auswertung auf Ebene der Befassungen ohne STIKO-Protokolle und Standardimpfungen vor allem den Anstieg der Befassungen mit der neuen Indikation Covid-19 (Abb. 3).
Die Analyse aller Befassungen ohne STIKO-Protokolle und Standardempfehlungen im Zeitverlauf des Analysezeitraums zeigt in den Jahren 2015 bis 2019 vor der SARS-CoV-2-Pandemie zwischen acht und 18 Befassungen pro Jahr, im Mittel 9,6.
Das Jahr 2020 liegt mit 25 Befassungen (plus 160%) in elf Indikationen deutlich darüber, wovon allein fünf Befassungen auf
Covid-19 entfallen. Deutlich wird die überragende Rolle der Pandemie im Jahr 2021: Hier lag die Zahl der Befassungen bei 54 (davon 49 zu Covid-19) in nur noch vier Indikationen und damit um 463% über dem Mittelwert der Jahre 2015–2019. Ein Beleg, in welchem Umfang sich die STIKO insbesondere hinsichtlich neuer Indikationen nahezu vollständig auf Covid-19 fokussieren musste.
Erklärungsbedürftig ist das Jahr 2019 mit nur einer Befassung. Hier liegt ein Sondereffekt vor: Die Impfempfehlungen der STIKO für das Jahr 2018/2019 wurden abweichend von der sonstigen Praxis bereits Ende 2018 veröffentlicht und daher auch dort erfasst, die Empfehlungen für das Jahr 2019/2020 dagegen wieder Anfang 2020 und damit dem Jahr 2020 zugeordnet. Dies erklärt einerseits die mit 18 Befassungen fast doppelt so hohe Befassungszahl des Jahres 2018 aber auch das mit nur einer Befassung vorliegende Minimum im Jahr 2019.
Die Anzahl der Befassungen in absoluten Zahlen lag bei 9,6 im Mittel der Jahre 2015 bis 2019, stieg jedoch auf 54 im Jahr 2021 stark an, bereinigt um Covid-19 ging sie dagegen auf fünf Befassungen zurück. Vergleichbar starke Effekte zeigt die Analyse der Befassungsintensität. Lag die durchschnittliche Befassung pro Indikation und Jahr im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019 bei 1,3, so stieg dieser Wert 2021 auf 13,5 – verzehnfachte sich also.
Ergebnisse
Die Analysen und Auswertungen zeigen, dass die STIKO in der Pandemie als ehrenamtliches Gremium einen massiven Anstieg der Arbeitslast bewältigen musste. Dies war nur durch eine deutliche Fokussierung auf Covid-19-Impfungen möglich.
Formal sank die Zahl der in den STIKO-Protokollen dokumentierten Befassungen, da sich diese auf Covid-19 konzentrierten. Sie führten gleichzeitig zu einem erheblichen Anstieg der Gesamtzahl der Befassungen über die STIKO-Protokolle hinaus.
Diese Fokussierung ging zulasten der Kapazitäten für die Bearbeitung anderer neuer Indikationen. Dass der STIKO als ehrenamtlich besetzter Kommission angesichts der Herausforderungen der SARS-CoV-2-Pandemie und der begrenzten Ressourcen keine andere Möglichkeit blieb, um die Arbeitslast zu bewältigen, ist plausibel.
Ob dies ein mit Blick auf die Zukunft akzeptabler Zustand ist und ob bzw. wie die Strukturen der STIKO auf weitere Pandemien vorbereitet werden müssten, wird im Folgenden diskutiert.
Vorschläge zur Vorbereitung auf die
nächste Pandemie
Es stellt sich die Frage, welche Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen werden können, um die STIKO als ehrenamtliches Gremium für künftige Pandemien vorzubereiten und eine Überlastung in Krisenlagen zu verhindern.
Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten internationalen Standards für „National Immunization Technical Advisory Groups“ geben vor, dass diese unabhängig von Einflüssen der Kostenträger, der pharmazeutischen Industrie und der Politik agieren (Bundestag 2022: 4). Die STIKO entspricht diesen Vorgaben.
Insofern ist es folgerichtig, dass die Bundesregierung in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur STIKO feststellt: „Eine strukturelle Neukonstituierung ist aus Sicht der Bundesregierung nicht notwendig“ (Bundestag 2022: 5).
Die SARS-CoV-2-Pandemie mit der historisch schnellen Entwicklung neuer, hochwirksamer Impfstoffe zeigt, dass in pandemischen Szenarien die Verfügbarkeit von Impfstoffen ein zentraler Erfolgsfaktor für die Bewältigung der Krise ist. In einer Struktur, in der Impfungen maßgeblich auch auf den Empfehlungen eines unabhängigen Gremiums basieren, gilt dies damit auch für Arbeit und Leistungsfähigkeit dieses Gremiums: in Deutschland der STIKO.
Es wird daher mit Blick auf die Ergebnisse der Analysen die Notwendigkeit gesehen, die STIKO organisatorisch und bezüglich ihrer Ressourcen besser auf unvorhersehbare und sich schnell entfaltende Krisenszenarien vorzubereiten, um sicherzustellen, dass sie ohne unzumutbare Überlastung der ehrenamtlichen Mitglieder jederzeit ihrem vollen Auftragsumfang zeitgerecht nachkommen kann.
Die STIKO ist mit Blick auf ihre Rolle und Bedeutung in pandemischen Lagen als kritische Infrastruktur einzuordnen. Gleichzeitig ist die STIKO vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit ihrer Mitglieder und deren ehrenamtlicher Mitwirkung eine außerordentlich effiziente Struktur.
Daran sollte im Grundsatz vor dem Hintergrund der von der WHO entwickelten internationalen Standards und der inzwischen 50-jährigen guten Erfahrungen nichts geändert werden.
Gleichzeitig muss die STIKO in die Lage versetzt werden, ihre Kapazitäten dynamisch an unvorhersehbare und sich schnell entfaltende pandemische Szenarien oder vergleichbare Lagen anzupassen.
Daher wird vorgeschlagen, möglichst bereits zum nächsten Berufungszeitraum
• aus ausgeschiedenen Mitgliedern der STIKO und weiteren unabhängigen sowie mit der Arbeitsweise der STIKO vertrauten Persönlichkeiten eine Krisenreaktionsreserve mit 12 bis 18 Mitgliedern zu schaffen. Die vorgenannte Zahl entspricht der Zahl der regulären Mitglieder gemäß Geschäftsordnung der STIKO.
• Die Mitglieder der Krisenreaktionsreserve können auf Vorschlag des Vorsitzenden mit einfacher Mehrheit der STIKO-Mitglieder für ein Kalenderjahr zur Unterstützung der STIKO aktiviert werden.
• Die Aktivierung der Krisenreaktionsreserve erfolgt zu 50% oder 100% ihrer Mitgliederzahl, soweit sukzessive als Überlastungskriterien definierte Schwellenwerte überschritten werden.
• Soweit die Überlastung andauert, kann die Aktivierung um ein Kalenderjahr verlängert werden. Endet die Überlastungssituation vor Ablauf eines Jahres, wird zu diesem Zeitpunkt je nach Belastungssituation die Aktivierung einer Hälfte oder aller Mitglieder der Krisenreaktionsreserve beendet. Sie kehren damit in den Reservestatus zurück.
• Die Zahl der Mitarbeiter des RKI, welche die STIKO unterstützen, wird aus dem regulären Personalstamm im gleichen prozentualen Anteil erhöht oder reduziert, mit dem Mitglieder der Krisenreaktionsreserve aktiviert werden oder in den Reservestatus zurückkehren. Insofern ist auch beim RKI eine Reserve erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bilden, die bei Bedarf flexibel für die Unterstützung der STIKO aktiviert werden können.
Diese Maßnahmen dienen zur Entlastung der regulären Mitglieder in Krisenlagen und um sicherzustellen, dass die STIKO jederzeit ihrem vollen Auftragsumfang zeitgerecht nachkommen kann.
Es wird vorgeschlagen, aus ausgeschiedenen Mitgliedern der STIKO und weiteren unabhängigen sowie mit der Arbeitsweise der STIKO vertrauten Persönlichkeiten eine Reserve mit zwölf bis 18 Mitgliedern zu schaffen, die vom Bundesministerium für Gesundheit nach dem bestehenden Berufungsprozedere für eine Amtszeit der STIKO in die Krisenreaktionsreserve (KRR) berufen werden. Bildlich gesprochen bilden sie die „freiwillige Feuerwehr“, die im Krisenfall die „Berufsfeuerwehr“ der regulären Mitglieder verstärken kann.
Die STIKO kann auf Vorschlag des Vorsitzenden mit einfacher Mehrheit die Aktivierung der Reservemitglieder für einen Zeitraum von einem Kalenderjahr beschließen, soweit eine besondere Lage die STIKO so belastet, dass sie ihren Aufgaben nicht im üblichen Umfang nachkommen kann. Endet die Überlastung früher, wird die Aktivierung der Krisenreaktionsreserve zurückgenommen.
Als Indikator für das Vorliegen dieser Bedingung wird eine Überschreitung der periodenadjustierten Gesamtzahl der Befassungen um mehr als 50% vom Mittel der dem Vorjahr vorausgehenden fünf Kalenderjahre bewertet (Stufe 1). Eine Überschreitung dieses Kriteriums rechtfertigt die Aktivierung der Hälfte der Personenzahl der Krisenreaktionsreserve, eine Überschreitung des Kriteriums um mehr als das Doppelte (100%, Stufe 2) rechtfertigt die Aktivierung der gesamten Krisenreaktionsreserve.
Die Reserve wird für die Bearbeitung spezifischer Themen zur Entlastung der regulären Mitglieder der STIKO eingesetzt, diese Themen können sich sowohl auf den üblichen Tätigkeitsumfang als auch auf die Bearbeitung der außerordentlichen Gesundheitslage, beispielsweise einer Pandemie, beziehen.
Soweit die Krisenreaktionsreserve aktiviert wurde, ist deren Aktivierung zurückzunehmen, sobald die Umstände eine Rückkehr in den normalen Arbeitsmodus erlauben.
Für den Fall der Aktivierung der STIKO-Reserve erhöht das RKI im Rahmen der Geschäftsführung die unterstützenden personellen Ressourcen mit Aktivierung der Stufe 1 um 50%, mit Aktivierung der Stufe 2 um 100%.
Die Schaffung einer Reserve auf Ebene der ehrenamtlichen Mitglieder der STIKO erfordert, dass diese auf Ebene des RKI gespiegelt wird. Das bedeutet, dass innerhalb der regulären personellen Struktur des RKI Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit entsprechender Qualifikation und Schulung einer Krisenreaktionsreserve STIKO zuzuordnen sind, die bei Bedarf temporär der STIKO zugeordnet werden und im Anschluss wieder in ihre reguläre Tätigkeit zurückkehren – analog dem Bild der „freiwilligen Feuerwehr“.
Diese werden bei Aktivierung der Krisenreaktionsreserve auf Abruf im genannten Umfang (personelle Aufstockung der RKI-Mitarbeiter:nnen um 50% oder 100%) in Vollzeit der STIKO zugeordnet und unterstützen diese. Dass eine derartige Struktur für den Arbeitgeber – hier also das RKI – eine Herausforderung darstellt, ist evident. Andererseits ist die präventive ständige Vorhaltung von zusätzlichem Personal nur für den Fall der Aktivierung der Reserve kaum realistisch.
Die Krisenreaktionsreserve dient dazu, im Bedarfsfall beide Ebenen, d. h. die ehrenamtliche Ebene der STIKO-Mitglieder und die unterstützende Ebene der RKI-Mitarbeiter:innen koordiniert, organisiert und strukturiert nach klaren Regeln zu verstärken.
Fazit
Eine Analyse der Befassungen der STIKO mit Indikationen/Impfstoffen im Zeitraum 01.01.2015 bis 30.06.2022 ermöglicht einen Vergleich der Durchschnittswerte der Befassungen nach Zahl und Intensität zwischen den präpandemischen Jahren 2015 bis 2019 sowie den Pandemiejahren 2020 und 2021.
Es zeigt sich, dass die Tätigkeit der STIKO 2020 und vor allem 2021 massiv durch die SARS-CoV-2-Pandemie dominiert wurde. Die Befassungen fokussierten sich auf Covid-19, Zahl und Intensität der Befassungen mit anderen Indikationen gingen zurück.
Die Pandemie ist eine Herausforderung für die STIKO als ehrenamtlich tätiges Gremium. Als erfolgskritische Infrastruktur der Pandemiebewältigung sollte die STIKO strukturell auf den Umgang mit künftigen Pandemien vorbereitet werden. Dazu wird die Schaffung einer Krisenreaktionsreserve vorgeschlagen, die bei Überlastung zeitlich befristet aktiviert werden kann, um die regulären Mitglieder zu verstärken und zu entlasten. Bei Aktivierung sollte die personelle Unterstützung durch das RKI in gleichem Umfang verstärkt werden. <<