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„Unser Ziel ist die bessere Versorgung“

Eberhard Mehl, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbandes e.V., im MVF-Gespräch:

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.06.2009

Plain-Text

>> Herr Mehl, was sind für Sie Anzeichen dafür, dass die Honorarreform fehlsteuernde Funktionen hat?
Das sind für mich weder Protestaktionen noch öffentliche Debatten, sondern Fakten. Die seit Jahren eher mäßige Arzthonorierung produziert seit mehr als zehn Jahren einen dramatischeren Nachwuchsmangel im Bereich der Hausärzte. Das ist keine Stimmungsmache, sondern sind als evidenzbasierte Abschlusszahlen für den Facharzt für Allgemeinmedizin und den Facharzt für Innere- und Allgemeinmedizin nachweisbar: je nach Länderordnung gehen die Abschlusszahlen immer weiter zurück. Darüber hinaus geht ein Großteil der weitergebildeten Ärzte nicht wie früher in die Primär-Versorgung, sondern wählt Berufe, die sicherer sind und auch besser honoriert werden. Das kann man jungen Ärzten auch nicht verdenken, dass sie keine ökonomischen Anreize mehr erkennen können, den Beruf eines niedergelassenen Hausarztes zu ergreifen.

Dazu kommt die derzeit schon hohe Altersstruktur der Hausärzte, die zu einem hohen Abgang aus diesem Berufsfeld führt und in Zukunft noch viel mehr führen wird.
Es ist sicher ein gravierendes Problem, dass es schon heute mehr Ärzte gibt, die in Ruhestand gehen als junge Ärzte, die diese frei werdenden Arztsitze übernehmen wollen. Vor allem in ländlichen oder strukturschwächeren Gebieten. Dass es künftig weniger Ärzte gibt als heute, setzt sich als heute schon sichtbare Entwicklung fort, ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere, aber das wieder wesentlich Gravierendere ist die zunehmende Morbiditätsdichte in der Hausarztpraxis. Das resultiert alleine schon daraus, dass aufgrund der Auswirkungen der sich verändernden Alterspyramide es immer mehr ältere Menschen gibt und diese durch die Segnungen der modernen Medizin trotz ebenso zunehmender chronischer Erkrankung viel länger als früher erfolgreich behandelt werden können. Das heißt aber auch, dass diese Menschen sich in einem ständigen Behandlungsprozess befinden, der zum großen Teil beim Hausarzt abgewickelt wird.

Noch abgewickelt wird?
Sicher. Sehen sie sich doch an, wie voll die Wartezimmer schon heute sind. Darin sitzen aber inzwischen auch viele Kranke, die in einem wesentlich schlechteren Versorgungszustand als früher aus dem Krankenhaus entlassen werden.

Die so genannte blutige Entlassung.
Die ist kein bloßes Gerücht, das wird uns von vielen Mitgliedern unseres Verbandes bestätigt. Die Zurücknahme der Liegezeiten durch die Einführung des DRG-Systems in den Krankenhäusern führt zu einer deutlichen Verschärfung in der Arztpraxis und damit auch in der ganzen Versorgungspraxis.

Gibt es dazu Zahlen? Das wäre doch ein probater Ansatz für Versorgungsforschung auf Basis der von Hausärzten - vielleicht in Form von Entlassungsregistern - erhobenen Zahlen und Fakten. Damit könnten die Hausärzte die Systematik der Verlagerung vom Krankenhaus- in den Primärsektor nicht nur behaupten, sondern auch beweisen.
Wir haben bisher die Aussage von hunderten, ja tausenden Hausärzten, die noch völlig unwissenschaftlich und unstrukturiert ihr derzeitiges Erleben des Versorgungsalltags beschreiben. Dies müssten wir in Zusammenarbeit mit einer Versorger-Krankenkasse in eine evidenzbasierte Studienform überführen, denn die Krankenhäuser würden natürlich behaupten, dass die Entlassungen zu einem medizinisch richtigen Zeitpunkt stattgefunden haben. Was immer das heißen mag.

Das Interesse des Hausarztes und der Versorgerkasse muss mehr Versorgungsqualität sein, womit wir bei den hausarztzentrierten Verträgen angekommen sind, durch die - laut Thomas Ballast vom Verband der Ersatzkassen (vdek) - milliardenschwere Mehrausgaben auf das System zukommen werden, obwohl doch eigentlich mehr Qualität entstehen sollte.
Ich glaube, dass Thomas Ballast damit eine sehr kurzsichtige Politik betreibt. Die Situation stellt sich doch ganz anders dar: Zurzeit versorgen die niedergelassenen Hausärzte rund 80 Prozent aller Probleme, die beim Patienten auftreten - der Fallmenge nach gemessen. Denn die gravierenden Fälle landen natürlich im Krankenhaus bis zur Universitätsklinik, wo sie auch hingehören. Ein ernstes Versorgungs- und auch Budgetproblem bekommen wir mit dem Zeitpunkt, an dem die Hausärzte nicht mehr die normale Multimorbidität betreuen können, weil sie einfach nicht mehr in ausreichender Anzahl da sind. Der Effekt wird sein, dass ein Teil der bisher im Hausarztsystem behandelten Fälle spezialärztlich, meist wohl aber stationär behandelt werden. Die muss aber per se zu einem unwirtschaftlicheren Ergebnis als bisher führen, weil die Versorgung in anderen Sektoren schlichtweg teurer ist.

Aber dafür vielleicht besser?
Das wage ich zu bezweifeln. Nehmen Sie den Versorgungsstandort Berlin, der die höchste Selbsteinweisungsrate in ganz Europa aufweist. Wobei es dort allerdings keine höhere Notwendigkeit gibt, ins Krankenhaus zu gehen, als anderswo in Deutschland oder Europa. Das ist einfach Teil einer Versorgungskultur, die sich im ehemaligen West-Berlin entwickelt und bis heute erhalten hat. Die Insellage Berlins hat zu einer extrem hohen Krankenhausdichte geführt, die dementsprechend auch genutzt wird. Das aber führt wiederum dazu, dass die höchsten Krankheitskosten in Deutschland auf Berlin konzentriert sind, obwohl weder die Morbidität noch die Public Health in Berlin besser oder schlechter ist als in München oder Köln.

Das einfache System: Mehr Ärzte mehr Kosten, mehr Krankenhäuser noch mehr Kosten?
Man wird, je höher die Strukturebene ist, immer eine deutliche Erhöhung der Gesamtkosten, insbesondere der Diagnosekosten feststellen.

Dann müssten die Hausärzte erst einmal beweisen, dass ihr Berufsstand in der Gesamtversorgungsstruktur nicht nur eine wichtige Rolle innehat, sondern auch noch die kostengünstigere Alternative einer qualitativen Versorgung der deutschen Bevölkerung ist.
Sicher wäre das zu beweisen. Aber fast genauso gut kann man die Zahl von Bypassoperation nehmen. Wenn mehr Kardiologen tätig sind, steigt automatisch die Zahl der kardiologischen Diagnostik, ohne dass sich die Morbidität verändert. In Italien löst das bei gleicher Morbidität rund 50 Eingriffe aus, in Deutschland aber 150 Eingriffe, was die Versorgungsqualität nicht verbessert, sondern nur verteuert.

Das nennt man dann klassische Fehlversorgung.
Sicher. Aber auch Überversorgung wird oft als qualitativ hochwertig deklariert, was sie aber nicht ist. Richtig ist immer die angemessene Versorgung. Und dazu brauchen wir vor allem engagierte, gut ausgebildete Ärzte in der Primärversorgung, die einen Krankheitsverlauf einschätzen können und wissen, wann der Patient in die nächste Versorgungsebene überführt werden muss.

Punkto engagierte Ärzte. Vermuten Sie, dass die Honorarsystematik wirklich ärztliches Engagement fördert?
Wer die Einkommensstatistiken der KBV betrachtet, wird eher zu einem anderen Schluss kommen. Auf den letzten Plätzen liegen immer Haus- und Kinderärzte, teilweise mal Nervenärzte. Danach folgen in der unteren Einkommensebene fast alle patientennahen Fächer, selbst wenn sie fachärztlich tätig sind. Aber ganz oben rangieren immer Laborärzte und Radiologen, im Prinzip also eher industriell arbeitende Fachärzte, die aufgrund ihrer Struktur eine hohe Patientenmenge durchschleusen können.

Eine Art Taylorismus?
Das kann man so sagen. Die patientennahen Fächer werden Schritt für Schritt durch die Honorarsystematik in Deutschland abgewertet, weil quasi industriell erbringbare Dienstleistungen höher bewertet werden als die Zuwendung zum Patienten. Auch das spielt für einen jungen Arzt in seiner Berufswahl eine Rolle. Doch all das hat nichts mit der aktuellen Honorardiskussion zu tun, sondern ist die Entwicklung der letzten Jahre, in der sich eine hohe Frustration über die kassenärztlichen Vereinigungen in der deutschen Ärzteschaft aufgebaut hat.

Was Ihren Verband im Gegenzug denn auch zu einer so großen Interessenvertretung hat werden lassen.
Wir sind im niedergelassenen Bereich mit Abstand sicherlich die erfolgreichste Interessenvertretung im deutschen Gesundheitswesen. Ergänzend muss man aber auch den Marburger Bund nennen, der für die angestellten Ärzte ein ähnliches Honorar-Phänomen bekämpft hat. Das lässt sich auch an Zahlen festmachen: Hatten wir vor acht Jahren noch knapp 20.000 Mitglieder, sind es heute schon 34.000 Mitglieder - und das bei einem Altersabgang von rund 700 Ärzten pro Jahr.

Laut Bundesministerium fließen dem ärztlichen Versorgungssystem in diesem Jahr immerhin 2,9 Milliarden Euro zu. Wo sind denn die geblieben?
Der deutsche Hausärzteverband hat im Vorfeld massiv Kritik an der Gebührenordnungsreform geäußert, die sich leider Gottes zu 100 Prozent realisiert hat. Durch den gewollten Struktureffekt floss ein Großteil der zusätzlichen Finanzmittel in den Osten Deutschlands.

Was falsch ist?
Das kann man so nicht sagen. Im Osten trifft man heute schon die Situation an, die in den westlichen Bundesländern noch vor uns liegt: In den Städten gibt es noch eine ausreichende Versorgung, aber auf dem Land sind schon heute rund zwei Drittel der Arztsitze, die von Hausärzten aufgegeben wurden, durch junge Ärzte nicht mehr besetzbar.

Dafür könnte es doch MVZs eines Krankenhauses oder eines ökonomisch orientierten Trägers geben, der diese Lücke ausfüllt.
Könnte es. Doch aus welchem Grund sollte ein großer Krankenhausträger ein MVZ in ländlichen oder auch strukturschwachen Gebieten eröffnen, denn unserer Einschätzung nach ist es gar nicht so leicht, ein ökonomisch sauberes Modell umzusetzen. Ein betriebswirtschaftlich sinnvolles Modell kann es aber durchaus sein, dass ein MVZ eines Klinikträgers - sagen wir - eine bestimmte Zuweisung im Auftrag hat. Obwohl es im niedergelassenen Bereich eine sehr scharfe berufspolitische Diskussion gibt, teilt unser Verband jedoch nicht die Auffassung, dass MVZs immer des Teufels sind.

Warum?
Es kann sein, dass zum Beispiel ein hausärztliches MVZ absolut Sinn im Hinblick auf Arbeitszeitmodelle und Angestelltenverhältnisse macht. Vor allem junge Ärztinnen - und nach der Abschlussquote im Fach ist Medizin zunehmend weiblich - kann man nicht mehr gut in die etablierte Einzelpraxis integrieren, wohl aber in neue Versorgungsstrukturen. Dadurch könnten also MVZ aber auch Angestelltenverhältnisse in Praxen strukturverbessernd wirken. Kritisch ist es natürlich, wenn MVZs nur dazu dienen, Patienten gezielt in bestimmte Krankenhäuser zu leiten. Das wäre dann so eine Art Durchlauferhitzer. Solche MVZ zerstören die deutsche Versorgungsstruktur.

Welche Probleme müssten denn mit einem neuen Honorarsystem gelöst werden?
Zum ersten muss natürlich die Unterfinanzierung beseitigt werden, denn auch die 2,9 Milliarden Euro mehr im System reichen dazu nicht aus. Zum zweiten muss der hohe Verwaltungsaufwand beseitigt und für mehr Verlässlichkeit in der Honorierung gesorgt werden.

Dazu gibt es doch die Euro-Gebührenordnung EBM 2009.
Die im Endeffekt durch falsche Pauschalisierung einerseits und mit frequenzabhängigen Einzelleistungen andererseits falsche Versorgungsanreize setzt.

Würden Sie das bitte anhand eines Beispiels erklären?
Nehmen wir die Sonografie, die heute ein Standardelement der hausärztlichen Versorgung ist. Wird die Sonografie in die Pauschale integriert, hat es aus ökonomischen Gesichtspunkten keinen Sinn, ein Sonografiegerät anzuschaffen, denn die Pauschale bleibt gleich, ob ich sonografiere oder nicht. Sinnvoller wäre es, die Grundpauschale um Qualitätszuschläge zu ergänzen. Genau das ist das, was die AOK-Württemberg als erste Kasse versucht hat.

Wobei Thomas Ballast von der vdek nun sagt, dass das System dadurch teurer wird.
Wenn die Sonografie, um bei dem Beispiel zu bleiben, frequenzabhängig wie im EBM bezahlt wird, wird das auch stimmen. Das ist auch nicht sinnvoll, denn das würde immer zu einer Überdiagnostik führen. Weit sinnvoller ist es doch, einen Zuschlag pro eingeschriebenen Versicherten an den Arzt zu zahlen, wenn dieser wiederum nachweist, dass er richtig sonografieren kann und sich zudem einer Qualitätssicherung unterwirft. Daher sind Anreize nötig, damit nur dann eine Leistung ausgelöst wird, wenn sie auch tatsächlich medizinisch sinnvoll ist. Der Arzt soll und darf nicht ökonomisch gezwungen sein, jeden zu sonografieren oder akkupunktieren oder was auch immer, der durch die Tür der Praxis kommt.

Das muss der Patient auch gar nicht mehr im Zuge der Hausarztverträge, der Arzt bekommt sein Honorar so oder so.
Das ist auch der große Unterschied zum EBM. Der Arzt bekommt ja wohlgemerkt nur ein Grundhonorar. Für die Pauschalgruppe P1 gibt es eine Jahrespauschale, egal ob der eingeschriebene Patient seinen Arzt aufsucht oder nicht. P2 ist die Kontaktpauschale, die nicht beim ersten Quartalskontakt, sondern erst kontaktabhängig ab dem 2. Quartal anfällt, wenn ein Patient eine Praxis aufsucht. Und P3 ist eine zusätzliche Pauschale für die Chronikerversorgung, die per se besonders intensiv und daher gut vergütet sein muss.

Wo ist nun der ökonomische, dann aber qualitative Anreiz dieses Systems, das der EBM in ähnlicher, zumindest auch qualitativer Form erst ab 2010 einführen wird?
Der ökonomische ist auch der qualitative. Für den Arzt wird es interessant, die relativ Gesunden aus der Praxis zu halten, denn für die bekommt er durch die Grundpauschale P1 sein Geld, ob sie kommen oder nicht - selbst, wenn der Patient einen Quartalskontakt hat, ändert sich die Höhe der Vergütung nicht. Das ist ein grundlegender Unterschied zum bisherigen EBM: Bis zum 1.1. dieses Jahres war es für den Arzt ökonomisch bedeutend, dass jeder Patient jedes Quartal in die Praxis kommt, ob das therapeutisch sinnvoll ist oder nicht. Genau deshalb haben wir in Deutschland auch so eine hohe Arzt-Patienten-Kontaktdichte.

Das sind immerhin 13, laut GEK gar 18 Arzt-Patienten-Kontakte pro Jahr. Statistisch gerechnet.
Das ist weltweit einmalig hoch. Doch jeder Arzt-Patienten-Kontakt löst doch auch einen Geldfluss aus. In der Regel ist das zum einen das Arzt-Honorar. Zum anderen aber, da der Patient schon einmal in der Praxis ist und dieser auch eine Therapieerwartung hat, steigt auch die Häufigkeit der Arzneimittelverordnung.

Interessanterweise scheint die hohe Arzt-Patienten-Kontaktdichte auf die Mortalität überhaupt keinen Einfluss zu haben.
Gar keinen. Die Holländer haben ungefähr die Hälfte der Arzt-Patienten-Kontakte wie wir. Da stirbt kein Mensch eine Lebensminute früher.

Also raus mit den „Gesunden“ aus der Praxis.
Das ist das erklärte Ziel der Dreiteilung der Pauschale. Das bisherige ökonomische Anreizsystem innerhalb der Arzthonorare war eine eindeutige Fehlsteuerung.

Dies wird auch zu einer Art Ent-Ökonomisierung führen, wie es auch bei den Apotheken-Abgabepreisen und in der kommenden 15. AMG-Novelle bei den Großhandelspauschalen beobachtbar ist. Ist das das System der Zukunft: Weg mit dem Druck, Patienten dauernd versorgen zu müssen?
Das gilt nur für gesunde oder relativ gesunde Patienten, für die der Arztbesuch eigentlich auch nicht sinnvoll ist und die - nehmen wir die oben beschriebene Entwicklung in den Hausarztpraxen - auch künftig gar nicht mehr behandelt werden können.

Eigentlich müssten Ärzte doch froh sein, wenn sie sich nun um die kümmern können, die sie auch brauchen.
Eigentlich ja. Man muss es ihnen nur sagen, welche Chance damit verbunden ist. Künftig ist jener Patient, der den höchsten Therapiebedarf hatte und hat, der wertvollste: das ist der Chroniker.

Das wird auch die Public Health verbessern helfen?
Das wird es. Der Arzt hat künftig einfach mehr Zeit, sich in seiner Praxis um Chroniker zu kümmern. Das ist auch dringend notwendig, denn die Morbidität in der Hausarztpraxis wird immer größer. Wenn man nur mal die Prävalenz von Diabetes in der Höhe von 7 bis 8 Prozent nimmt und jene von Asthma in der Höhe von 5 bis 6 Prozent. Mit steigender Tendenz. Das heißt auch, dass es in der Praxis immer mehr Chroniker geben wird, die beides haben. Das sind aber Patienten, die wirklich viel Zeit benötigen, um sie zu therapieren. Diese Zeit bekommt der Arzt durch das andere ökonomische Anreizsystem.

Das führt hoffentlich auch zu mehr Versorgungsqualität in Deutschland?
Damit die auch Wirklichkeit wird, gibt es innerhalb der Hausarztverträge mit der Kasse vereinbarte Qualitätsziele. Da ist man zwar noch am Anfang, aber hat bereits zwei Quoten vereinbart: die Checkup-Quote und die Impf-Quote. Für die Ärzte bedeutet das, dass sie zusätzlich noch mal richtig gutes Geld verdienen können, wenn ihre Impf-Quote den WHO-Maßstäben entspricht.

Und gleich gibt es dazu einen Artikel im Nachrichtenmagazin „Spiegel“, der da suggeriert, dass Impfen ja auch schaden könne.
Natürlich gibt es Nebenwirkungen. Aber es ist doch eindeutig bewiesen, dass Impfen eindeutig Leben rettet. Ich bin auch der Ansicht, dass eine hohe Impf-Quote versorgungspolitisch sehr sinnvoll ist. Nehmen wir nur einmal die aktuelle Situation mit der Schweinegrippe. Die ist virulogisch völlig uninteressant, wenn man weiß, dass wir alleine in Deutschland pro Jahr 10.000 bis 30.000 Grippetote zu beklagen haben. Da rettet Impfen ganz konkret Leben. Vor allem jenes der Chroniker. Denn an Grippe sterben meist nicht gesunde 35-Jährige, sondern eben multimorbide Chroniker ab 60.

Also auch hier mehr Versorgungsqualität wieder durch andere ökonomische Anreize?
Das ist die Grundidee, die die Versorgungsqualität in Deutschland richtig verbessert. Beim Impfen wurde so in den letzten drei bis vier Jahren die Impf-Quote um 30 Prozent erhöht. Das ist eine Erfolgsstory.

Dann wäre den Ärzten dringend angeraten, noch mehr solcher Qualitätsindikatoren für Public Health oder auch für Indikationen selbst festzulegen, als sich von den Kassen diktieren zu lassen, wie diese Qualität sehen.
Absolut richtig. Man sollte jedoch nicht alles an Indikatoren festmachen, sondern einfach Schwerpunkte setzen. Zum Beispiel könnte man eine Hausbesuchsquote einführen, weil die Anzahl der Hausbesuche dramatisch gesunken ist. Diese wären jedoch gerade bei Chronikern oder auch älteren Personen absolut sinnvoll.

Hier kommt die neue VERsorgungs-Assistentin in der Hausarztpraxis, kurz VERAH ins Spiel, die zur Qualifizierung der Hausarztpraxis beitragen soll?
Durch 200 Fortbildungsstunden wird die erfahrene, medizinische Fachangestellte dazu befähigt, auch alleine Hausbesuche durchführen zu können.

Eine Art „Arzt light“?
Eher ein arzt-orientiertes Case-Management. Mit VERAH gibt es nach wie vor klare Verantwortlichkeiten, wer für den Patienten zuständig ist: das ist und bleibt der Hausarzt. Aber der kann mit VERAH eine gut fortgebildete Mitarbeiterin gezielt auf gewisse Probleme ansetzen, die auch als Brücke zu mehr Patientennähe verstanden werden kann. Mit dem höheren Chronikerzuschlag kann der Arzt diese Verah auch für sich ökonomisch sinnvoll einsetzen, natürlich auch um die Morbiditätsdichte in seiner Praxis besser handeln zu können. Aber Ziel muss immer eine höhere Versorgungsqualität sein.

Im Endeffekt ist das auch ein Alternativkonzept zum Modell des Patientencoachings der Krankenkassen.
Das häufig eben nicht funktioniert, weil es am Arzt vorbei läuft. Das System stammt ja aus den USA, die eine ganz andere Versorgungsstruktur aufweist als Deutschland. Das ist zum einen der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkasse, den es bei uns ja so nicht gibt. Das heißt: In Amerika ruft ein Callcenter-Agent bei einem Patienten an, handelt nach seinen klassischen Triage-Programmen und empfiehlt eine bestimmte Medikation. Der amerikanische Patient kann danach handeln, der deutsche nicht. Der wird zuerst seinen Arzt aufsuchen, der im Zweifel ein ganz anderes Medikament einsetzen wird. Das führt zu Informationschaos, zu Verunsicherung und verstärkt das sowieso schon gravierende Compliance-Problem. Anstatt Case-Management an den gewachsenen Strukturen vorbei etablieren zu wollen, brauchen wir neue Schnittstellen mit klaren Verantwortlichkeiten.

Auch wenn der Wille an sich gut ist.
Ich sage nicht, dass die Programme schlecht sind. Nur müssen eben Programme, die bei Kaiser Permanente in Kalifornien bestens funktionieren, bei uns in Deutschland noch lange nicht funktionieren. Das gilt aber auch für eine Leitlinie, die in Holland entwickelt worden ist, die bei uns zwar funktionieren kann, aber auch noch lange nicht muss. Es kommt vielmehr darauf an, wie man ein Versorgungsprogramm in etablierte Versorgungsprozesse integriert. Aber diesen Fehler machen Krankenkassen häufig unter dem Einfluss von weltweit tätigen Unternehmensberatungen.

Hinter all dem steht anscheinend ein versorgungspolitisches Anliegen, das, wenn man den Medien glaubt, der Ökonomie geopfert wird.
Es ist falsch, Ärzte als Abzocker darzustellen. Natürlich will und braucht die Ärzteschaft mehr Budget, das aber dann so eingesetzt werden soll, dass Versorgungsziele erreicht werden, die bisher in Deutschland eben nicht erreicht worden sind. Ob das nun die Impf-Quote ist, die Checkup-Quote oder auch eine bessere Betreuung der Chroniker. All das hat direkte Auswirkungen auf die Public Health. Aber all das ist bisher ebenso in der deutschen Gesundheitspolitik - vor allen Dingen durch die Verantwortlichen der Spitzenverbandsebene - in einer Art und Weise gescheitert, dass es einem schon peinlich sein müsste.

Es ist schon eine Schande, was wir mit dem vielen Geld, das wir in Deutschland für Gesundheit ausgeben, unter dem Strich im Vergleich zu vielen anderen Ländern erreichen.
Ich will aber nun auch nicht sagen, dass wir alle Probleme identifiziert hätten oder mit dem Hausarztvertrag alle Probleme gelöst hätten. Bei weitem nicht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass wir in Deutschland noch keine Versorgungsforschung haben, die die Defizite, aber auch die guten Ansätze klar aufdecken würde. Im Prinzip betreiben wir im Blindflug das 300 bis 400 Milliarden Projekt, das da deutsches Gesundheitswesen heißt. Das sollte man schleunigst ändern und die Ärzte werden ihren Beitrag dazu leisten.

Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier