Die Deutsche BKK - im Jahr 2003 entstanden durch den Zusammenschluss der Betriebskrankenkassen von Volkswagen, der Deutschen Telekom und der Deutschen Post - ist eine der größten gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland. Mit rund 1.400 Mitarbeitern - dem Hauptsitz in Wolfsburg, ein Teil der Verwaltung in Stuttgart und über 50 bundesweiten Geschäftsstellen - werden etwa eine Million Versicherte versorgt. Im Jahr 2009 betrugen die Gesamtausgaben der Deutschen BKK rund 2,6 Milliarden Euro, wobei nur 4,4 Prozent auf die Verwaltungskosten entfielen, was im deutschen Vergleich überdurchschnittlich niedrig ist. 35,34 Prozent der Ausgaben entfielen auf Krankenhausbehandlungen, 19,46 Prozent auf Arzneimittel und 16,87 Prozent auf ärztliche Behandlungen. Dem standen aber Einnahmen von nur 2,56 Milliarden gegenüber. Der Effekt: Die Deutsche BKK war gezwungen, einen Zusatzbeitrag zu erheben. Das Ende auch für „Luxusausgaben“ wie Versorgungsforschung? Mitnichten, sagt Vorstandsvorsitzender Achim Kolanoski.
>> Herr Kolanoski, warum sollten sich Krankenkassen dem Thema Versorgungsforschung überhaupt widmen?
Versorgungsforschung gehört definitiv in das Aufgabengebiet der Krankenkassen. Wir haben den großen Vorteil, dass wir kein monetäres Interesse daran haben, dass Menschen krank sind. Wir verdienen nicht daran. Wir wollen, dass unsere Versicherten gesund sind - oder, wenn sie chronisch krank sind, dass sie in die Lage versetzt werden, ihre Krankheit gut zu managen.
Was verbindet denn die Deutsche BKK mit Versorgungsforschung?
Traditionell ist die Deutsche BKK stark in Versorgungsforschung und Versorgungsmanagement. Einer der Gründe hierfür ist, dass wir tradionell in Wolfsburg und Umgebung einen sehr hohen Marktanteil haben. Mit anderen Worten: Uns steht eine Population zur Verfügung, mit der wir neue Wege in der Versorgung testen können. Dabei haben wir zwei Ziele: die Versorgung für den Versicherten spürbar zu verbessern und gleichzeitig aber auch Effizienzreserven zu heben.
Könnten Sie ein paar Beispiele nennen?
Wir haben beispielsweise seit dem Jahr 2006 gemeinsam mit niedergelassenen Ärzten, dem Klinikum Wolfsburg und dem Kreiskrankenhaus Gifhorn ganz unterschiedliche Versorgungsprojekte aufgelegt. Zum Beispiel ein Projekt zur Behandlung von Bluthochdruck. Ziel ist die verbesserte medizinische Versorgung und damit verbunden weniger Folgeerkrankungen wie Herzschwäche und Schlaganfall. Dann gibt es das Projekt Herzinsuffizienz, das die Compliance der Patienten verbessern soll - also ihre Bereitschaft, an der Behandlung mitzuwirken. Hier stehen die richtige Ernährung und die Einnahme der Medikamente im Mittelpunkt. So soll die Schwere der Erkrankung gemildert und der Krankheitsverlauf verzögert werden. Im günstigsten Fall kommt es zu weniger Krankenhausaufenthalten.
Ein anderes zukunftsweisendes Projekt ist das „Wolfsburger Modell“ zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs. Es ist international anerkannt und wurde mit dem Preis „Pearl of Wisdom“ der EU-Parlamentarierinnen ausgezeichnet. Es richtet sich an alle Frauen ab dem 30. Lebensjahr und wurde von Professor Karl-Ulrich Petry, dem Leiter der Frauenklinik des Klinikums Wolfsburg, angestoßen. Der Ansatz war so überzeugend, dass sich alle Wolfsburger Frauenärzte beteiligt haben.
Auch das ist übrigens ziemlich einmalig, denn natürlich stehen die Frauenärzte normalerweise miteinander im Wettbewerb. Ausgangspunkt waren Studien, die belegten, dass sich mit der gesetzlichen Krebsvorsorge Gebärmutterhalskrebs und seine Vorstufen nicht mit absoluter Sicherheit feststellen lassen. Deshalb wurde die Krebsvorsorge beim „Wolfsburger Modell“ ergänzt. Zum herkömmlichen Pap-Test, bei dem ein Abstrich vom Gebärmutterhals genommen wird, kommt hier der Test auf Humane Papillomaviren, kurz HPV-Test. Für die getesteten Frauen haben die beteiligten Ärzte ein Diagnoseraster entwickelt, das bei einem positiven Befund den notwendigen Behandlungspfad aufzeigt.
Diese Projekte sind sicher nicht ganz billig. Können Sie denn konkrete Erfolge vorweisen?
Es gibt viele Projekte, die sehr erfolgreich sind. Das „Wolfsburger Modell“ zum Beispiel kann viele Erfolge vorweisen. Es nehmen rund 17.000 Versicherte daran teil. Am wichtigsten ist aber, dass seit Projektbeginn bei über 100 Frauen eine Vorstufe des Krebses und bei acht weiteren ein Krebsgeschwür entdeckt werden konnten. Im Rahmen der normalen Vorsorge wäre das nicht der Fall gewesen. Wir hoffen, dass wir den Gebärmutterhalskrebs bei Frauen im Raum Wolfsburg langfristig beseitigen können. Unsere Erfahrungen mit dem HPV-Test begründen diese Hoffnung. So ließe sich manches Leid verhindern und langfristig könnten auch die Behandlungskosten sinken. Aufgrund der guten Erfahrungen, die wir mit dem Pilotprojekt gemacht haben, setzen wir uns in der Gesundheitspolitik dafür ein, dass der HPV-Test und der sich an eine positive Diagnose anschließende Behandlungspfad in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden.
Sind Projekte wie das „Wolfsburger Modell“ unter Morbi-RSA-Bedingungen nicht fast schon Luxus?
Fest steht: In Projekte wie diese muss man investieren. Krankenkassen müssen auch in Zukunft die Möglichkeit haben, innovative Projekte und Produkte zu finanzieren. Insbesondere, da viele dieser Projekte eine Anschubfinanzierung brauchen, sich aber unter Umständen erst nach Jahren rentieren. Wir haben übrigens auch Projekte, bei denen wir später festgestellt haben, dass sie weder den Patienten einen Vorteil bringen noch die Wirtschaftlichkeit verbessern. Diese Projekte haben wir nach einem gewissen Zeitpunkt der Pilotierung eingestellt. Auch diese Freiheit zu experimentieren gehört zur Versorgungsforschung dazu und muss durch die Bereitstellung finanzieller Mittel gewährleistet werden. Allerdings sind Gesundheitsfonds und Morbi-RSA darauf nicht ausgerichtet. Es werden keine zusätzlichen Gelder für Innovationsforschung zur Verfügung gestellt. Damit besteht die Gefahr, dass die Krankenkassen immer weniger in innovative Versorgungsformen investieren. Dabei werden neue Ansätze dringend benötigt, um Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Versorgung zu optimieren.
Sie sprechen viel von Versorgung, das betrifft ja vor allem chronisch Kranke. Grundsätzlich geht man bei Betriebskrankenkassen eher von jungen, gesunden Versicherten aus. Trifft das auf die Deutsche BKK nicht zu?
Die Deutsche BKK ist als BKK eher untypisch, denn sie gleicht eher einer AOK. Bei einem Rentneranteil von 42 Prozent sind wir gezwungen, uns Gedanken über die passende und wirtschaftliche Versorgung kranker Versicherter zu machen. Wir haben seit eh und je viele kranke Versicherte, um die wir uns bewusst kümmern. Natürlich verursachen kranke Versicherte höhere Ausgaben. Die soll der Morbi-RSA ein Stück weit ausgleichen, damit den Krankenkassen für die Versorgung dieser Menschen das nötige Geld zur Verfügung steht und sie besser planen können. Dieser Ausgleich reicht aber nicht aus.
Also lohnt sich Risikoselektion für Krankenkassen immer noch?
Ja, ich vertrete die These: Der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) als Verteilungsbasis der GKV-Finanzmittel belohnt Risikoselektion. Das heißt, nach wie vor lohnt es sich für viele Krankenkassen, um junge und gesunde Mitglieder zu werben. Aus meiner Sicht muss der Morbi-RSA deshalb weiterentwickelt werden. Würde er hingegen reduziert, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, würden auch die strukturellen Unterschiede zwischen den Krankenkassen größer. Kassen mit vielen kranken Menschen fehlte dann das Geld für Leistungen und Innovationen. Ohnehin durch Krankheit benachteiligte Menschen werden dann mit einem Zusatzbeitrag belastet. Das halte ich für den absolut falschen Weg.
Der Morbi-RSA berücksichtigt momentan nur ausgewählte 80 Krankheiten, kostenintensive chronische Krankheiten und Krankheiten mit schwerwiegendem Verlauf. Für diese Krankheiten gibt es finanzielle Zuschläge in unterschiedlicher Höhe. Der Morbi-RSA ist ein prospektives Modell, bei dem die Morbi-RSA-Zuschläge nicht die laufenden Behandlungskosten, sondern die mit diesen Krankheiten verbundenen Folgekosten abdecken sollen. Dies sollte zu einer größeren Verteilungsgerechtigkeit der Mittel führen und die Risikoselektion durch Krankenkassen reduzieren.
Für alle anderen Krankheiten bekommen gesetzliche Krankenkassen keine zusätzlichen Mittel. Bei ihnen spielen nur Alter, Geschlecht und Erwerbsminderung eine Rolle. Trotzdem müssen wir die Ausgaben für alle Krankheiten mit den Mitteln aus dem Gesundheitsfonds finanzieren, aus dem auch die Mittel des Morbi-RSA fließen. Der Gesundheitsfonds ist aber so angelegt, dass er die Ausgaben der Kassen nicht zu 100 Prozent deckt. Das verschärft die finanzielle Situation. Unsere Versorgungsprojekte sind ein Weg, die Versorgung gezielt zu steuern, um die Kosten in den Griff zu bekommen.
Halten Sie die ursprüngliche Idee von Gesundheitsfonds und Morbi-RSA für sinnvoll?
Der Gesetzgeber hat mit dem Morbi-RSA zwei Ziele verfolgt: Erstens wollte er durch die Einführung eines Ausgleichs von Morbiditätsrisiken in den Versichertengemeinschaften mehr Gerechtigkeit in der Mittelverteilung schaffen. Dadurch sollte zweitens mehr Geld für die Versorgung bereitgestellt werden. Im Grunde ging es darum, Anreize für einen Wettbewerb um eine effiziente Versorgung von kranken Versicherten zu setzen. Diesen Ansatz halte ich auch heute noch für richtig.
De facto sieht es aber so aus: Der Gesundheitsfonds ist heute die alleinige Einnahmequelle der gesetzlichen Krankenversicherungen. Er belässt aber circa 50 Prozent der Ausgaberisiken real bei den Krankenkassen, in dem eben ein Großteil der Krankheiten nicht finanziell ausgeglichen wird. Gleichzeitig gibt man den Kassen aber noch immer nicht die seit langem geforderte Vertragsfreiheit, die nötig wäre, um Kosten effektiv steuern zu können.
Mit dem Grundlagenbescheid II vom 1. April 2009 erfolgte dann eine weitere Umverteilung von Mitteln hin zu den Jungen und Gesunden. Versorgerkassen mit einem hohen Rentneranteil wurden mit der Kürzung der Zuweisungen in den Alters- und Geschlechtsgruppen bei älteren Versicherten erheblich getroffen. Insgesamt bewirkt die Kürzung allein in diesen beiden Altersgruppen Minusbeträge in Millionenhöhe. Kassen mit einer Vielzahl von jungen und gesunden Mitgliedern sind hingegen durch diese Veränderungen seit 01.04.2009 die Gewinner. Die zusätzlichen Mittel werden dabei aus den Gruppen der Alten und Kranken generiert. Diese Ungerechtigkeit muss dringend behoben werden.
Welche konkreten Änderungen am Morbi-RSA fordern Sie?
Zuerst einmal muss der Morbi-RSA um weitere Krankheitsbilder erweitert werden. Die 80 Krankheitsbilder, die derzeit ausgeglichen werden, sind - genau wie die Zahl 80 - relativ willkürlich gewählt. Es gibt weitere, derzeit nicht aufgeführte Krankheiten, für die es ebenfalls Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds geben muss.
Des Weiteren fordern wir, dass Ausgaberisiken (wie z.B. die Impfstoffe für die Schweinegrippeimpfung), Gesetzesänderungen sowie Steigerungen bei den Krankenhaus- und Ärztehonoraren in Zukunft bei der Fondskalkulation berücksichtigt werden.
Ein weiterer Punkt ist, dass Versorgerkassen durch ihre hohe Anzahl von sterbenden Versicherten im Nachteil sind. Bekanntermaßen sind die Behandlungs- und Arzneimittelkosten im Sterbejahr überdurchschnittlich hoch. Sie werden aber im Ausgleichsjahr, also dem Folgejahr, nicht bei der Mittelverteilung für alle lebenden Versicherten mit Erkrankungen berücksichtigt. Das muss sich ändern.
Gesundheitsrisiken werden überwiegend pauschaliert und nach Durchschnittswerten ausgeglichen. Es gibt aber Menschen, deren Krankheitsbild ein Vielfaches der Kosten verursacht, die durch den Morbi-RSA ausgeglichen werden. Allein die sieben teuersten Leistungsfälle verursachten 2008 bei der Deutschen BKK ein Minus von 3,87 Millionen Euro. Früher gab es dafür einen Hochrisikopool, der diese Sonderfälle gesondert ausglich. So etwas fehlt im Morbi-RSA und muss dringend eingeführt werden.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass Versorgerkassen, die die eigentliche Aufgabe einer Krankenversicherung übernehmen - nämlich Kranke zu versorgen - heute dafür bestraft werden. Krankenkassen, die viele junge, gesunde Versicherte haben, viele Beiträge einnehmen und kaum Ausgaben haben, werden dagegen mit üppigen Zahlungen aus dem Morbi-RSA belohnt. Das ist eine verkehrte Welt.
Die Deutsche BKK ist eine der Krankenkassen, die einen Zusatzbeitrag erhebt. Würden Sie auch das in Zusammenhang mit dem Morbi-RSA bringen?
Unbedingt. Wenn man sich heute anschaut, welche Krankenkassen einen Zusatzbeitrag erheben, dann sind das unter anderem Ersatzkassen oder einige Betriebskrankenkassen, die ältere Belegschaften von Betrieben versichern. Bei anderen großen Versorgerkassen nehme ich an, dass sie auf Zeit spielen oder noch finanzielle Reserven aus besseren Zeiten besitzen, so dass sie den Zusatzbeitrag noch schieben können. Man kann auch so mit dem Problem Zusatzbeitrag umgehen, dass man Leistungen kürzt. Ich unterstelle das keiner Krankenkasse, aber es wäre theoretisch eine Möglichkeit, den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das kam für uns aber nicht in Frage, gerade aufgrund unserer Versichertenstruktur mit vielen Älteren und Kranken.
Die nächste Gesundheitsreform von Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler steht vor der Tür. Wird sie die Probleme des Morbi-RSA lösen?
Im Gegenteil. Meine These ist, dass das GKV-Finanzierungsgesetz 2011 die Anreize zur Risikoselektion noch verstärkt. Unseren Berechnungen zufolge bleiben die Nachteile für Versorgerkassen auch nach der Gesundheitsreform erhalten. Denn an den Verteilungsmechanismen des Morbi-RSA ändert sich nichts. Zusätzlich wird der Wettbewerb unter den Krankenkassen durch politische Eingriffe massiv beeinflusst. Beispielsweise wurde die Rückzahlung der Konvergenzmittel verschoben auf 2011. Ohne diese Maßnahme müssten einige Kassen schon längst einen Zusatzbeitrag erheben. Hier wird also einzelnen Krankenkassen eine süddeutsche Extrawurst gebraten. Mit fairem Wettbewerb hat das nichts zu tun.
Welche Auswirkungen erwarten Sie durch die geplante Gesundheitsreform?
Wird alles so umgesetzt, wie es im Referentenentwurf aufgeführt ist, so wird sich an der Marktspreizung in Kassen mit und ohne Zusatzbeitrag - die wie gesagt auf historisch gewachsenen Versichertenstrukturen und Vermögenslagen beruht - erst einmal nichts ändern. Der Wettbewerb vorwiegend über den Preis intensiviert sich. Das primäre Interesse der Kassen wird weiterhin sein, den Zusatzbeitrag so lange wie möglich zu vermeiden, statt in Leistungen und neue Versorgungsmodelle zu investieren. Das heißt, es wird nach wie vor einen Preiswettbewerb geben, statt einen wie von der Politik eigentlich gewünschten Wettbewerb um Leistungen. Kassen mit eher jungen und gesunden Mitgliedern haben weiter Vorteile über den Morbi-RSA. Die Folge sind Zusatzbeiträge für vorwiegend ältere und kranke Mitglieder in den Versorgerkassen. Neue Verwaltungsaufgaben wie die Durchführung des Sozialausgleiches, Meldewesen oder die Zusammenführung von Daten werden den Kassen erteilt. Gleichzeitig verlangt man von ihnen, dass die Verwaltungskosten nicht steigen dürfen. Und letztendlich, und hier schließt sich der Kreis zum Thema Versorgungsforschung, gibt es nur wenig Chancen für Investitionen ins Versorgungsmanagement, die mittelfristig einen Nutzen bringen. Dabei wären sie gerade jetzt nötig, um Rationierungstendenzen im Gesundheitssystem entgegenzuwirken. <<
Herr Kolanoski, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.