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„Versorgung gemeinsam gestalten“

Von 2002 bis 2005 war Birgit Fischer Ministerin für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen, seit 2007 Stellvertretende und ab 2010 dann Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK. Bis sie im Mai 2011 einen großen Schritt auf die Industrieseite machte und als Nachfolgerin von Cornelia Yzer Hauptgeschäftsführerin des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) wurde. Dieser Schritt polarisierte, sogar von Anrüchigkeit war die Rede, wohl auch, weil sie auf Kassenseite durchaus als Kritikerin der Pharmaindustrie galt. Heute, exakt ein Jahr später, sind solche Kritiken Vergangenheit, auch, weil sich die gelernte Pädagogin als „Brückenbauerin“ versteht, als jemand, der die verschiedenen Seiten des Gesundheits-systems kennt, versteht und an einer neuen gemeinsamen und vor allem zukunftsfähigen Versorgungslösung mitarbeiten möchte.

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Erstveröffentlichungsdatum: 24.02.2012

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Von 2002 bis 2005 war Birgit Fischer Ministerin für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen, seit 2007 Stellvertretende und ab 2010 dann Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK. Bis sie im Mai 2011 einen großen Schritt auf die Industrieseite machte und als Nachfolgerin von Cornelia Yzer Hauptgeschäftsführerin des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) wurde. Dieser Schritt polarisierte, sogar von Anrüchigkeit war die Rede, wohl auch, weil sie auf Kassenseite durchaus als Kritikerin der Pharmaindustrie galt. Heute, exakt ein Jahr später, sind solche Kritiken Vergangenheit, auch, weil sich die gelernte Pädagogin als „Brückenbauerin“ versteht, als jemand, der die verschiedenen Seiten des Gesundheits-systems kennt, versteht und an einer neuen gemeinsamen und vor allem zukunftsfähigen Versorgungslösung mitarbeiten möchte.

>> Frau Fischer, bei der Vorstellung des Jahresberichts der freiwilligen Selbstkontrolle sagten Sie kürzlich: „Kooperation braucht Vertrauen, klare Regeln und Transparenz“. Ist das so etwas wie Ihr ganz persönliches Glaubensbekenntnis?
Ich glaube, dass jeder in seinem jeweiligen Berufsbereich und in den jeweiligen Sektoren versucht, seinen Job so gut wie möglich zu machen. Doch leider ist es oft so, dass dabei zu viele nur ihren Job, ihre Rolle und ihre Funktion sehen. Dadurch entsteht im Laufe der Zeit eine Unkenntnis über das Denken, die Situation und die Rahmenbedingungen des jeweils anderen. Das führt zu Verwerfungen und manchmal sogar zu Feindschaften, weil es eigentlich doch nur darum geht, eigene Interessen zu verteidigen, wodurch die anderen, die doch auch gute Versorgung wollen, schnell zum Gegner werden. Der Blick auf die gemeinsame Schnittmenge, die gemeinsame Zielsetzung und Interessenlage geht verloren.

Das scheint durchaus die Realität im deutschen Versorgungssystem zu sein.
Zumindest solange man nicht versucht, die gemeinsame Ausgangssituation und Interessenlage zurück zu gewinnen. Das erfordert Verständnis und Verstehen der jeweils anderen Seite, wobei mir dieses „andere Seite“ schon zu konfrontativ klingt.

Ist das realistisch?
Es wird, weil es die gemeinsame Schnittmenge eindeutig gibt.

Wie definieren Sie diese gemeinsame Schnittmenge?
Für mich wäre die erste und wichtigste Schnittmenge die gemeinsame Ausrichtung auf den Patienten. Anders wird es auch nicht gehen, denn der Patient selbst hat nicht die Wahl, sich zwischen dem ein oder anderen Player zu entscheiden, im Zweifel braucht er schlicht und ergreifend alle. Nun geht es aus Patientensicht darum, eine Abstimmung, eine Koordination und eine Kooperation hinzubekommen, damit möglichst alle am gleichen Strang ziehen.

Das tun doch schon heute alle, nur an verschiedenen Enden des Strangs, weil alle im Endeffekt um die eigenen Budgets kämpfen.
Was so eigentlich nicht nötig wäre. Eine Erfahrung aus der jüngsten Vergangenheit ist, dass es beispielsweise überhaupt nicht zutrifft, dass Patienten von Fachärzten nicht zu den Hausärzten zurückkommen. Wichtig ist doch, wer was zu welchem Zeitpunkt am Besten für den Patienten leisten kann. Nichts anderes. Man kommt nie zu einer guten Arbeitsteilung, wenn man nur aus der eigenen Interessenlage heraus denkt, aber man kommt sehr wohl dazu, wenn man das aus der Interessenlage der Patienten tut. Die zweite Erkenntnis der letzten Jahre ist, dass es wohl kurzfristig funktionieren mag, wenn man sich ein-„igelt“ und seine eigenen Interessen gegen die der anderen durchsetzt, doch mittel- und langfristig funktioniert das nie.

Weil mittel- und langfristig nur Lösungen funktionieren können, die eine Win-Win-Situation für die Beteiligten bedeuten.
Eben. Ich erlebe derzeit die Bereitschaft, in dieser Beziehung umzudenken. Was vielleicht nicht ganz aus freiwilligen Stücken passiert, sondern weil alle mit dem Rücken zur Wand stehen und alle merken, dass es so wie bisher nicht mehr weiter geht.

Warum geht es denn nicht weiter?
Es gibt nun einmal bestimmte Zeiten, in denen Spezialisierung und Qualitätsentwicklung sinnvoll und notwendig ist. Wenn man aber einen bestimmten Qualitätsstandard erreicht hat, ist ein weiterer Fortschritt und eine weitere Qualitätssteigerung nur im Sinne der Kooperation möglich. Und in puncto Spezialisierung sind wir in Deutschland sowieso perfekt. Doch fehlt jetzt die ganzheitliche Sicht.

Wer kann diese Sicht einbringen?
Die Patienten könnten sie einfordern.

Nur haben sie keine ausreichend starke Stimme.
Stimmt. Doch heute spüren alle Beteiligten im Gesundheitssystem, dass sie mit ihren Interessen alleine nicht weiterkommen. Das gefährdet zunehmend die Qualität der Versorgung, weil keiner alleine die richtige Behandlung zum richtigen Zeitpunkt für die richtigen Patienten gewährleisten kann. Darum sind alle Leis-tungserbringer sowohl interdisziplinär als auch multiprofessionell darauf angewiesen, andere Kooperationspartner zu finden, mit denen sie die Versorgung gemeinsam gestalten können.

Was auch heißen würde, ein solches Denken ganz zu Beginn der Ausbildung von Ärzten und medizinischen Berufen, von denen es immerhin rund 800 in Deutschland gibt, zu implementieren. Doch gibt es keine verschränkten Ausbildungswege.
Zurzeit stellen wir genau darum in vielen Bereichen eine Fehl- oder auch Unterversorgung fest, einfach deshalb, weil vielfach die Kooperation und Abstimmung nicht funktioniert. Zusammenarbeit ist hier unabdingbar. Und wenn es eine hohe Berufsunzufriedenheit in den einzelnen Bereichen gibt, hat das auch damit zu tun, dass der Einzelne eben nicht mehr das optimale Ergebnis bringen kann. Das ruft doch geradezu nach Kooperation. Wenn wir vor Jahren noch über integrierte Versorgung gesprochen haben und das mehr eine Überzeugungsarbeit war, hat sich heute weitgehend die Erkenntnis herausgebildet, dass integrierte Versorgung schlicht und ergreifend notwendig ist.

Die Frage ist nur, wie das in einem Gesundheitswesen geschehen soll, das derart sektoral aufgeteilt ist und in dem auch die einzelnen Honorartöpfe sektoral gegliedert sind.
Bei Veränderungsprozessen wird es immer in gewisser Hinsicht „Gewinner“ und „Verlierer“ geben. Dass jeder Angst davor hat, zu den „Verlierern“ zu gehören, ist klar. Darum muss man diese Angst zunächst mal ein Stück weit zurücknehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen, die wirklich Win-Win-Win-Situationen sind. Das ist das Kunststück.

Welche Rolle kann die pharmazeutische Industrie in diesem Konzept einnehmen?
Wenn man die gesamte Versorgung des Patienten sieht, dann ist die Rolle der Industrie im weitesten Sinne die gesundheitliche medizinische Leistung. Die ist ohne Innovation und ohne die pharmazeutische Industrie überhaupt nicht denkbar.

Nun ist allzu oft die Rede von Innovationsfeindlichkeit.
Es hat sich im Gesundheitswesen entwickelt, dass wir nicht über Forschung, Entwicklung und Innovationen und damit auch über medizinischen Fortschritt reden. Stattdessen haben wir in den letzten Jahren dieses Gegeneinander und diese beiden scheinbar feindlichen Seiten immer weiter „gepflegt“. Diese Hürde muss überwunden werden, diese Brücke muss geschlagen werden, wenn man die gemeinsamen Chancen und Potenziale heben und die vorhandenen Ressourcen einsetzen möchte für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung der Versorgung und der Therapien. Einen anderen Weg kann ich mir kaum vorstellen, wenn man die heute erreichte Qualität auch nur bewahren möchte.

Nur gibt es leider sehr wenig richtig funktionierende, integrierte Verträge wie beispielsweise das Schizophrenieprojekt von Janssen-Cilag und der AOK in Niedersachsen.
Das wundert mich nicht. Es müssen viele Hindernisse und Handicaps überwunden werden, bis ein solches Projekt funktioniert. Auch das Projekt in Niedersachsen hat rund vier Jahre gebraucht, bis es überhaupt zustande gekommen ist. Auch waren die Anfeindungen gegenüber der Kasse als auch gegenüber der Industrie massiv.

Weil immer gleich der Vorwurf im Raum steht, die Industrie wolle nur mehr Arzneimittel verkaufen.
Ich finde diesen Verdacht schlicht einseitig und undifferenziert.

Vielleicht steht ganz allgemein ein globales Vorurteil hinter solchen, mit der Industrie initiierten Projekten.
Das Kerngeschäft der forschenden Pharmaunternehmen ist die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln. Und wie in jedem anderen Forschungsbereich auch, geht es hier um die Frage der Anwendung, also schlicht und ergreifend um die medizinische Versorgung. Die Industrie kann es sich überhaupt nicht leisten, kein Interesse daran zu haben, dass eine Versorgung qualitativ hochwertig und gut abläuft. Damit steht und fällt im Grunde die Qualität der eigenen Arbeit und der eigenen Produkte, die sich letztendlich in die Versorgungsrealität einzubringen haben.

Nur war das Denken innerhalb der Industrie über viele Jahre sehr auf das Arzneimittel als solches fixiert.
Sie war auf das Produkt konzentriert, ohne im Grunde die Bedingungen, unter denen Versorgung stattfindet, und die Strukturen, in denen Versorgung stattfindet, mit in den Blick zu nehmen und dadurch Kenntnis und Mehrwert zu generieren. Das war sicherlich ein großes Manko. Gerade darum gibt es ja derzeit einen Veränderungsprozess, in dem sich die Industrie als ein Mitspieler im Gesundheitswesen versteht und auch bereit ist, Verantwortung in gemeinsamen Versorgungslösungen zu übernehmen. Im Grunde spielt sich das Gleiche derzeit auch auf der Kassen- und der Ärzteseite ab, die zunächst einmal eine Mauer aufgebaut haben, die sie nun überwinden müssen.

Wie kann man denn Vertrauen aufbauen? Wobei allen wohl bewusst ist, dass das Pharmamarketing der Vergangenheit nicht immer unbedingt vertrauensbildend war.
Vertrauen kann man nur über Beziehungen aufbauen und über Dinge, die man gemeinsam tut. Vertrauen braucht den Praxistest: Zusagen halten und Versprechen ebenso! Das erzeugt Verlässlichkeit. Darum geht an diesem mühsamen Weg des Ausprobierens und des Erprobens überhaupt nichts vorbei.

Was spricht für einen erweiterten Pay-for-Performance-Gedanken?
Pay-for-Performance ist ein mögliches Modell. Doch glaube ich, dass es viel gängigere Modell gibt, mit denen bestimmte Versorgungsprogramme gemeinsam angegangen werden können. Wenn Abstimmungen notwendig sind, wenn Vereinbarungen getroffen werden müssen, wenn Übereinstimmungen in der Zielsetzung nötig sind, dann sorgen die Verhandlungspartner eigentlich automatisch dafür, dass all die dafür notwendigen Schritte auch qualitätsgesichert sind. Man wird sich immer in gewisser Weise an Leitlinien und evidenzbasierter Medizin orientieren, wobei als wichtigstes Messkriterium der Nutzen für den Patienten sein muss. Damit misst man im Grunde nicht den Input einer Leistung, sondern den Outcome, also das Ergebnis für den Patienten. Doch leider betrachten wir noch zu wenig die tatsächlichen Prozesse oder den wirklichen Outcome.

Da sind wir uns einig. Was kann man jetzt tun, um dem hehren Ziel besserer Versorgung näher zu kommen?
Ich erlebe mittlerweile viele Gesprächsplattformen und viele unterschiedlichste Gruppen, die sich aus verschiedenen Akteuren zusammensetzen und die gemeinsam beginnen darüber nachzudenken, wie Prozesse anders und besser gestaltet werden könnten als bisher. Ich persönlich glaube nicht daran, dass man über gesetzliche Änderungen unser Gesundheitswesen einfach von heute auf morgen verändern kann. Veränderung muss von der Praxis getrieben und auch von der Praxis getragen werden. Das werden natürlich in einem Kollektivsystem nie alle gleichzeitig tun, sondern es wird immer einige Entrepreneure geben, die Fortschritt sehen und diesen umsetzen wollen. Diese offenen Köpfe, die nach intelligenten Lösungen suchen, muss man zusammen bringen, um zu versuchen, etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen.

Könnte nicht der vfa ein derartiger Pool sein, in dem ein Masterplan Versorgung aufgelegt werden könnte?
Ich glaube nicht, dass ein Player und dazu zähle ich die Industrie, sagen kann: Ich setze mir jetzt den Hut auf und schreite voran. Die Bereitschaft muss in den verschiedensten Bereichen vorhanden sein. Nur, wenn sich Akteure aus den verschiedensten Bereichen zusammenfinden, wird man eine wirkliche Veränderung zum Besseren in Gang setzen können. Diese Bereitschaft gibt es jedoch durchaus. Doch leider sind auch die Handicaps und auch die finanziellen Restriktionen nach wie vor enorm groß. Solange es nicht so etwas wie beispielsweise einen Innovationsfonds gibt, wird sich daran auch wenig ändern. Eine Finanzierung aus der Industrie alleine wäre vielleicht möglich, aber im Prinzip überhaupt nicht denkbar, weil dann sofort wieder alle Vorurteile auf den Plan gerufen würden. Darum müsste es schon eine Beteiligung der unterschiedlichsten Akteure geben.

Präferieren Sie ein bestimmtes Modell? Integrierte Versorgung à la Niedersachsen? Kinzigtal à la Hildebrandt? ACO à la USA?
Es wird die verschiedensten Modelle nebeneinander geben. Man kann nicht auf ein einziges Modell setzen und sagen: Das ist jetzt der richtige Weg. Alle haben ihre Berechtigungen, wenn sie letztendlich im Ergebnis zu einer strukturierten, evidenzbasierten Behandlungsweise führen.

Ergebnisse von Versorgungsforschung sind Geschäftsgeheimnisse der Forschenden, ob das nun Kassen oder Pharmafirmen sind: Sollten diese Ergebnisse nicht generell öffentlich sein?
Der erste Schritt wäre es, dass sich die Beteiligten an Versorgungsforschungsprojekten einig sind, wie mit Daten umgegangen werden soll. Hier sind Versorgungswissenschaft, aber auch Krankenkassen und Pharmaunternehmen gefordert. Eine besondere Bedeutung kommt dabei selbstverständlich den betroffenen Patienten und ihren Interessenvertretungen zu. Denn um ihre Daten geht es ja!

Die Frage ist nur, ob die Pharmaindustrie Versorgungsforschung unter dem Rubrum des reinen Erkenntnisgewinns mit finanzieren wird.
Wenn wir zum Beispiel bei der individualisierten Medizin über bestimmte Patienten-, Indikations- und Bevölkerungsgruppen reden, wird deutlich, dass der Blick der Industrie sehr viel differenzierter werden muss, weil eben nicht mehr nur eher allgemein auf ein bestimmtes Krankheitsbild abgestellt wird. Dazu braucht man Versorgungsforschung, aber auch eine differenzierte Herangehensweise. Daraus ergeben sich wiederum bestimmte Fragestellungen, die für die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln relevant sind. Forschung wird mehr und mehr aus der Versorgungspraxis heraus geschehen müssen, denn die großen Erkenntnisse und Erfahrungen alleine aus der Naturwissenschaft sind wohl eher endlich. Darum glaube ich, dass wir uns in einem absoluten Umbruch auch innerhalb der Forschung befinden, in der wiederum die Versorgungsforschung eine zentrale Rolle spielen wird.

Das ist Neuland, das hier betreten wird.
Sicher. Das heißt auch, dass unsere bisherigen Verhaltens-, aber auch Zulassungsmuster plötzlich nicht mehr funktionieren. Aus Sicht der forschenden Pharmahersteller sind das absolut zentrale Fragen, die darüber entscheiden werden, ob es in Zukunft noch Innovationen geben kann.

Sehen Sie diese Gefahr wirklich jenseits aller Verbands-Theatralik?
Diese Gefahr sehe ich durchaus. Wenn es nicht gelingt zu kooperieren, sondern wenn weiterhin jeder seinen Teil nebeneinander her macht, dann wird es nicht möglich sein, eine gemeinsame Lösung zu schaffen. Der Sinn von jedweder Forschung und Entwicklung entscheidet sich letztendlich immer darin, ob das Ergebnis in der Anwendung möglich ist, es für Patienten Zugang zu dieser innovativen Versorgung gibt oder nicht, und ob ein innovatives Arzneimittel wirklich Eingang in die Therapie findet. Hier kommt das gesamte Spektrum der Nutzenbewertung und der Preisverhandlungen zum Tragen. Ich erlebe im Augenblick ein hoch komplexes System, das viele Entscheider in dieser Komplexität nicht durchschauen und darum vielleicht Entscheidungen treffen, die in die Irre führen können.

Nun wird der AMNOG-Prozess als lernend bezeichnet. Man sieht jedoch, dass die Unternehmen, die die frühe Nutzenbewertung durchschreiten, vor allem mit vier Problemkomplexen - zweckmäßige Vergleichstherapie, verwandte Studien, verwandte Parameter und Operationalisierung des Zusatznutzens - ihre liebe Not haben. Was würde denn aus dem „lernenden System“ ein „verstehendes System“ machen?
Die Frage ist doch, warum reden wir überhaupt von einem „lernenden System“? Wir tun das deshalb, weil das AMNOG in Deutschland eine Premiere war. Das heißt, es wurden neue Instrumente geschaffen, deren genaue Anwendung aber nicht ganz klar ist. Deshalb ist eine Reflektion über die Anwendung der Instrumente nötig. Wie nötig ein Monitoring ist, zeigt sich in vielen Einzelfällen der jüngsten Zeit. Unser aller Augenmerk sollte jetzt darauf gerichtet sein, dass sich das unter dem Strich nicht zu Lasten der Patienten auswirkt. Ihre Versorgung mit Innovationen darf nicht ins Stocken geraten. Wenn also in Bewertungen oder Verhandlungen Bedingungen ausgeblendet werden, die für die Forschung von Unternehmen entscheidend sind, muss es im gemeinsamen Interesse liegen, darüber nachzudenken, wie diese Bedingungen angemessen berücksichtigt werden können.

Boehringer und Lilly zogen kürzlich die „Opt-Out“-Option, weil sie mit dem in der Preisverhandlung diskutierten Preisspanne von wenigen Cent für ihr innovatives Medikament nicht zufrieden sein wollten, vor allem in Hinblick auf die europäische Preisbildungsfunktion der deutschen Preise. Wie würde die Argumentation denn aus Sicht ihrer früheren Funktion bei der Barmer GEK lauten? Und wie aus der jetzigen?
Wichtig ist es jetzt, dass alle Beteiligten gemeinsame Lösungen finden, die in der Sache weiter helfen. Im Mittelpunkt müssen dabei die Interessen der Patienten an einer guten Versorgung mit innovativen Arzneimitteln stehen. Der Nutzen für sie muss auch künftig gewährleistet sein. Und das wird nur gelingen, wenn auch die Wettbewerbsbedingungen von international forschenden Unternehmen angemessen berücksich-tigt werden. Denn sie sind es, die für den Nachschub an Innovationen sorgen müssen. Patienten brauchen im Ergebnis sowohl die Pharmaunternehmen, die forschen, als auch die Krankenkassen, die notwendige Leistungen finanzieren. Deshalb sollten wir im Interesse der Patienten auch keine unnötigen Gegensätze zwischen Pharmaindustrie und Krankenkassen konstruieren. Für die Patienten ist entscheidend, wie sie zusammenarbeiten.

Hat sich das Image der Pharma-Unternehmen durch das AMNOG, die Konzentration auf die Belegung des Nutzens und eine - wie auch immer - faire Preisbildung wirklich schon verändert? Oder wird es sich langsam verändern?
Das AMNOG ist kein Instrument, um am Image zu arbeiten. Vielmehr bieten seine Strukturen und Instrumente die Gelegenheit für faire Verhandlungen und die Chance, den Patientennutzen in den Mittelpunkt zu stellen. Verhandlungspartner, die fair miteinander umgehen und gute Ergebnisse produzieren, können sicher mit Wertschätzung rechnen, ohne dass sie krampfhaft um ihr eigenes Image bemüht sein müssen. Das ist jedenfalls der Weg, den die Industrie gehen will.

Was können Sie ganz persönlich tun, nachdem Sie den nicht ganz unpolarisierenden Schritt über die Brücke von der Kassen- auf die Industrieseite getan haben?
Die Brücke, über die ich da gegangen bin, hat schon einen richtig großen Schritt erfordert - doch vielleicht war das auch ein kleines Vorbild für andere. Vertrauen ist nun einmal das A und O und Verständnis das Alphabet. Menschen, die das System von verschiedenen Seiten erlebt haben, zeigen vielleicht etwas mehr Bereitschaft und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit als andere, die in ihren Sektoren verhaftet sind.

Frau Fischer, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.