>> Die Diskussion um die Versorgungsforschung in Deutschland hat - vor allem ausgelöst durch das Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR 2001) - in den vergangenen Jahren erheblich an Fahrt gewonnen. Das Publikationsaufkommen ist angestiegen, man findet aber auch vermehrt geschickt in der Öffentlichkeit platzierte Studien, die explizit als Versorgungsforschung angepriesen werden und teilweise einen faden Beigeschmack hinterlassen.
Versorgungssituation bei Demenz: Beispielhaft sei die am 04.06.2009 in Berlin vorgestellte Untersuchung zur medikamentösen Versorgungsqualität von Demenz-Patienten genannt. Diese Studie wurde vom Institut für Empirische Gesundheitsökonomie (IfEG) in Kooperation mit dem Pharmaunternehmen Merz und der Krankenkasse BARMER durchgeführt. Eine vollständige Publikation der Studie mit ausführlicher Beschreibung der Methodik liegt allerdings bisher nicht vor. Soweit ersichtlich, wurden in dieser Querschnittsstudie Routinedaten der BARMER von 21.512 Patienten mit Alzheimer-Demenz aus dem Jahr 2005 bezüglich Therapie und angefallenen Kosten ausgewertet (Pressemappe 2009; Weihrauch 2009).
Es wurden dazu 3 Gruppen gebildet:
• Patienten mit Memantine-Verordnungen ohne zusätzlichen Einsatz anderer Antidementiva, Psychopharmaka, Hypnotika oder Sedativa („Memantine-Gruppe“)
• Patienten mit Verordnungen von Psychopharmaka, Hypnotika oder Sedativa ohne zusätzliche Antidementiva („PHS-Gruppe“)
• Patienten, die weder Verordnungen von Psychopharmaka, Hypnotika, Sedativa oder Antidementiva erhielten („keine AM“).
Insgesamt gelangten 6,7 % des Kollektivs in die Memantine-Gruppe. Diese Patienten wiesen mit durchschnittlich 7.028 Euro die niedrigsten Gesamtkosten im Untersuchungsjahr 2005 auf, vor allem bedingt durch die geringen Ausgaben für Pflegeleistungen. Die meisten Patienten gehörten zur PHS-Gruppe (58,4 %), hier lagen die Gesamtkosten aufgrund hoher Ausgaben für Pflegeleistungen bei 13.549 Euro. Die Gruppe ohne Arzneimittel fand sich mit 8.818 Euro dazwischen. Diese Ergebnisse sind nicht verwunderlich und waren zumindest teilweise durch die Definition der Gruppen vorbestimmt: Patienten mit Memantine und zusätzlicher Therapie mit Psychopharmaka wurden ja von vornherein ausgeschlossen. Zudem wird ein Mittel, das, wenn überhaupt, die Progression der Demenz geringfügig beeinflussen kann (Raina et al., 2008), wahrscheinlich auch nur an Patienten in weniger schweren Krankheitsstadien verabreicht, selbst wenn Memantine für moderate bis schwere Formen der Alzheimer-Demenz zugelassen ist. Patienten mit fortgeschrittener Demenz leben häufiger im Heim, das zeigen auch die Daten. Sie leiden eher an Agitiertheit, was oftmals eine psychopharmakologische Therapie indiziert erscheinen lässt. Aus diesen Befunden dann allerdings, wie es der Studienautor Reinhard Rychlik in der Pressemitteilung tut, zu schlussfolgern, dass eine unterbliebene antidementive Arzneimitteltherapie der Alzheimer-Demenz besonders in der Pflege höhere Kosten verursacht, entbehrt jeder Evidenz und ist auf Basis der gewählten Methodik nicht zulässig. Aus Querschnittsstudien darf keine Kausalität abgeleitet werden, dies kann man in jedem Lehrbuch der Epidemiologie nachlesen. Weiter kommt der Studienautor zu der Schlussfolgerung, dass die günstigsten Ergebnisse in der Memantine-Gruppe auftraten. Dies ist ein „pikantes“ Ergebnis: Der Sponsor Merz vertreibt das Präparat „Axura“ mit dem Wirkstoff Memantine. Unklar bleibt dabei nämlich vor allem, wieso die ebenfalls ausschließlich für die Demenzbehandlung zugelassenen Cholinesterasehemmer überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Diese machen immerhin fast zwei Drittel des Verordnungsvolumens für Antidementiva aus (Schwabe/Paffrath 2008) und wurden sogar vom IQWiG - übrigens im Gegensatz zu Memantine - vorsichtig positiv bewertet (IQWiG 2007; 2009). Für das pharmazeutische Unternehmen Merz sei es notwendig, qualitativ hochwertige Versorgungsstudien durchzuführen, so die Pressemitteilung weiter. Das können wir nachvollziehen, nur mit einer solchen Untersuchung, die eher Marketingcharakter hat, wurde dieses Ziel sicherlich verfehlt.
Überleben im DMP: Die ELSID-Studie wurde am 12.08.2008 auf einer Pressekonferenz vorgestellt und auch deren Ergebnisse wurden seitdem immer wieder in der Öffentlichkeit zitiert. Soweit aus den dürftigen Informationen zur Methodik ersichtlich ist, wurden Routinedaten von zwei AOKen verwendet, um Diabetespatienten in einem Disease-Management-Programm (DMP) mit solchen ohne DMP zu vergleichen. Nach einer gematchten Analyse versterben nach 2,5 Jahren 9,5 % der Patienten im DMP im Vergleich zu 12,3 % außerhalb des DMP. Ein solcher absoluter Überlebensvorteil von fast 3 Prozentpunkten nach nur 30 Monaten durch die Teilnahme am DMP, nachgewiesen durch eine Beobachtungsstudie, erscheint allerdings irgendwo zwischen unglaublich und unglaubwürdig. Studiensponsor war übrigens der AOK-Bundesverband, der dann auch in der Ausgabe 11/2008 der Zeitschrift „Gesundheit und Gesellschaft (G+G)“ neben einem Bild von zwei glücklichen Bergwanderern titelte „Disease-Management Programme der AOK: Auf dem richtigen Weg“. Ebenso wurden die Ergebnisse in „AOK Kompakt“ Ausgabe 02/2008, Informationen des AOK-Bundesverbandes für Ärzte, unter der Überschrift „Disease-Management-Programme: Auf Erfolgskurs“ vermarktet. Darüber sah man das Bild eines Schiffes auf hoher See. In dem zweiseitigen Text in G+G ist übrigens zu lesen: „Für die Studie gilt der international höchste Standard bezüglich der Transparenz.“ (Szecsenyi/Miksch 2008). Bis heute ist aber kein Volltext veröffentlicht, die Methodik hinter dem Überlebensvorteil also intransparent und damit nicht kritisch beurteilbar. Im bereits 2005 publizierten Studienprotokoll von ELSID liest man auch nur von einer cluster-randomisierten Studie, in der zwei DMP-Interventionen einer auf Basis von Routinedaten untersuchten Kontrollgruppe ohne DMP gegenüber gestellt werden sollen (Joos et al., 2005). Primärer Endpunkt beim Vergleich der beiden DMP-Gruppen war der Anteil Patienten, die beim HbA1c und Blutdruck die vorgegebenen Zielwerte erreichen bzw. beim Vergleich mit der Kontrollgruppe die Verordnung relevanter Medikamente. Eine Überlebenszeitanalyse wurde in diesem Protokoll nicht erwähnt.
Versorgungsforschung und Interessen: Beiden Studien ist gemein, dass sie für Marketingzwecke verwendet wurden, ohne gleichzeitig eine Volltextpublikation vorzulegen. Transparenz bildet jedoch die Voraussetzung dafür, die Methodik einer Studie kritisch beurteilen zu können. Ohne diese Transparenz sind solche Ergebnisse wissenschaftlich nur wenig „belastbar“. Beide Studien haben auch die Gemeinsamkeit, dass dahinter spezifische Interessen zu erkennen sind. Ein Hersteller dürfte daran interessiert sein nachzuweisen, dass sein offensichtlich effizientes Mittel viel zu selten eingesetzt wird. Auch für eine Krankenkasse ist ein Nutzennachweis ihrer DMPs höchst relevant.
Dass Studien der Versorgungsforschung in der Regel spezifischen Interessen folgen, wurde von Donner-Banzhoff et al. (2007) in einem auch sonst lesenswerten Text herausgearbeitet. Grund dafür ist, dass das Arbeitsfeld der Versorgungsforschung sehr eng mit den Interessen von Leistungserbringern, Herstellern, Wissenschaftlern bzw. politischen Instanzen verknüpft ist. Die Ergebnisse von Versorgungsforschung können unmittelbar politische Entscheidungen beeinflussen und damit weit reichende Konsequenzen haben. Auch Pfaff und Kaiser (2006) machen deutlich, dass in Zukunft die gezielte staatliche Projektförderung interessenunabhängiger Themen in der deutschen Versorgungsforschung notwendig ist, um nicht Felder zu vernachlässigen, die keine Relevanz für finanzkräftige Akteure im Gesundheitswesen haben. Dies dürfte allerdings eine langwierige Entwicklung sein.
Was wir allerdings ohne großen Aufwand bewältigen können, ist Transparenz und Offenlegung der Interessen bzw. Sponsoren zu fordern, denn auch hier bestehen Defizite. Schneider et al. (2007) führten am 10.07.2006 eine Suche in PubMed nach deutschsprachigen Studien durch, die als „health services research“, „health system research“ oder „health research“ verschlagwortet und in den letzten beiden Jahren veröffentlicht wurden. Auch wenn die methodische Vorgehensweise, deutsche Studien ausschließlich über PubMed zu suchen und anschließend keine weiteren Einschlusskriterien zu definieren, durchaus kritisiert werden kann, sprechen die Ergebnisse eine eindeutige Sprache. Die gefundenen Artikel stammten aus 31 verschiedenen Zeitschriften, von denen 18 (58 %) Angaben zu Interessenkonflikten verlangten. Von den 71 darin publizierten Artikeln wurden allerdings nur in 11 (15 %) auch tatsächlich solche Angaben gemacht. Die Darlegung möglicher Interessenkonflikte ist bekanntermaßen ein komplexes und bei der Einreichung von Publikationen ungeliebtes Kind, weil oft nicht klar ist, wo hier die Grenzen zu ziehen sind. Deutlich weniger Interpretationsspielraum lässt allerdings die Frage nach dem Sponsoring einer Studie. Laut einem Review, in den alle Studien eingingen, die Arzneimittelroutinedaten deutscher Krankenkassen für Forschungszwecke nutzten und zwischen 1998 und 2007 publiziert wurden, machten 31 von 70 Artikeln (44 %) keine Angaben zum Sponsoring (Hoffmann 2009). Lediglich eine Publikation wies explizit darauf hin, dass die Studie ohne finanzielle Unterstützung durchgeführt wurde.
Grundsätzlich, so zeigt auch die empirische Evidenz (Nieto et al. 2007), lässt sich bei einem fehlenden Hinweis zum Sponsoring nicht direkt schlussfolgern, dass die Studie ohne externe Finanzierung durchgeführt wurde. Man tappt also im Dunkeln. Um vollständige Transparenz zu gewähren, ist es in solchen Fällen sinnvoll, einen Satz wie „Diese Studie wurde ohne externe Finanzierung (bzw. aus Eigenmitteln) durchgeführt“ einzufügen.
Fazit: In letzter Zeit scheint es immer mehr „in Mode“ zu kommen, auf den Zug „Versorgungsforschung“ aufzuspringen. Dann wird aus einer, im Übrigen von der pharmazeutischen Industrie finanzierten Querschnittsstudie plötzlich eine „prospektive Versorgungsforschungsstudie im Querschnittsdesign“ (Sander et al., 2008), eine Studienform, die uns vorher nicht einmal geläufig war. Wir müssen uns darüber im Klaren werden, dass Versorgungsforschung sehr eng mit spezifischen Interessen verknüpft sein kann. Es scheint leider einfach zu sein, Versorgungsforschung auch im Sinne dieser Interessen mit möglicherweise tendenziösen Studiendesigns zu missbrauchen. Umso wichtiger ist die kritische Beurteilung der angewandten Methodik und der zugrunde liegenden Interessen. Methodisch schlechte Studien werden grundsätzlich nicht dadurch besser, dass sie als Versorgungsforschung „verkauft“ werden. Versorgungsforschung benötigt dann das Instrumentarium der Evidenzbasierten Medizin (EbM) zur kritischen Studienbeurteilung. Transparenz ist eine notwendige Vorraussetzung dafür! Das Memorandum III des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) „Methoden für die Versorgungsforschung“ setzt diese Überlegungen daher berechtigterweise in den Mittelpunkt (Pfaff et al. 2009). <<