Zusätzliches
- Ausgabe: MVF 02/23 Erscheinungsdatum: 04-04-2023 Alle Ausgaben als PDF Printmagazin abonnieren Einzelheft bestellen Open Access
Im zweiten Teil des MVF-Fachkongresses „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“ sprachen nach Prof. Dr. med. Hon.-Prof. (DPU) Günther Jonitz (Medical School Berlin) Dr. Ursula Marschall (Barmer), Prof. Dr. Christoph von Kalle (SVR Gesundheit), Dr. h. c. Helmut Hildebrandt (OptiMedis AG) und Prof. Dr. Franz Porzsolt (ICE e. V.).
„Wie ist das Thema Patientenbedürfnis überhaupt im System verankert?“ Mit dieser Frage startete Dr. Ursula Marschall, Abteilungsleiterin Medizin und Versorgungsforschung der Barmer, in ihren Vortrag, in dem sie die Sichtweise der Patient:innen in den Fokus setzte.
Marschall: Lebensqualität im Spannungsfeld Gesundheit und Wirtschaftlichkeit
Der einzige Punkt, an dem sich Lebensqualität in unserem Gesundheitssystem bereits heute wiederfinde, ist nach Marschalls Ansicht das Thema Lebensqualität im Bereich des AMNOG-Prozesses, doch gelte allgemein: „Wir reden gerne über Patient:innen, wir reden jedoch seltener mit Patient:innen.“ Das Thema Patientensicht auch in den Innovationsfonds einzubringen, sei darum eine Herausforderung, der man sich stellen müsse. Ihre erste Frage: „Was könnte eine Patient:in nicht nur uns als Kasse, sondern uns im System fragen?“ Um darauf Antworten zu finden, brauche es in erster Linie die Arbeit der Versorgungsforschung. Und auch die, die die Kassen selbst initiierten. Marschall: „Wir brauchen keine Versorgungsforschung im Elfenbeinturm, sondern klare Darstellung und Quantifizierung von Versorgungsdefiziten.“ Denn, so die Barmer-Managerin: „Versorgungsforschung ist der Beginn zur Veränderung der Versorgung.“ Kassen hätten den immensen Vorteil, dass bei ihnen Daten sektorenübergreifend verfügbar seien, mit denen die Versorgungsrealität wenigstens annähernd dargestellt werden könne. Dies jedoch mit der Einschränkung, dass in Abrechnungsdaten nur jene In-
formationen dokumentiert seien, die tatsächlich abrechnungs- und erlösrelevant sind. Das bedeute aber, dass es eben nicht ausreiche, einen noch so supertollen Datenanalytiker mit Krankenkassendaten alleine zu lassen. Das Wissen darum, wie mit Abrechnungsdaten wichtige Erkenntnisse für die Versorgung generiert werden können, sei aber in vielen Kassen selbst vorhanden.
Zudem müsse man wissen, dass es in Deutschland keine einheitliche Versorgung gebe. Wer sich mit Versorgungsforschung und speziell der Patientensicht beschäftige, müsse darum nicht nur aussagefähige Daten generieren, die für ganz Deutschland gelten, sondern immer auch regionale Besonderheiten darstellen. Dazu zählten Informationen wie Einkommen, Bildung und
soziale Umfelder, die bei der Generierung von Lösungen eine wichtige Rolle spielen könnten. Nun dürften Sozialdaten eigentlich nur vier Jahre aufbewahrt werden, wenn man diese jedoch anonymisiere bzw. pseudonymisiere, könne man auch längere Zeitreihen darstellen.
Beim Innovationsfonds sei eine der drängendsten Fragen, warum nicht die gesamten Datenquellen, die in Deutschland vorhanden sind, vernetzt würden. Ihre Antwort: Weil das alles andere als trivial ist. So sollen zum Beispiel im Innovationsfondsprojekt „VersKiK“ Aussagen über die Langzeitentwicklung von Nebenwirkungen bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen getroffen werden. Dazu werde versucht, verschiedene Krankenkassendaten mit jenen des Krebsregisters zu verknüpfen, um so Langzeitaussagen über Langzeitnebenwirkungen machen zu können. Marschall: „Wenn nicht alle Beteiligten eine heitere Besessenheit hätten, hätten wir schon längst sämtliche Löffel fallen lassen und gesagt, dass man diese Frage nicht beantworten kann.“ Das liege nicht nur an den Daten an sich, sondern auch an der vorgegebenen, viel zu kurzen Projektlaufzeit von 36 Monaten, sowie an der ganz praktischen Hürde der Codierung. Denn Nebenwirkungen von Chemotherapien würden in der Regel nicht als solche codiert und seien dementsprechend nicht nur in Routinedaten schwer zu finden. Deswegen brauche es unbedingt die Vernetzung mit Krebsregistern, was aber leider nicht mal eben so machbar sei.
Als weiteres Beispiel nannte Marschall das Innovationsfondsprojekt „TRANSLATE-NAMSE“. Bei diesem inzwischen beendeten Projekt, das mit Patient:innen entworfen und auch durchgeführt worden sei, hätte der Nutzen von Exomsequenzierung gezeigt werden können. Diese Art der Sequenzierung könne dazu beitragen, eine richtige Diagnose zu finden, für die Patient:innen ansonsten in der Regel durchschnittlich zwischen acht bis zehn Jahre benötigen würden. Nun aber sei das Projekt beendet und man müsse sich der Frage stellen, wie es weitergehen kann, und wie die für das Projekt aufgebauten Netzwerke gesichert werden können, bis das Projekt irgendwann eine hoffentlich positive Empfehlung des G-BA zur Überführung in die Regelversorgung bekommt. Genau hier sieht Marschall Krankenkassen in der Verantwortung.
„Wie können wir die berechtigten Wünsche der Patient:innen praktisch umsetzen?“ Mit dieser rhetorischen Frage beendete die Barmer-Forscherin ihren Vortrag. Datenschutz, -erhebung und -nutzung müssen ihrer Ansicht nach patientenzentriert und flexibel gestaltet werden. Marschall: „Wir brauchen nicht nur Datenschutzkonzepte, sondern verbindliche Spielregeln, was den Zugang zu Datenquellen und deren Nutzung anbelangt.“ Ebenso müssen Patient:innen frühzeitig in die Förderarbeit des Innovationsfonds eingebunden werden. Es gebe zwar Anträge, in denen Patientenbeteiligung mitgedacht werde, bei denen aber Selbsthilfegruppen oder Patientenvereinigungen als Konsortialpartner nicht mitbeteiligt seien. Das scheitere einmal mehr am Leistungsrecht, weil beide Gruppen keine zugelassenen Leistungserbringer seien. Diese Rolle zu diskutieren, solle ihrer Meinung nach aber dringend angegangen werden.
Von Kalle: All-Hazard-Ansatz
„Letzten Endes sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir einen All-Hazard-Ansatz brauchen“, gab Prof. Dr. med. Christof von Kalle, Direktor des Clinical Study Center von Charité und BIH sowie Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit, zu bedenken. Es reiche nicht mehr aus, einfach nur Resilienz für eine höhere Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssystems von der einen zur nächsten Coronapandemie zu fordern. In Zeiten von Klimawandel, Kriegen und Pandemien und Folgen, die miteinander in Zusammenhang stehen können, würden Belastungen auf die Gesundheitssysteme einströmen, die nur mit einem All-Hazard-Ansatz sowie einer „Health in all Policies“-Strategie zu bewältigen seien, die Präventions- und Reaktionsmaßnahmen beinhalten müssen. Von Kalle: „Wir müssen uns überlegen, welche verschiedenen Gefahren – womöglich auch nicht gleichzeitig – auf uns einströmen können und wie Gesundheit in allen politischen Maßnahmen gedacht werden kann.“ Was er damit genau meint, lesen Sie im Titelinterview dieser Ausgabe.
Hildebrandt: „partizipative Kultur im Gesundheitswesen“.
„Die 10 wichtigsten Fragen an die Versor-gungsforschung aus der Sicht von Public Health und volkswirtschaftlicher Rationalität“ überschrieb Dr. h. c. Helmut Hildebrandt (OptiMedis AG) seinen Vortrag. Die erste Frage, die Hildebrandt von der Versorgungs- und Systemforschung beantwortet haben will, lautet: „Wie kann eine Überlastung des Gesundheits- und Sozialsystems durch eine durch Demografie und Lebensstile begründete ansteigende Morbiditätslast verhindert werden?“ Wenn dies gelingen soll, müssen seiner Ansicht nach Prävention und Gesundheitsförderung über alle Sozialversicherungssysteme hinweg organisiert werden. Da es aber große regionale Unterschiede bei der Krankheitslast gebe, müsste ein solcher Ansatz auch regional untersucht, vertieft und dann umgesetzt werden.
Seine zweite Frage lautete: „Wie kann der Patientenfokus in der Versorgung systematisch erfasst werden?“ Hier seien PROMs und PREMs wichtig, aber auch Lösungen, mit denen die Kommunikation zwischen Ärzt:in und Patient:innen verbessert werden kann. Seiner Meinung nach besteht eine Forschungslücke zwischen der psychometrischen Validierung immer neuer Messinstrumente einerseits und der unreflektierten Nutzung und kommerziellen Ausweitung von PREMs und PROMs andererseits. Dazu komme, dass ambulante Bereich dabei noch weitgehend unberücksichtigt bleibe. Auch sei eine Evaluation sinnvoll, um herauszufinden, wie die von Patient:innen erhobenen Daten Ärzt:innen dabei helfen können, Symptome, Ängste und Körperfunktionen besser einzuschätzen. Ebenso fehle das Wissen dazu, wie PROMs die Selbstreflexion der Patient:innen unterstützen können. Bei dieser Detailfragestellung würde sein Unternehmen am Patient-reported Indicator-Survey, den die OECD gerade entwickele, mitarbeiten.
Seine dritte Frage: „Wie können digitale Anwendungen systematisch und vielleicht auch in hybrider Form die Gesundheitsversorgung unterstützen?“
Die vierte Frage: „Welche konkreten Messinstrumente und Datenquellen können wir für eine systematische Erfassung der Verminderung des CO2-Ausstoßes der Gesundheitsversorgung nutzen?“ Hier sei mitzuberücksichtigen, dass jeder vermiedene Krankenhausaufenthalt tatsächlich auch einen CO2-positiven Effekt erzielt. Doch bisher werde die Frage der Organisation von Versorgungsprozessen nicht auch unter dem Blickwinkel des Klimaschutzes betrachtet, wodurch gesamthaft eine erfolgreiche CO2-Prävention möglich wäre.
Fünfte Frage: „Wie produzieren wir für die Leistungserbringer ein Interesse an der Verbesserung der gesundheitlichen Lage ihrer regionalen Bevölkerung?“ Ein Problem sei es natürlich, dass jede Ärzt:in nicht auf das Kollektiv, sondern auf die einzelne Patient:in achtet. Was für den Einzelnen sicherlich Vorteile habe, hätte den Nachteil, dass dabei die Orientierung auf das Kollektiv der Versicherten in einer Region verloren geht. Generell könne konstatiert werden, dass der heutige Blick aller Beteiligten – Kassen, Politik, Leistungserbringer – auf den Input orientiert sei, wobei das Interesse der Stakeholder eher auf dem Outcome liegen müsse. Hildebrandt: „Wie schaffen wir dafür mehr Interesse?“
„Welche Frühindikatoren können wir nutzen, um Erfolge in der Verbesserung des Gesundheitsstatus einer regionalen Bevölkerung festzustellen?“, lautete seine sechste Frage an die Versorgungsforschung. Das Sterbealter sei kein sich schnell verändernder Frühindikator, weshalb man andere Indikatoren finden müsse, um Unterschiede für die zahlreichen Subgruppen detektieren und deren jeweiliges Gesundheitsoutcome bewerten zu können. Ein bisher unbeachteten Frühindikator sei beispielsweise in der Analysearbeit im Kinzigtal aufgetaucht: der Startpunkt einer Langzeitpflege. In einem Vergleich zwischen Teilnehmenden an einem der Gesundheitsprogramme des Kinzigtals und einer Kontrollgruppe sei herausgekommen, dass die Interventionsgurppe beim Startalter von 71 Jahre geblieben, während die anderen auf 75 Jahre gestiegen sei. Wobei, so setzte Hildebrandt dazu, beiden Gruppen die gleichen Informationen über die Möglichkeiten von Pflegestufen und Pflegegraden in der Region vorlagen.
Siebte Frage: „Welche wettbewerblichen Anreize führen eigentlich Krankenkassen dazu, ihre Versicherten in ihrer Gesundheit besser zu unterstützen, als es ihre Wettbewerber machen?“ Und, so Hildebrandts Zusatz: „Welche Fehlanreize behindern sie dabei?“ So würde zwar der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sorgen, dafür aber ermöglichen, durch Codierungen Zuweisungen zu erhöhen. Besser wäre es doch, ein Modell zu entwickeln und zu implementieren, mit dem Krankenkassen stärker als heute dazu incentiviert werden, intensiv in die Gesundheit ihrer Versicherten zu investieren.
Achte Frage: „Welche internationalen Best Practices haben nachgewiesen, wie durch eine optimierte ambulante und vorsorgende Versorgung Notaufnahmen und Krankenhauseinweisungen vermieden werden können?“ Generell sei der vergleichende Blick auf Ergebnisse aus dem Ausland seines Erachtens hierzulande wenig ausgeprägt.
Neunte Frage: „Welche internationalen Erfahrungen lassen sich in Deutschland nutzen, um die Orientierung möglichst vieler Leistungserbringer und Anbieter im Gesundheitswesen auf den erzeugten Gesundheitsnutzen und den Value umzustellen?“ Es könnte beispielsweise analysiert werden, welche Effekte die Accountable-Care-Strategie in den USA wirklich produziere. Und wie die Bewertung des Outcome-Nutzens das Denken und Handeln der entsprechenden Leistungserbringer verändere. Auch das sei in erster Linie eine Frage der Anreize und damit der Bezahlung. So sei auf dem World Economic Fund in Davos ein Inside Report mit dem Titel „The Moment of Truth for Healthcare Spending“ veröffentlicht worden. Hier werde der Frage nachgegangen, wie verschiedene Zahlmodelle das Gesundheitssystem verändern könnten. Hildebrandt: „Die ökonomische Basis formt eben ein ganzes Stück weit die darauf entstehende Kultur.“ Insofern müssten wir uns dringend diesem Thema widmen.
Damit kam Hildebrandt zu einer letzten Frage, die da lautet: „Welche Managementformen und welche Kultur zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern und zwischen diesen und ihren Mitarbeiter:innen erscheinen als die erfolgversprechendsten, wenn es darum geht, die Bürger als Produzenten ihrer Gesundheit zu verstehen?“ Wenn die Bürger Coproduzenten ihrer Gesundheit werden sollen, heiße das, dass ein Arbeitsbündnis entwickelt werden muss. Dies könne aber nur geschehen, wenn mit den zu versorgenden Personen und allen an der Leistungserbringung Beteiligten auf Augenhöhe kommuniziert werden. Hildebrandts Forderung: „Wir brauchen eine partizipative Kultur in der gesamten Führung im Gesundheitswesen.“
Nagel: ChatsBots, die die Welt verändern
Mit einem Vortrag ganz anderer Art wandte sich Roland Nagel an die virtuelle Zuhörerschaft des Kongresses. Unter dem Titel „Data makes the world go round? – Was uns Daten sagen können und was nicht“ ließ der Geschäftsführer der Gesundheitsforen Leipzig den OpenAI-Chatbot ChatGPT die drängendsten Fragen stellen, die unser Gesundheitssystem nach vorne bringen könnten.
Die offene künstliche Intelligenz generierte folgende 10 allgemeine Fragen an die Versorgungsforschung:
1. Welche Ergebnisse erzielen Versorgungsforschungsprojekte in Bezug auf die Kos-
teneffizienz und Qualität von Gesundheitsdienstleistungen?
2. Wie können die Ergebnisse der Versor-gungsforschung am besten in die Versorgungsstrategien der Krankenkassen eingebunden werden?
3. Welche neuen Ansätze lassen sich aus Versorgungsforschungsprojekten ableiten, um die Qualität der Versorgung zu verbessern?
4. Welche Faktoren beeinflussen die Entscheidungsfindung der Krankenkassen bei der Umsetzung von Versorgungsforschungsergebnissen?
5. Welche neuen Technologien können die Ergebnisse der Versorgungsforschung unterstützen?
6. Welche Rolle spielen Versorgungsforschungsprojekte bei der Entwicklung von Richtlinien und Standards für die Versorgung?
7. Welche neuen Wege lassen sich aus Versorgungsforschungsprojekten ableiten, um die Teilnahme von Patient:innen an Versorgungsprogrammen zu fördern?
8. Wie können die Ergebnisse der Versor-gungsforschung am besten in die Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramme der Krankenkassen integriert werden?
9. Welche Forschungsergebnisse können die Krankenkassen nutzen, um Versorgungsprozesse zu optimieren und zu standardisieren?
10. Wie lassen sich die Ergebnisse der Versorgungsforschung am besten nutzen, um eine nachhaltige und effiziente Versorgung zu gewährleisten?
Um die KI noch mehr zu fordern, stellte Nagel ChatGPT eine Frage, die bereits Prof. Dr. Wolfram Herrmann von der Plattform – Charité Versorgungsforschung in seinem Vortrag, gehalten im ersten Teil des MVF-Onlinekongresses (13. Dezember 2023), gestellt hatte: „Wie sorgen wir dafür, dass die (vulnerablen) Patient:innen, die sie am meisten benötigen, die für sie beste Form von Prävention, Diagnostik und Therapie bekommen?“ Die Antwort der künstlichen Intelligenz: „Um sicherzustellen, dass die vulnerablen Patienten die bestmögliche Prävention, Diagnostik und Therapie erhalten, müssen mehrere Maßnahmen ergriffen werden. Zunächst müssen die Bedürfnisse der Patienten identifiziert und bewertet werden, um die am besten geeignete Behandlung zu identifizieren. Anschließend müssen die verfügbaren Ressourcen und die finanziellen Mittel bewertet werden, um zu entscheiden, welche Behandlungsmöglichkeiten für die Patienten am besten geeignet sind. Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten, einschließlich der Patienten selbst, verbessert werden, um eine bessere Kommunikation und Koordination zu ermöglichen. Schließlich sollten Maßnahmen ergriffen werden, um sicherzustellen, dass die Patienten auf eine angemessene Weise überwacht werden und ihnen die bestmögliche Betreuung und Unterstützung zuteilwird.“
Sicherlich seien, so Nagels Kommentar, unter den Fragestellungen und Antworten viele Allgemeinplätze, doch sei zu beachten, dass die Technologie noch relativ jung sei und dafür seien die Ergebnisse durchaus beeindruckend. Auch wenn alle Ergebnisse, die heutige AI-Maschinen liefern können, einer Qualifizierung bedürften und hinterfragt werden müssen.
Seiner Ansicht nach werde die Art, mit der mit Daten umgegangen werde, auch den Bereich der Versorgungsforschung verändern. So gebe es inzwischen synthetische Studiendaten, digitale Zwillinge und medizinische Roboter. Und nun auch ganz neue ChatsBots, die die Welt auch der Diagnose verändern werden. Wie sich die verschiedenen Möglichkeiten kombinieren lassen, sei ein weites Feld, das auch im Kontext der Versorgungsforschung zunehmend Relevanz bekomme und mit dem man sich dringend auseinandersetzen müsse.
Porzsolt: Drei Empfehlungen zur Priorisierung
Wer Prof. Dr. Franz Porzsolt kennt, weiß, dass der versierte Onkologe und Methodiker aus Ulm kommt. Es verwunderte denn auch nicht, dass er in seinem Vortrag, den er mit seinem ICE-Kollegen Prof. Dr. Manfred Weiss erarbeitet hat, auf einen anderen, weit bekannteren Ulmer referenzierte: Albert Einstein, 1879 dort geboren. In seiner jahrzehntelangen Arbeit hielt sich Porzsolt, der zehn Jahre Mitglied im Vorstand des Tumorzentrums war und nach seiner Pensionierung das Institute of Clinical Economics e. V. (ICE) gründete, immer an ein Zitat Einsteins, das da lautet: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wissenschaftler:innen, die wie er die Sackett’sche Schule der Evidence-based Medicine absolviert hätten, sollten zudem persönlich erfahren haben, dass die meisten Forschungsprojekte an der unscharfen Formulierung der Fragestellung scheitern würden.
Genau das wollen Porzsolt und Weiß mit ihren „Drei Empfehlungen zur Priorisierung von Versorgungsforschungsprojekten“ zu ändern versuchen. Da das Kernproblem seit jeher in der Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems zu verorten sei, könne es nur durch einen breiten Konsens gelöst werden – zum einen einen nationalen, vielleicht sogar einen europäischen. Vor allem aber brauche es einen nicht minder schwierig herzustellenden Konsens zur Messung des erzielten Mehrwerts, der nur dann politisch gestützt und gesellschaftlich akzeptiert werde, wenn er wissenschaftlich begründet sei.
Von daher sollte nach Ansicht von Porzsolt und Weiß das Ziel der Versorgungsforschung der Nachweis des erzielten gesundheitlichen Mehrwerts sein. Die damit gemeinte „Real World Effectiveness“ sei jedoch nicht der Nachweis des Wirkprinzips, der bisher angestrebt werde. Porzsolt: „Mit randomisierten Studien können wir die Efficacy oder den Proof of Principle nachweisen, aber sicher nicht die Real World Effectiveness.“
Um den Unterschied klarzumachen, rekurrierte Porzsolt in seinem Vortrag auf die bekannten Epidemiologen Sir Archie Cochrane und Sir Austin Bradford Hill. Die Beiden hätten formuliert, dass keine neuen Interventionen in Gesundheitssystemen etabliert werden sollten, bevor drei Fragen beantwortet sind: Can it work? Does it work? Is it worth it?
Die erste Frage werde von der klinischen Forschung durch den Nachweis des Wirkprinzips beantwortet, was in einer experimentellen Studie, einem Randomized Controlled Trial geschehe. Die zweite Frage nach dem „does it work?“ werde im Bereich der Versorgungsforschung beantwortet – durch den Nachweis der „Real World Effectiveness“. Dies aber nie unter experimentellen Bedingungen, sondern immer unter realen Alltagsbedingungen mit ihren nicht strukturierten Bedingungen des natürlichen Versorgungschaos. Porzsolt: „Wir sprechen von Versorgungschaos, weil jede Patient:in ein anderes Risikoprofil hat als die andere, und zudem von jeder Ärztin eine – oft nur ein klein wenig – andere Strategie zum Management dieser Erkrankung oder dieses Problems verwendet wird, die ganz zwangsläufig zu unterschiedlichen Outcomes führt.“
Um die Real World Effectiveness nachzuweisen, sind nach Aussage der Methodiker vier Schwellenwerte zu präsentieren:
• die Existenz eines Problems und
• die erfolgreiche Reduzierbarkeit des versorgungsbedürftigen Problems und des erzielten gesundheitlichen Mehrwerts.
Dazu seien 2 weitere Schwellenwerte notwendig:
• die klinische Relevanz (Hypothese) und
• die statistische Signifikanz (Bestätigung).
Dabei gelte, dass für jeden der Nachweise ein klinisch-relevanter, zumindest minimaler Effekt definiert werden müsse, der dann mit statistischen Methoden zu beschreiben ist. Jedoch sei es durchaus machbar, Ergebnisse der Realversorgung auszuwerten und dafür strukturierte Bedingungen zu schaffen. Was annähernd wie die Quadratur des Kreises klinge, sei durch kontrollierte, nichtexperimentelle Beobachtungsstudien (Bayes Statistik) und Pragmatic Controlled Trials möglich, mit denen man zu einer Lösung des Versorgungs-Analyse-Konflikts kommen könne.
Sein Rat an die Versorgungsforschung: „Es reicht nicht, das Wirkprinzip in randomisierten Studien nachzuweisen, weil der Nachweis des erzielten Mehrwerts zu erbringen ist. Das gelingt jedoch nur in kontrollierten Beobachtungsstudien. Zudem ist ein Mehrwert nur dann nachweisbar, wenn Daten des beschriebenen Schwellenquartetts wirklich erhoben und rückgemeldet werden.“ <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier