Versorgungsforschung unabdingbar notwendig aus medizinischer und ordnungspolitischer Sicht
Viele wissenschaftliche Innovationen werden auf dem Gebiet der Grundlagenforschung entwickelt und dann, aufgrund von Resultaten der In-Vitro-Forschung, durch Kleintierexperimente so solide aufgearbeitet, dass der Weg der Applikation dieser Verfahren für den Menschen frei gemacht wird. Die weitere klinische Forschung beschäftigt sich mit der Messung des Effektes des therapeutischen Verfahrens, der Nebenwirkungen und legt gleichzeitig die Grundlage für die Zulassungsverfahren der entsprechenden Behörden aus Nordamerika und Europa. Um die Wirksamkeit therapeutischer Verfahren messen zu können, werden häufig spezielle Patientenkollektive zusammengestellt, um in prospektiv randomisierten Studien den Effekt des neuen Verfahrens/Medikation an einem Placeboverfahren oder an anderen, häufig älteren, Medikationen oder medizinischen Verfahren/Prozeduren zu messen. Ein grundlegender Bias dieser Studien ist häufig ein streng selektioniertes Patientenkollektiv, das der unter Feldbedingungen adressierten Gesamtbevölkerung der „realen Welt“ nur wenig entspricht.
>> Durch diese strengen Ein- und Ausschlusskriterien soll der zu untersuchende Effekt rasch messbar und deutlich dargestellt werden. Der Effekt solcher Patienten-Selektion war aktuelles Thema einer Publikation im Deutschen Ärzteblatt: Nüesch et al. demonstrierten an einer aktuellen Untersuchung, dass der Ausschluss von Patienten im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien Autoren häufig zu Fehleinschätzungen der Therapiewirkung führt. Durch die verwendeten Ein- und Ausschlusskriterien ist die Erfassung von Nebenwirkungen in der Interaktion mit anderen Medikationen häufig nicht evaluierbar und wird auch in diesen Phasen häufig nicht adressiert. Erschwert wird die Interpretation der Ergebnisse von randomisierten Studien mit selektiertem Patientenkollektiv durch die Betrachtung von Surrogatparametern, die bei mittel- und langfristiger Betrachtung einen positiven relevanten Effekt der Interaktion häufig nicht darstellen lassen.
Spezielle Bevölkerungsgruppen, wie unser pädiatrisches Patientenkollektiv oder geriatrische Patienten, werden häufig durch derartige Studien prinzipiell nicht adressiert.
Auch Metaanalysen und systematische Reviews vermögen oftmals nicht konkludent eine Aussage über positive oder negative Effekte eines Verfahrens zu machen. Auch hier zeigt die Arbeit von Nüesch et al. einen verzerrenden Effekt des Patientenausschlusses bei Metaanalysen auf die Bewertung der Therapiewirksamkeit.
Die Probleme bei der Erstellung von Metaanalysen und das Thema der Studienvergleichbarkeit sind hier, wie folgt, aufgezeigt:
• Schwierigkeit, alle relevanten Studien identifizieren zu können
• Negative (nicht signifikante) Resultate werden häufig nicht publiziert
• inadäquate Darstellung der verwandten Methoden
• Variationen im Studiendesign
• retrospektive Studien
• Variationen der Einflusskriterien
• mangelnd abgestimmte Kriterien für die Qualitätsmessung
• unterschiedliche Messverfahren
• Variationen in der Methode der Analysen
• unterschiedliche Verwendung statistischer Methoden
• Variation der Präsentation von Resultaten (z.B. Überleben an verschiedenen Endpunkten, Variationen im Studiendesign)
Röhrig et al. haben die Wahl der unterschiedlichen Studientypen unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Qualität und Aussagekraft differenziert im Deutschen Ärzteblatt dargestellt. Die Autoren stellen auch die gängigen Sekundärforschungstypen dar, adressieren die Versorgungsforschung allerdings nicht.
Willich hingegen weist 2006 im Deutschen Ärzteblatt auf die Limitationen der randomisierten Studien hin und stellt die Bedeutung der Versorgungsforschung für die Qualität der medizinischen Versorgung heraus.
Die fünfte Funktion der Versorgungsforschung erweist sich sowohl als notwendige Ergänzung zur experimentellen Grundlagenforschung, die Potenziale für klinische Innovationen erzeugt, als auch als Ergänzung zu einer epidemiologischen und klinischen Forschung, in der ätiologische (auf das Verständnis kausaler Mechanismen oder die Wirksamkeit von Interventionen unter idealen Studienbedingungen [efficacy] gerichtete) Forschungsansätze die Schwerpunkte bilden. Unter dem Versorgungsforschungs-Paradigma werden Hypothesen zur Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness, relative Wirksamkeit) und im Hinblick auf die Effizienz in der realen Versorgungswelt getestet“.
Die Versorgungsforschung adressiert explizit die Versorgungsrealität um die Effektivität verschiedener Therapiemaßnahmen vergleichbar zu machen. Die Versorgungsforschung ist kein Ersatz für die bisher gängige Primär- und Sekundärforschung sondern ist aus Sicht der Autoren als notwendige Ergänzung zu verstehen.
In Folgendem sollen exemplarisch Beispiele für Verfahren und Medikationen dargestellt werden, bei denen erst nach der Zulassung und Applikation in der Versorgungsrealität Nebenwirkungen festgestellt worden sind. Nachfolgend sollen die daraus resultierenden Konsequenzen aus ordnungspolitischer Sicht dargestellt werden.
Im Jahre 2000 wurden die Resultate der VIGOR-Studie (Vioxx Gastrointestinal Outcomes Research) im NEJM publiziert. Diese randomisierte kontrollierte Studie zeigte das Rofecoxib (Cyclooxygenase-2 Inhibitor, Vioxx) weniger gastrointestinale Nebenwirkungen hat als Naproxen, die Standard-Medikation als antiinflammtorische Substanz.
Unerwartet zeigte die VIGOR-Studie eine 4-mal höhere Inzidenz von Myokardinfarkten in der Rofecoxib-Gruppe. Diese Beobachtung weist eindeutig auf ein bedeutendes Risikopotential des Medikamentes hin (Quelle im Ausdruck). In der kürzeren Vergangenheit zeigte die übergeordnete Analyse der Applikation von Vioxx substantielle Nebenwirkungen auf, die eine Veränderung der Indikation dieses Medikamentes erforderten.
Bei gutem Erfolg auf dem Markt wurden erst im Jahr 2004 - 4 Jahre nach der Zulassung - durch eine Placebo-kontrollierte Studie die kardio-vaskulären Nebenwirkungen von Refecoxid nachgewiesen. Bis dahin wurden mehr als 100 Millionen Verordnungen ausgestellt, 80 Millionen Patienten nahmen Vioxx.
Der Hersteller hat das Medikament aufgrund des exzessiven Schlaganfall-und-Herzinfarkt-Risikos vom Markt genommen. Die Zulassungsbehörde (FDA) ringt um Erklärungsversuche.
Beschichtete Stents (DES) zur Behandlung der koronaren Herzerkrankung werden momentan in der Mehrheit der mehr als 2 Millionen Koronar-Interventionen (PTCA) implantiert. Die Evidenz und Zulassung der DES durch die FDA basierte auf der signifikanten Reduktion von Re-Stenosen nach PTCA anhand von Ergebnissen aus randomisierten Studien DES gegenüber bare-metal stents (ca. 10% vs. 30%). Stabile KHK, einzelne, nicht komplexe Stenosen, und de-novo Läsionen waren die Indikation für die PTCA der hier untersuchten meisten Patienten. Nach anfänglich kontroversen Diskussionen und unterschiedlichen Daten zur Patientensicherheit, kann die neue Methode (DES Stent) als vergleichbar und sicher zu den alten BMS Stents bewertet werden. Bei unveränderter Mortalität des Krankengutes führte letztlich nur die geringere Restenoserate zu einer enormen Ausweitung der Implantationshäufigkeit; die Implantation der DES wurde sogar ohne nachweisliche Studien häufig unkritisch auf off-label Indikationen erweitert. Neben den höheren Kosten des Implantats und der erhöhten Anschlusskosten für die duale Anti-Aggregationstherapie wurden die DES damit zu einer enormen Kostenbelastung für die Solidargemeinschaft der Versicherten. Viele der Indikationen konnten aufgrund der Aufwendigkeit von randomisierten Studien nicht wissenschaftlich überprüft werden. Hier wäre eine vermehrte Erfassung der Patientendaten in Registern oder im Rahmen der Versorgungsforschung wünschenswert gewesen.
Wie aber stellt sich die Situation bei den
verschiedenen Studienformen
randomisiert vs. vergleichend dar?
Kirtane et al. stellten sich die interessante Frage, ob die breite Anwendung der DES in der „realen Welt“ im Vergleich mit randomisierten Studien zu den gleichen Ergebnissen hinsichtlich Effektivität und Sicherheit kommt. Vergleichende und randomisierte Studien die DES vs. BMS mit mehr als 100 Patienten ab 2/2008 mit den Endpunkt Letalität bei einem kumulierten follow-up von mindestens 1 Jahr wurden identifiziert.
Randomisierte Studien und vergleichenden Studien wurden hierzu separat analysiert.
In den randomisierten Studien fanden sich keine Unterschiede in der Langzeit-Überlebensrate oder der Inzidenz von Myokardinfarkt zwischen DES und BMS.
Beobachtungen aus der „realen Welt“ mit einer größeren Anzahl von Patienten zeigten hingegen eine Überlegenheit der DES mit reduzierter Todesrate und geringerer Inzidenz von Myokardinfarkten. Die Autoren folgern, dass DES sicher und effektiv auch bei off-label use eingesetzt werden können. Weiterhin weisen die Autoren auf die unterschiedlichen Ergebnisse der randomisierten vs. beobachteten Studien zwischen DES und BMS hin. Ob diese Schlussfolgerung auch weiteren Untersuchungen Stand halten wird, bleibt abzuwarten. Weiterhin weisen die Autoren daraufhin, dass weder auf randomisierte noch auf beobachtende Studien absoluter Verlass ist. Diese Ergebnisse thematisieren noch einmal eindringlich die Notwendigkeit der Versorgungsforschung zur Überprüfung von Therapien in der „realen Welt“.
Generell muss abgewogen werden, ob die Empfehlung für ein Verfahren aufgrund des zu erwartenden Risikos gegeben werden kann, oder ob das Risiko von Nebenwirkungen und Komplikationen im „realen Leben“ als höher einzuschätzen ist. Die Antwort auf diese Frage sollte auch durch die Zulassungsbehörden nach der erfolgten Zulassung weiterverfolgt werden, wie es auch mit dem DES-Register gemacht wird.
Es muss der Balanceakt gelingen, Innovationen zu fördern, ohne eine unnötige administrative Überkontrolle auszulösen und damit notwendige Innovationen zu behindern.
Ordnungspolitische Sicht
Jeder Eingriff in das bestehende Versorgungssystem, sei er politisch, gesetzlich oder ökonomisch bedingt, hat veränderte Bedingungen für die Nutzer dieses Systems zur Folge. Die Auswirkungen solcher Veränderungen müssen wissenschaftlich untersucht werden, um einerseits Fehlentwicklungen entgegenzuwirken und andererseits positive Effekte zu erkennen und zu nutzen. Derartige Untersuchungen unter Alltagsbedingungen bilden den Schwerpunkt der Versorgungsforschung.
Es ergeben sich im Rahmen der Versorgungsforschung verschiedene Aufgaben wie die Beschreibung und Analyse der Versorgungssituation („Ist“- und Defizit-Analysen) sowie die Entwicklung von Versorgungskonzepten. Zudem zählen die wissenschaftliche Begleitung der Umsetzung neuer Versorgungskonzepte und die Evaluierung neuer und alter Versorgungskonzepte unter realen Bedingungen auf der Ebene der Gesamtbevölkerung bzw. relevanter Teilpopulationen zu den Aufgaben der Versorgungsforschung.
Ein wichtiger Aspekt der Versorgungsforschung ist die Untersuchung unerwünschter Effekte, wie beispielsweise Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Eine Überprüfung der Anwendung und Sicherheit von Arzneimitteln nach der Zulassung ist nur durch Beobachtungsstudien unter Alltagsbedingungen möglich, die für solche Fragestellungen zeitnah valide Ergebnisse liefern können.
2004 hat Vandenbroucke hierauf daraufhingewiesen: „The average randomised drug trial is too small, and does not have sufficient follow-up to detect adverse effects that are fewer than about one per 200 per year, or that take longer than 1 year to develop. To investigate adverse drug reactions, either case-control studies or large-scale observational follow-up studies are needed.“
Damit seltene Risiken überhaupt entdeckt werden können, sind regelmäßig große Patientenzahlen erforderlich. Diesen Zusammenhang zeigt die folgende Tabelle 1: Aufgeführt ist die mindestens notwendige Anzahl der Teilnehmer pro Gruppe in Abhängigkeit von der Häufigkeit des Outcomes in der Kontrollgruppe und von der Risikoerhöhung, um die es in der jeweiligen Studie geht.
Um die Wirksamkeit, Sicherheit und Anwendung von Arzneimitteln nach ihrer Zulassung einem regelmäßigen Monitoring unterziehen zu können, bedarf es eines repräsentativen Datenpools. Dieser fehlt bis heute in Deutschland, obwohl mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) bereits im Jahr 2004 die Einrichtung eines solchen gemeinsamen Datenpools der GKV (SGB V § 303a-f) im Sozialgesetzbuch verankert wurde.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) hat bereits in seinem Gutachten 2000/2001 festgestellt, dass Deutschland bezogen auf die Versorgungsforschung - international betrachtet - erheblichen Nachholbedarf hat. Der SVR hat in der Folgezeit in seinen Gutachten immer wieder eine Intensivierung der Versorgungsforschung in Deutschland angemahnt. Parallel hierzu haben Politik, Kostenträger und Leistungserbringer zunehmend die Bedeutung der Versorgungsforschung erkannt und eine ganze Reihe von Initiativen und Projekten ins Leben gerufen.
So beschloss der 108. Deutsche Ärztetag 2005 die Realisierung eines Rahmenkonzepts zur Förderung der Versorgungsforschung durch die Bundesärztekammer. Ein Jahr später wurde das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung als interdisziplinäres Netzwerk gegründet, das allen Institutionen und Arbeitsgruppen offen steht, die mit der Sicherung der medizinischen Versorgung unter wissenschaftlichen, praktischen oder gesundheitspolitischen Gesichtspunkten befasst sind. Ebenfalls im Jahr 2006 schlossen die Bundesregierung und die Sozialversicherungsträger eine erste Vereinbarung über die Förderung der versorgungsnahen Forschung. An diesem Bündnis für die Versorgungsforschung waren neben den Bundesministerien für Bildung und Forschung, für Gesundheit sowie für Arbeit und Soziales, die Deutsche Rentenversicherung, die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung e.V. beteiligt. Es wurde vereinbart, die Forschung im Bereich „Chronische Krankheiten und Patientenorientierung“ gemeinsam zu unterstützen und den Erkenntnistransfer im Bereich der Versorgungsforschung für eine bessere Patientenversorgung zu nutzen. Insgesamt wurden hierfür über sechs Jahre rund 21 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Auch die jetzige Regierungskoalition betont in ihrem Koalitionsvertrag 2009 die Bedeutung der Versorgungsforschung. Unter der Überschrift „Mehr Forschung in der Versorgung“ heißt es im Koalitionsvertrag: „Die Gesundheitsforschung trägt dazu bei, mit Innovationen die Lebensqualität von Menschen aller Lebenslagen zu erhöhen und gleichzeitig die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems zu sichern. Erkenntnisse über das Versorgungsgeschehen unter Alltagsbedingungen sind dabei besonders wichtig, damit die Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung bei begrenzten Ressourcen weiter steigt. Daher werden wir die Versorgungsforschung systematisch ausbauen.“
Um die Versorgungsforschung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin in Deutschland nachhaltig auszubauen und dauerhaft zu etablieren, sind neben der projektbezogenen Finanzierung zusätzliche Mittel zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und zum Aufbau wissenschaftlicher Strukturen erforderlich. Qualitativ hochwertige Forschung benötigt darüber hinaus eine Finanzierung, die von Hersteller- und Anbieterinteressen frei ist. Vor diesem Hintergrund ist die Zielsetzung der Bundesregierung, die Versorgungsforschung mit hoher Priorität zu stärken und über einen längeren Zeitraum nachhaltig zu unterstützen, ausdrücklich zu begrüßen. Das aktuelle Rahmenprogramm für die Gesundheitsforschung sieht hierfür vier Maßnahmen vor. Gefördert werden sollen neben Studien auch Studienstrukturen und Nachwuchsgruppen sowie Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung. Im Februar 2010 wurden zunächst 54 Millionen Euro für Studien in der Versorgungsforschung sowie zum Aufbau von Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung bereitgestellt.
Zusätzlich zu der Forschungsförderung aus Steuermitteln sind ergänzend weitere Finanzierungsquellen in Betracht zu ziehen. So schlägt der SVR in seinem Gutachten 2009 vor, dass es den Kassen gesetzlich ermöglicht werden sollte, Studien zur Versorgungsforschung mit einem festen prozentualen Anteil der Leistungsausgaben zu finanzieren. Kassen benötigen beispielsweise für ihr Vertragsgeschäft detaillierte Informationen über das Versorgungsgeschehen, die oft nur im Rahmen von umfangreichen Studien gewonnen werden können. Aus Kassensicht ist das primäre Ziel der Versorgungsforschung, auf konkrete, versorgungsrelevante Fragen möglichst zeitnah und patientenzentriert valide, pragmatische Antworten zu entwickeln, die als Grundlage für Entscheidungsprozesse genutzt werden können. Konkret fordert der SVR, es „sollte den Kassen gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt werden, solche Studien mit einem festen prozentualen Anteil der Leistungsausgaben zu finanzieren (z. B. 0,1 %)“. Bei Umsetzung dieses Vorschlags stünden der GKV pro Jahr über 160 Millionen Euro für Versorgungsforschungsstudien zur Verfügung.
Ein alternativer Vorschlag sieht vor, nicht nur die GKV, sondern alle potentiellen Nutznießer derartiger Studien an deren Finanzierung zu beteiligen. Ein Beispiel hierfür wäre die Regelung beim InEK (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus), wo die Kosten über definierte Leistungsfälle auf alle betroffenen Kostenträger verteilt werden. Aus der GKV kommt daher der Vorschlag, zur Finanzierung der Versorgungsforschung einen Systemzuschlag (Forschungscent) zu erheben.
Um die großen Potentiale, die die Versorgungsforschung für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems bietet, ausschöpfen zu können, müssen die Belange aller Betroffenen möglichst umfassend berücksichtigt werden. Nur unter dieser Voraussetzung wird die für den langfristigen Ausbau notwendige Akzeptanz bei den Beteiligten und in der Bevölkerung dauerhaft erreichbar sein.
Insbesondere der Beachtung aller datenschutzrechtlichen Belange kommt bei Versorgungsforschungsprojekten, bei denen es in der Regel um besonders sensible Gesundheitsdaten geht, höchste Bedeutung zu. Dabei geht es nicht nur um die datenschutzrechtlichen Belange der Patienten sondern auch um die betroffenen Leistungserbringer. Im Zusammenhang mit den Diagnosedaten der Krankenhauspatienten heißt es hierzu bei Schoffer: „Für einen Patienten als Merkmalsträger besteht in erster Linie das Risiko, dass der Grund seines Krankenhausaufenthaltes - die Hauptdiagnose - von Personen (z.B. Arbeitgeber) herausgefunden werden kann, die diese Information missbrauchen. Dies kann zu negativen Konsequenzen für den Patienten führen. Für ein Krankenhaus als Merkmalsträger besteht das Risiko, dass Informationen über seine wirtschaftliche Situation bekannt werden, die seitens der Krankenkassen, Konkurrenten, Planungsbehörden usw. verwendet und zu negativen Konsequenzen führen können. Grundsätzlich wird der Schaden, den eine Deanonymisierung für den Merkmalsträger herbeiführen kann, für die Krankenhäuser als höher angesehen als für die Patienten.“
Die Forschungsdatenzentren haben vor diesem Hintergrund das Verfahren der ‚kontrollierten Datenfernverarbeitung’ entwickelt. Bei diesem Verfahren hat der Datennutzer keinen unmittelbaren Zugriff auf die anonymisierten Einzeldaten, die ausschließlich bei den Statistischen Ämtern liegen. Die Forscher erhalten lediglich sogenannte Strukturdatensätze (Dummy-Dateien), die in Aufbau und Merkmalsausprägungen dem Originalmaterial gleichen. Anhand dieser Dummy-Dateien erstellen die Forscher ein Auswertungsprogramm, das sie an das zuständige Forschungsdatenzentrum schicken. Dort erfolgt die Analyse der Originaldaten anhand des Auswertungsprogramms und anschließend die Überprüfung, ob die Auswertungsergebnisse datenschutzrechtliche Probleme aufweisen. Nur wenn dies nicht der Fall ist, werden die Ergebnisse an die Forscher übermittelt. Es werden in keinem Fall Originaldatensätze einzelner Betroffener weitergegeben sondern immer nur gruppierte Ergebnisse.
Zukünftig wird es bei Versorgungsforschungsprojekten zunehmend darum gehen, Daten aus verschiedenen Quellen miteinander zu verknüpfen, z.B. Routinedaten der GKV mit den Daten von Krebsregistern. Bisher scheitern derartige Projekte in Deutschland - anders als beispielsweise in Skandinavien - oft an datenschutzrechtlichen Hürden. Der SVR fordert daher in seinem aktuellen Gutachten: „Hier sollten auch praktikable Wege ermöglicht werden, die eine vereinfachte Zusammenführung von Versorgungsinformationen für wissenschaftliche Zwecke erlauben.“
Das oben beschriebene Verfahren der kontrollierten Datenfernverarbeitung bietet grundsätzlich die Möglichkeit, derartige Studien unter Wahrung der Interessen aller Betroffenen durchzuführen.
Zusammenfassung
Die Forschungsentwicklung ist selbst bei Anwendung von prospektiv randomisierten Studien oder Metaanalysen limitiert in der Aussage auf die breite Anwendung der Bevölkerung.
Viele Beispiele zeigen, dass sich erst nach Implementierung von Therapien oder Medikationen substantielle Nebenwirkungen bei der Anwendung der Gesamtbevölkerung beobachten lassen.
Der nächste, konsequente Schritt muss der Ausbau der Versorgungsforschung sein, der die Limitation des bisherigen Konzepts zur Evaluierung neuer Verfahren erweitern kann.
Die Versorgungsforschung birgt ein großes Potential für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems in Deutschland. Um dieses Potential zu erschließen, ist der weitere Ausbau der Versorgungsforschung dringend erforderlich. Voraussetzung für den nachhaltigen Ausbau dieser jungen Forschungsdisziplin ist eine gesicherte Finanzierung. Außerdem müssen innovative Lösungen für datenschutzrechtliche Fragen entwickelt werden. <<
Definition nach H. Pfaff, ZVFK (2003)
„Versorgungsforschung kann definiert werden als eine grundlagen- und problemorientierte fachübergreifende Forschung, welche die Kranken- und Gesundheitsversorgung in ihren Rahmenbedingungen
• beschreibt,
• kausal erklärt und aufbauend darauf
• Versorgungskonzepte entwickelt,
• deren Umsetzung begleitend erforscht und/oder
• unter Alltagsbedingungen evaluiert.“