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„Versorgungskonzepte brauchen Partner“

Birgit Fischer, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BARMER, im MVF-Titelinterview

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.10.2009

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Bereits 2005 startete die BARMER gemeinsam mit Merz und dem Institut für Empirische Gesundheitsökonomie (IfEG) eine Versorgungsforschungsstudie für Patienten mit Alzheimer-Demenz. Erstmalig in Deutschland wurden dafür anonymisierte Abrechnungsdaten von entsprechenden Patienten ausgewertet. Anhand der BARMER-Daten konnten damit erstmals Aussagen über die reale Versorgungssituation von Versicherten mit Alzheimer-Demenz und die Kosten der verschiedenen Ansätze (s. Seite 16 f.) getroffen werden.

>> >> Frau Fischer, eine Kooperation zwischen Pharmaindustrie und Krankenkasse kommt nicht alle Tage zu Stande. Beide Parteien sind, ähnlich wie es Prof. Dr. Peter Sawicki im Titelinterview anklingen lässt und die Kommentatoren Hoffmann/Glaeske nahelegen, allzu konträr aufgestellt, weil bei ersteren eben allzu oft das Marketinginteresse überwiegt. Warum also diese Kooperation?
Man kann nur dann neue Lösungen entwickeln, wenn man bereit ist, interdisziplinär zusammenzuarbeiten und die verschiedensten Professionen an einen Tisch zu bringen. Dazu gehören wissenschaftliche Forschung sowie die Kompetenzen auf Ärzte-, Kassen- und natürlich auch Industrieseite.

Sie stellten anhand einer retrospektiven Datenanalyse in Kooperation mit dem Pharmaunternehmen Merz erstmals die Realität der medikamentösen Versorgungssituation von Versicherten mit Alzheimer-Demenz dar. Sie stellten dafür Prof. Dr. Dr. Reinhard Rychlik vom Institut für Empirische Gesundheitsökonomie knapp zehn Millionen Datensätze aus elf Datenbanktypen ihrer Kasse zur Verfügung. Das hätten Sie doch auch ohne den Kooperations-Partner Merz machen können.
Wenn wir solche Versorgungsforschungs-Studien auf eigene Rechnung durchführen dürften, sicherlich. Doch dem stehen noch gesetzliche Hürden entgegen. Der wichtigere Grund für diese Partnerschaft ist jedoch ein anderer: Die wissenschaftliche Erkenntnis, die man aus der Auswertung unserer Kassen-Daten ziehen kann, ist sicher schon ein Wert an sich. Doch weit wichtiger ist es, aus diesen Ergebnissen die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen, die dann in eine Weiterentwicklung der Behandlung unserer Versicherten münden. Und für solche Versorgungskonzepte braucht man Partner mit den verschiedensten Kompetenzen, die am besten von Beginn an mit dabei sind. Darum bin ich mir sicher, dass die Studie nicht einfach im luftleeren Raum stehen bleibt, sondern Konsequenzen haben wird für das weitere Handeln - sowohl unserer Kasse als auch das der beteiligten Partner. Wir werden gemeinsam daran arbeiten, dass die hier gewonnenen Erkenntnisse in der Versorgungsrealität ihren Niederschlag finden werden.

Ist die BARMER so etwas wie ein Entrepreneur in Deutschland?
Das weiß ich nicht. In Deutschland sollte man aber diesen Weg vielleicht viel häufiger beschreiten, um mit Unterstützung der Versorgungsforschung und mit Wissen der Industrie zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Dafür ist die Demenz-Studie sicher ein gutes Beispiel. Das größte Manko unseres Gesundheitswesens liegt doch eigentlich darin begründet, dass jeder solitär nur seinen Job macht: jeder Facharzt für sich, jeder Hausarzt, jedes Krankenhaus, jede Kasse. Qualität aber wird man nur durch Kooperation und Partnerschaft verbessern können.

Vielleicht liegt es auch daran, dass bei uns so gut wie nie über Qualität und Kosten gemeinsam gesprochen wird?
In Deutschland wird sehr viel über Versorgungsqualität geredet, aber sicher noch mehr über die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen. Dabei wird leider häufig ignoriert, dass beides - ob man nun will oder nicht - zusammen gehört. Die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen hängt nun einmal entscheidend davon ab, ob die zur Verfügung stehenden Budgets gezielt eingesetzt werden können oder nicht. Das aber setzt voraus, dass wir ein hohes Maß an Kenntnissen und Wissen darüber erarbeiten, wie Versorgung optimal gestaltet werden kann. Darum begrüße ich den Ansatz der Studie ungemein, weil sie eben nicht nur den tatsächlichen Versorgungsgrad eruiert, sondern auch auf die Kosten repliziert, die mit den unterschiedlichen Versorgungsansätzen verbunden sind.

Und nebenbei die der Pharmaindustrie sicher nicht unliebe These erhärtet, dass die teuere Versorgung auch die bessere ist?
Darum geht es gar nicht. Nicht nur für Kassen, sondern für das ganze Solidarsystem zählt doch letztlich der Betrag, der unter dem Strich steht. Auf gut deutsch: Was muss ich insgesamt zahlen, um eine bestimmte Versorgungsqualität zu erreichen. Dabei sind die Einzelpositionen erst einmal gar nicht so wichtig. Was nützt es uns schon, wenn – wie in dieser Studie nachgewiesen wird – rund 40 Prozent unserer Versicherten mit Demenz mit faschen Medikamenten und rund 30 Prozent mit überhaupt keinen versorgt werden, wenn dafür die Pflegekosten in den Himmel schießen?

Und zudem noch die Mortalität steigt!
Weil wir das jetzt wissen, können wir das künftig einfach nicht mehr hinnehmen.

Wir führen seit Jahren die Diskussion über den Return-on-Invest immer teurer werdender Versorgung. Dabei wird meist pauschal postuliert, dass höhere Kosten in der Versorgung – vor allem der Arzneimittel - besseren Outcome erzeugen. Doch bewiesen hat das bisher niemand.
Uns geht es vor allem um den optimalen Einsatz der finanziellen Ressourcen, der zur höchsten Behandlungs-Qualität führt. Wenn uns das über Versorgungsforschung nachzuweisen gelingt, sind wir ein gutes Stück weiter. Die Patientendaten aller Kassen sind ein riesengroßer Schatz, mit dem man viel mehr arbeiten muss, um aus diesen Daten dringend benötigtes Wissen zu schaffen. Das ist etwas, was sich die BARMER selbst auf die Fahne geschrieben hat: Wir wollen die Daten der Versicherten so nutzen, dass wir auch Erkenntnisse für eine bessere Versorgung unserer Versicherten gewinnen können. Wobei es zunächst einmal nur darum geht, die derzeitige Versorgungsrealität abzubilden. Schon dieser erste Schritt zeigt Defizite, Mängel oder auch Chancen und Möglichkeiten auf, die man ändern oder verstärken kann. Erst im zweiten Schritt reden wir dann über neue Versorgungskonzeptionen, die wir in einem Netzwerk von Experten versuchen zu entwickeln.
In der Demenz-Studie wird nachgewiesen, dass Ihre Kasse - wie sicher auch alle anderen - für Multimillionen Fehlversorgung im Bereich Demenz erstattet. Enerviert Sie das nicht?
Sicher regt mich das auf. Aber die Kassen sind doch nicht die Schuldigen, es wäre doch eine verkehrte Welt, wenn uns das jetzt angelastet würde. Wir sehen uns vielmehr als Interessensvertreter unserer Versicherten, der versucht, die Patientensicht zu stärken, aber wir werden uns - was ja auch nicht geht - davor hüten, uns in die Behandlung einzumischen.

Was können Sie denn dann tun?
Wir können unsere Patientendaten einbringen. Wir können aber auch beraten und für eine Sensibilisierung in der Öffentlichkeit sorgen. Wir können auch Qualitätskriterien aufstellen und für eine leitliniengerechte Behandlung plädieren.

Das klingt sehr soft.
Viel mehr war auch bisher nicht möglich. Erst mit den neuen vertraglichen Möglichkeiten können wir Qualitätsparameter einbringen. Aber da stehen wir noch ganz am Anfang. Jetzt geht es uns erst einmal darum, auf der mit der Demenz-Studie vorgelegten Erkenntnis-Grundlage Expertengespräche zu führen und dann nach Partnern zu suchen, die mit uns die Ergebnisse der Expertengespräche in ein Konzept umsetzen und in einem Stufenplan realisieren wollen.

Auf Ärzte- wie Industrieseite?
Wir brauchen eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Doch im Mittelpunkt allen Tuns muss der Konsens stehen, dass das Beste für den Patienten erreicht werden muss. Hier verstehen wir uns explizit als Versichertenvertreter, der nach dem höchsten Nutzen für den Patienten sucht. Ist dieser gefunden, müssen die dafür nötigen Versorgungskonzepte konsequent aufgesetzt und immer wieder weiter entwickelt werden.

Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.