Versorgungssituation von Patienten mit seltener Erkrankung
In Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn nicht mehr als einer von 2.000 EU-Bewohnern betroffen ist. Insgesamt leiden in Europa circa 30 Millionen Menschen an einer von etwa 6.000 bis 8.000 verschiedenen seltenen Krankheiten, davon allein circa 4 Millionen in Deutschland (Eurordis 2009). Die Anzahl der Betroffenen schwankt stark zwischen den Erkrankungen: von einer der wohl bekanntesten seltenen Erkrankungen, der Mukoviszidose, sind allein in Deutschland circa 8.000 Menschen betroffen (Eurordis 2009), mit der Erkrankung NBIA – Nervendegeneration mit Eisenspeicherung im Gehirn – sind in Deutschland geschätzt nur circa 100 Patienten bekannt. Wer mit einem Leiden kämpft, das kaum einen anderen betrifft, stößt auf besondere Herausforderungen: fehlendes Wissen bei Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten, fehlende Therapiemöglichkeiten, geographisch weit verteilte Expertisen. Je geringer die Prävalenz der oft chronischen und progressiven Multiorganerkrankungen, desto schlechter sind Therapie- bzw. Versorgungsmöglichkeiten erforscht.
>> Insbesondere aufgrund der Defizite in der Forschung spricht man auch von den „Waisen der Medizin“ (engl. orphan diseases). Seltene Erkrankungen werden über das epidemiologische Kriterium der Prävalenz definiert, jedoch verbinden sie auch weitere Charakteristika. Krankheitsverläufe variieren innerhalb eines Krankheitsbildes von Patient zu Patient stark, so dass eine Standardisierbarkeit der Behandlung eingeschränkt ist. Die Komplexität vieler Erkrankungen erfordert umfassende Ansätze in der Behandlung. Ein multidisziplinärer Austausch bildet hierbei die Basis für eine erfolgreiche Umsetzung kohärenter Lösungen. Die Seltenheit der Erkrankungen spiegelt sich auch in der Seltenheit der Spezialisten wider, so dass es insbesondere in der wohnortnahen Versorgung an Ärzten, Therapeuten und Pflegern mit der spezifischen Expertise mangelt. Sowohl die Diagnosefindung als auch die medizinische Versorgung werden durch den vorherrschenden Wissensmangel seitens der Akteure erschwert. Aufgrund der ausgeprägten Arbeitsteiligkeit in der Versorgung und der räumlichen Verteilung des Expertenwissens können sich gravierende Koordinationsproblematiken ergeben, die eine adäquate Versorgung von Patienten mit seltener Erkrankung behindern.
Eine Befragungsstudie zur Analyse von
patientenzentrierten Versorgungsteams
Durch Expertengespräche mit medizinischen Leistungserbringern und Vertretern von Selbsthilfeorganisationen wurden in einem iterativen Prozess anhand der Kriterien (1) Unterschiedlichkeit der Pflege- und Versorgungsintensität (2) Notwendigkeit der multidisziplinären Zusammenarbeit und (3) Unterschiedlichkeit in der Prävalenz sechs Krankheitsbilder ausgewählt, die sich in den genannten Kriterien unterscheiden.
In Bezug auf Kriterium 1 haben 90 % aller Befragten in unserer Studie mit Morbus Wilson keine Pflegestufe und 100 % aller Patienten mit dem Marfan Syndrom ebenfalls nicht, hingegen haben 67 % der Patienten mit Epidermolysis bullosa Pflegestufe I oder II, bei 76 % der NBIA-Patienten liegt Pflegestufe II oder III vor, bei ALS sind es 72 % und bei Muskeldystrophie Duchenne-Erkrankten 53 % mit Pflegestufe II oder III.
Die Teilnehmer unserer Studie wurden durch Informationsbroschüren in Krankenhäusern, Praxen und über Informationen von Selbsthilfeorganisationen rekrutiert. Die Studienteilnehmer erhielten einen Informationstext in Form eines Aufklärungsbogens, in dem detailliert über Ziele und Verfahren der Studie, wie über die Bearbeitungsdauer des Fragebogens bzw. die Länge des Interviews und über die jederzeitige und folgenlose Rücktrittsmöglichkeit von der Teilnahme-Bereitschaft aufgeklärt wurde. Nachdem die Bereitschaft zur Teilnahme erklärt wurde, wurden die Fragebögen gemeinsam mit einer Liste, zur Auflistung der Mitglieder des jeweiligen individuellen Versorgungsteams, versandt. Die Rücklaufquote seitens der Patienten belief sich auf 72 %. In einem weiteren Schritt wurden 118 teilstandardisierte Telefoninterviews mit den Betroffenen geführt, um die Situation der Versorgung bei seltenen Erkrankungen und insbesondere, die Punkte der Abstimmung, Koordination und Informationsweitergabe innerhalb multidisziplinärer Teams näher zu beleuchten und potenzielle Chancen und Barrieren aufzudecken. Im Anschluss an die Patientenbefragung folgte eine ebenfalls schriftliche Befragung der medizinischen Leistungserbringer, die aktiv in den Versorgungsprozess der patientenzentrierten Teams einbezogen sind, mit einer Rücklaufquote von 38 %.
Multidisziplinarität in der Versorgung
Um einen Patienten mit seltener Erkrankung formiert sich ein Versorgungsteam, in dem verschiedene Professionen unterschiedlicher Hierarchiestufen interagieren müssen, um Informationen zu Behandlungsmethoden, Versorgungsabläufen sowie über den aktuellen Stand der Forschung, zur Diagnose, Symptomatik und Heil- und Hilfsmitteln zu erhalten. Diese Teams bestehen häufig aus Hausärzten, spezialisierten Fachärzten (niedergelassen oder stationär in Krankenhäusern), Therapeuten (wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, Homöopathie, etc.) sowie Pflegekräfte. Die Patientenbefragung zeigt, dass in dieser Stichprobe ein Versorgungsteam aus durchschnittlich 5 Mitgliedern besteht – wobei die Teamgröße je nach Schweregrad der Erkrankung und Vielfalt der Organbeteiligung zwischen 2 bis 14 Versogern variiert. Bis sich ein passendes und entsprechend spezialisiertes Versorgungsteam mit allen benötigten Experten formiert hat, vergehen laut der Patientenbefragung durchschnittlich 29 Monate.
Auf Grund der Komplexität und häufig chronischen Erscheinungsformen seltener Erkrankungen bedarf es zumeist spezialisierter und aufwendiger Behandlungsmaßnahmen, die im Regelfall nicht über niedergelassene Facharztpraxen erbracht werden können und somit die Einbindung spezialisierter Zentren erfordern. Die vorliegende Studie bestätigt, dass neben einer Behandlung bei Haus- und Fachärzten sowie, je nach Schweregrad der Erkrankung und dem individuellen Gesundheitszustand, einer Einbindung von Pflegekräften, das Angebot von Kompetenzzentren bzw. Spezialambulanzen genutzt wird. So lassen sich über 70 % der Befragten regelmäßig in einem spezialisierten Zentrum behandeln.
Wissensdefizite in der Versorgung –
die Rolle des Patienten
Bevor sich Expertenteams zur Versorgung formieren, besteht gerade bei seltenen Erkrankungen das Dilemma der korrekten Diagnose. Aus der Patientenbefragung ergab sich, dass bei Patienten mit seltener Erkrankung durchschnittlich 39 Monate vergehen zwischen dem Auftreten erster Symptome und der korrekten Diagnosefindung. Viele Patienten die an einer seltenen Erkrankung leiden durchlaufen häufig zahlreiche, überflüssige Arztbesuche und Untersuchungen sowie Fehldiagnosen die im Laufe ihrer Leidensgeschichte gestellt werden, bis die eigentliche Diagnose gefunden ist (Faurisson 2007). Nicht selten ist es ein Zufall, dass die exakte Ursache der Symptome gefunden wird. Dieser Tatbestand liegt häufig daran, dass es sehr wenige Experten auf dem Gebiet der seltenen Erkrankung – die durch eine geringe Prävalenz pro Krankheitsbild bei gleichzeitiger Diversität der Erkrankungen gekennzeichnet sind – gibt. Kein Arzt ist in der Lage all diese Krankheitsbilder zu kennen oder sogar zu diagnostizieren. Es bedarf hierfür einer Detailarbeit, um aus mannigfaltigen Symptomen die richtige Diagnose zu finden. Die häufige Enttäuschung durch Fehldiagnosen und die Schwere vieler seltener Erkrankungen führt nicht selten dazu, dass Patienten selbst zu den eigentlichen Experten ihrer Erkrankung werden. Patienten werden selbst aktiv und recherchieren bzw. suchen intensiv nach Informationen, zum einen um einer Diagnose näher zu kommen, zum anderen um geeignete Behandlungsmethoden zu finden und in Kontakt mit anderen Betroffenen zu treten, um krankheitsspezifisches Wissen zu generieren. Dies schließt explizit Angehörige mit ein, die insbesondere bei starker geistiger, psychischer und/oder physischer Beeinträchtigung bzw. Minderjährigkeit des Patienten eine zentrale Rolle einnehmen. Betroffene sind teilweise besser informiert als ihre Ärzte, woraus sich jedoch weitere Schwierigkeiten ergeben (Eidt et al. 2009). Traditionell vertrauen Patienten auf das Wissen der medizinischen Leistungserbringer, auf deren Kompetenz und Erfahrung und schrecken davor zurück ihr Wissen bzw. ihre Ideen bzgl. Diagnose und/oder Therapiemöglichkeiten gegenüber ihren Ärzten und Therapeuten aufzuzeigen.
Laut unserer Befragung stehen insbesondere das Internet und Selbsthilfeorganisationen als Informationsquellen an erster Stelle, gefolgt vom Austausch mit Versorgern und anderen Betroffenen, um sich über seltene Erkrankungen zu informieren (vgl. Abb. 1). 65,5 % der Patienten schätzen ihr Wissen in versorgungsrelevanten Themen als wertvoll oder sehr wertvoll für ihre Versorger ein. In unserer Befragung wird eine Diskrepanz aus bestehendem Expertenwissen auf Seiten der Patienten und der notwendigen Weitergabe bzw. Annahme dieser Informationen auf Seiten der medizinischen Leistungserbringer deutlich. So stimmen auf einer 7-stufigen Skala (1 = stimme überhaupt nicht zu bis 7= stimme voll zu) 72 % (6 = stimme zu und 7 = stimme voll zu) der Patienten der Aussage zu, dass sie stets gut informiert über Fragestellungen bleiben, die für ihre Versorger nützlich sein könnten, jedoch geben nur 53 % der befragten Patienten ihre entwickelten Lösungen bei Problemen in der Versorgung auch tatsächlich an ihre Versorger weiter bzw. 58 % äußern Vorschläge für Veränderungen im Versorgungsprozess (vgl. Abb. 2).
Die besonderen Herausforderungen die sich in der Versorgung seltener Erkrankungen stellen, implizieren in jedem spezifischen Behandlungskontext die Entwicklung neuer patientenzentrierter Versorgungskonzepte. Hierfür ist ein ganzheitlicher Austausch von Wissen und daraus entstehenden Ideen für eine erfolgreiche Umsetzung kohärenter Lösungen von großer Bedeutung. In der Studie wurden Patienten gefragt, wie viele eigene Ideen sie in den vergangenen 24 Monaten in der Versorgung hatten, diese weitergegeben oder sogar implementiert haben. Auch hier zeigt sich, dass die Patienten aktiv nach Lösungen suchen, bei der Umsetzung dieser Ideen mangelt es jedoch an den Möglichkeiten und an der Akzeptanz bei den Versorgern (vgl. Abb. 3).
Koordination und Abstimmung
Durch die gestärkte Rolle des Patienten als Experte seiner Erkrankung, nimmt dieser auch eine koordinierende Rolle innerhalb des Versorgungsteams ein. Er sorgt für den Informationsaustausch und die Wissensweitergabe zwischen den einzelnen Leistungserbringern und transportiert wertvolle Informationen bzgl. therapeutischer Maßnahmen, Heil- und Hilfsmitteleinsatz sowie Veränderungen in der Versorgung. In unserer Studie wurden alle Mitglieder der einzelnen patientenzentrierten Teams befragt, wie stark sich professionelle Versorger und Betroffene in die Koordination des Informationsflusses und die Abstimmung der Gesamtversorgung innerhalb der Teams einbringen (vgl. Abb. 4). Die Versorgerbefragung zeigte, dass den Patienten eine dominierende Rolle zugeschrieben wird, wohingegen der Hausarzt nur mittelmäßig bis wenig koordinierende Aufgaben übernimmt. Dies wurde auch in den Patienteninterviews prominent behandelt: „Ich als Angehöriger nehme eine ganz zentrale Rolle ein in der Koordination des gesamten Versorgungsapparats, sonst kümmert sich keiner […].“. Dies erstreckt sich insbesondere auch auf die Interaktion mit den Krankenkassen, z.B. im Zuge der Bewilligung benötigter Hilfsmittel. Spezialambulanzen werden ebenfalls als stark in ihrer koordinierenden Rolle eingeschätzt. Dies unterstreicht die Notwendigkeit der Zentrenbildung zur spezialisierten Behandlung von Patienten mit seltener Erkrankung und als Anlaufstelle für Ärzte, die insbesondere bei der Diagnose und Behandlung dieser sehr komplexen Erkrankungen hier Unterstützung finden. Auch Krankenversicherungen bzw. der medizinische Dienst der Krankenkassen (MdK) müssen als Mitglied der patientenzentrierten Versorgungsteams aktiv am Informationsaustausch teilnehmen und adäquat reagieren.
Diskussion
Die vorliegende Studie inkludiert Indikationen mit unterschiedlicher Pflegeintensität, Multiorganbeteiligung und Prävalenz. Da sich in den Auswertungen ein sehr einheitliches Bild über alle Erkrankungen hinweg zeigte, lassen sich unserer Ergebnisse auch auf andere seltene Erkrankungen übertragen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es insbesondere auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen von besonderer Wichtigkeit ist, ein multidisziplinäres Expertenteam zu finden, das einerseits patientennah lokalisiert ist und zum anderen den notwendigen Zugang zu spezialisiertem Wissen in weit entfernten Zentren aufweist. Es ist von essentieller Bedeutung den Erfahrungsaustausch und den Wissens-
transfer zwischen allen beteiligten Experten zu fördern. Der Patient ist im Zentrum eines Versorgungsteams aus multidisziplinären Leistungserbringern zu betrachten. Durch die aktive Informationssuche der Patienten bzw. deren Angehörigen besteht ferner ein großes Wissenspotenzial, das nicht ungenutzt bleiben darf. Auch bei der Koordination der Versorgung sind Patienten neben spezialisierten Zentren beteiligt. Dabei müssen sie z.B. durch anwendungsorientierte Leitfäden und helfende Stellen unterstützt werden und auf Versorgerseite muss die Offenheit für Impulse von Patientenseite steigen.
In regelmäßigen Abständen sollte eine Behandlung in einem krankheitsspezifisch ausgerichteten Spezialzentrum stattfinden. Durch den
§ 116b SGB V konnte bereits die Nutzung von spezialisierten Krankenhäusern zur ambulanten Behandlung ermöglicht werden. Gleichzeitig bieten diese Zentren eine Option der Konsultation für die wohnortnahen Versorger. Im Kontext der seltenen Erkrankungen muss ein Bewusstsein für Seltenes oder Unbekanntes gestärkt und der Umgang mit unausweichlichen Wissenslücken gelernt werden. Das Heranziehen der Expertise anderer Leistungserbringer muss zum Selbstverständnis werden. Auch der Patient als Experte seiner Erkrankung sollte in seinem Versorgungsteam Gehör finden und eine weiterführende Umsetzung seiner Lösungen muss gewährleistet werden. Das Ausschöpfen dieses Potenzials ist von essenzieller Bedeutung, jedoch darf es nicht zur Voraussetzung einer adäquaten Versorgungsleistung führen. Sozial benachteiligte bzw. bildungsferne Patienten dürfen keinen Nachteil hieraus erfahren und bedürfen besonderer Unterstützung durch externe Stellen. So könnte das Konzept eines Case Managers zur Übernahme von Koordination und Planung medizinischer bzw. sozialer Dienstleistungen Anwendung finden (z.B. BMG 2000). <<