Anlässlich der Veranstaltung „AMNOG - Innovationsbremse oder notwendige Korrektur?“, veranstaltet von den beiden im Diabetes-Bereich kooperierenden pharmazeutischen Firmen Boehringer und Lilly, standen in einem Interview Prof. Dr. Beate Kretschmer, Leiterin Health Care Strategy der Lilly Deutschland GmbH, und Ralf Gorniak, Geschäftsführer der Boehringer Ingelheim Deutschland GmbH, Rede und Anwort. Im Fokus stand nicht der Blick zurück, sondern gerade im Hinblick auf den aktuellen G-BA-Beschluss (siehe www.m-vf.de) der Blick nach vorne: Was kann man besser machen?
>> Herr Gorniak, während Frau Prof. Kretschmer auf der Veranstaltung „AMNOG - Innovationsbremse oder notwendige Korrektur?“ von Sanddünen sprach, die auf die Pharmabranche zu rollen, reden Sie von Unwuchten, die, wenn sie nicht beseitigt werden, aus dem AMNOG eine Innovationsbremse entwachsen lassen könnten. Wo sind denn für Sie diese Unwuchten zu verorten? Und was wäre zu tun, um diese Unwuchten aus dem System herauszubekommen?
Gorniak: Die größte Unwucht beginnt gleich zu Beginn des AMNOG-Prozesses, nämlich bei der Festlegung der Vergleichstherapie. So wie die Vergleichstherapie momentan festgelegt wird, erwächst der Eindruck, dass sie ausschließlich mit dem Ziel formuliert werden, um am Ende des Tages zu einem möglichst niedrigen Preis zu kommen. Es geht wohl nicht um eine wirklich zweckmäßige Medikation und evidenzbasierte Vergleichstherapie, sondern um diejenige, die möglichst niedrige Preise präjudisziert. Hier liegt das größte Problem.
Ihre Forderung?
Gorniak: Wir fordern einen fairen Diskussionsprozess, der aufgrund von Evidenz und Kompetenz zu einer vernünftigen Vergleichstherapie kommt.
Die zweckmäßige Vergleichstherapie legt bekanntlich der Unterausschuss Arzneimittel des G-BA fest, demnach mit einer zufälligen, in diesem Kreis vorhandenen Kohorte an Kompetenzen, die mit Sicherheit nicht der möglichsten höchsten Evidenzklasse an Kompetezen entsprechen kann, die es in Deutschland gibt.
Kretschmer: Aber wer kann es denn sonst tun? Wichtig wäre es, in diesen Kreis einerseits mehr Expertentum, andererseits aber auch Heilberufler, die nahe am Patienten sind und schließlich Patienten selbst zu integrieren. Wir wünschen uns deshalb eine Art Appraisal- oder auch Appelations-Stelle, in die man indikationsabhängig Experten integrieren kann.
Unabhängige Experten?
Kretschmer: Möglichst. Doch mal Hand aufs Herz: Keiner von uns ist unabhängig. Weder wir, noch der GKV Spitzenverband, noch das IQWiG oder der G-BA - jeder verfolgt seine Interessen.
Ist die Schiedsstelle unabhängig?
Kretschmer: Die Mitglieder der Schiedsstelle haben natürlich auch ihre Historie. Es gilt einen Auftrag zu erfüllen.
Gibt es denn aus Ihrer Kenntnis im Ausland derartige übergeordnete Kompetenzzentren, denen man derartige definitorische Aufträge aufgrund ihrer Unabhängigkeit guten Gewissens übertragen könnte?
Kretschmer: Beim NICE gibt es ein Board, an dem tatsächlich Patientenvertreter, aber auch Krankenschwestern teilnehmen. Zudem können bei diesem Board sowohl Ärzte als auch Hersteller vorsprechen. Dort scheint zumindest eine Diskussionskultur gelebt zu werden, die ihren Namen auch wert ist.
Gorniak: Ich könnte mir vorstellen, dass in Deutschland die entsprechenden Fachgesellschaften durchaus ein Element darstellen, das man in den Prozess miteinbeziehen sollte. Deren Expertise müsste dann um jene von echt behandelnden Ärzten ergänzt werden. Uns muss aber immer bewusst sein, dass alle ihre eigenen Interessen verfolgen. Momentan haben wir jedoch den Eindruck, dass die Interessen der anderen Seite so stark sind, dass wir mit unseren Überlegungen und auch gut gemeinten Ansätzen überhaupt nicht vorankommen. Vielleicht hilft wirklich nur ein zusätzlicher Stakeholder am Tisch, der die Expertise mit ins System bringt, an dem Prozess wirklich etwas zu verbessern. Zum Beispiel, indem er unter anderem dazu beiträgt, sinnvolle Vergleichstherapien zu definieren.
Der Zusatznutzen ihres innovativen Medikaments konnte laut G-BA auf Grund eines „unvollständig eingereichten Dossiers“ nicht belegt werden. Damit ist gemeint, dass sie sich nicht an die vorgegebene zweckmäßige Vergleichstherpie gehalten haben. Ist das Dossier deshalb wirklich unvollständig?
Gorniak: Diese Aussage weisen wir entschieden zurück: Das Dossier hätte bearbeitet werden können, weil es vollständig war, auch für einen Vergleich mit Sulfonylharnstoffen. Die Bewertung unseres vollständig eingereichten Dossiers wurde jedoch ohne Prüfung der vorliegenden Daten ausschließlich aus formalen, nicht aus medizinischen Gründen getroffen. Überhaupt nicht berücksichtigt sind die spezifischen Vorteile der Gliptine und von Linagliptin: für Patienten, die mit Metformin und Sulfonylharnstoffen austherapiert sind, keine Gewichtszunahme, keine hypoglykämischen Phasen, langfristiger Gefäßschutz. Mit einer solchen Auslegung von Paragraphen wird man einer adäquaten Beurteilung von Innovationen nicht gerecht.
Doch was sind sinnvolle Vergleichstherapien? Um die festzulegen, würden man erst einmal entsprechende Evidenz brauchen.
Kretschmer: Die Evidenz ist immer ein Thema. Wer nach der Evidenz zu Sulfonylharnstoffen fragen würde, mit denen wir unsere innovativen Medikamente vergleichen sollen, erkennt: Es gibt diese Evidenz nicht, die jene Stoffe tatsächlich ermächtigen würde, Vergleichstherapie zu sein. Die wiederholt zitierte UKPD-Studie ist dafür nicht geeignet. Die Zielsetzung, das Design und die Ergebnisse der Studie erlauben eine Ableitung für einen Endpunktvorteil nicht. Man muss beachten, dass diese Studie überhaupt keine Endpunktstudie ist, sondern hier lediglich verschiedene Therapieregime - also intensivierte Therapie versus konventionelle Therapie - untersucht wurden. Und das als Studie geplant in den 70er-Jahren. Doch wir werden heute mit den Aussagen dieser Uralt-Studie konfrontiert, weil nach dem G-BA damit Sulfonylharnstoff nun einmal einen Endpunktnachweis hat und damit als Vergleichstherapie herangezogen werden kann. Dabei scheint es vollkommen egal zu sein, dass eigentlich alle Wissenschaftler sagen, dass die UKPDS nicht geeignet ist, um Sulfonylharnstoffe in den Status einer Vergleichstherapie zu erheben.
Was antwortet Ihnen auf solche Einwürfe das IQWiG oder der G-BA?
Kretschmer: Man diskutiert im Kreis. Weil die UKPDS Eingang in die DMP gefunden hat und hier Therapiestandard ist, müssen Sulfonylharnstoffe auch die Vergleichstherapie sein. Diesen Kreis zu durchbrechen, scheint unmöglich zu sein.
Was wäre, wenn man einmal in die Verordnungswirklichkeit einsteigen würde. Sulfonylharnstoffe sind ja nicht mehr unbedingt die Standardtherapie.
Kretschmer: Absolut. Die Patienten, die heute einen Typ II-Diabetes bekommen, sind viel jüngere Patienten als vielleicht noch vor 20 Jahren oder auch noch vor 10 Jahren. Wir sind heute in der glücklichen Lage neue, verträglichere Medikamente für die Therapie zur Verfügung zu haben, die die Therapieoptionen verbreitern. Die Auswahl sollte sich daher nach den Bedürfnissen der Patienten richten. Wir brauchen daher eine neue Medikations-Kultur, die patientenspezifische medikamentöse Ansätze erlaubt.
Ich kann mir indes gut vorstellen, dass diese Stoffe immer noch in den Leitlinien verankert sind.
Gorniak: Richtig.
Damit könnte man den Fachgesellschaften anheim stellen, sie sollten endlich ihre die Leitlinien an die aktuelle, optimale Medikation anpassen.
Gorniak: Das wäre zu wünschen.
Wie agieren Sie an der Stelle?
Kretschmer: Man muss an der Stelle etwas differenzieren. In den Leitlinien sind schon alle Substanzen verzeichnet, meistens alphabetisch sortiert. Aber in Bezug auf ihren Einsatz wird nicht nach verschiedenen Patientenpopulationen unterschieden.
Bräuchten wir nicht der neuen Erkenntnisse der Diabetesforschung der letzten Jahre entsprechend sowieso angepasste Leitlinien, die nicht nur auf die Grobunterscheidung Typ 1 und 2, sondern viel stärker auf Subgruppen abzielen?
Kretschmer: Die Leitlinien müssen endlich aufzeigen, welche Medikamente für welchen Patiententypus geeignet sind. Doch bisher implizieren die Leitlinien: One fits all.
Es zeigt sich als Zwischenfazit, dass die therapeutische Herangehensweise wesentlich differenzierter, genauer und individueller werden muss. Das gilt sowohl für die Medikationszeit als auch für die Therapieabfolge und den -pfad. Was wäre nun die zweite Unwucht, die zu beseitigen wäre?
Gorniak: Die zweite große Unwucht ist, dass man sich im Prinzip in den Verhandlungen zwischen pharmazeutischen Unternehmen und Spitzenverband Bund gar nicht einigen kann. Das liegt darin begründet, dass die Ausgangspositionen maximal auseinanderliegen. Schon die Verhandlungen über die Rahmenvereinbarungen haben gezeigt, wie wenig Chancen es gibt, tatsächlich sinnvolle Lösungen gemeinsam zu definieren. Die nun begonnenen ersten Preisverhandlungen mit dem GKV Spitzenverband werden extrem schwierig werden. Wir werden in den nächsten Monaten ja sehen, welche Ergebnisse da herauskommen.
Was könnte man denn tun, um diese Unwucht dieser maximal dia-metralen Postionen aus der Welt zu bekommen oder zu minimieren?
Gorniak: Dazu müssen erst einmal beide Seiten alte Ideologien über den Zaun werfen.
Welche würden Sie denn über den Zaun werfen?
Gorniak: Ich glaube, wir haben als pharmazeutische Industrie schon einiges über den Zaun geworfen. Vor wenigen Jahren wäre doch schon die Tatsache, dass Industrievertreter eine Nutzenbewertung im Prinzip als sinnvoll erachten, ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
Und die Notwendigkeit der Preisverhandlungen, damit den Abschied von der freien Preisbildung?
Gorniak: Für uns stellt sich die Frage, wie diese Verhandlungen geführt werden. Führt man sie etwa ausschließlich im Vergleich zu der Vergleichstherapie? Führt man sie unter Berücksichtigung eines Gesamtsystems mit Kosten für Hospitalisierungen und Folgeerkrankungen? Dürfen oder sollten nicht solche Parameter auch eine Rolle spielen? Und dann folgt der Punkt, ob diese Preisverhandlungen auch unter Berücksichtigung von europäischen Preisen geführt werden. Darüber hinaus beinhaltet die jetzige Entscheidung der Schiedsstelle zur Bewertung von europäischen Preisen eine Reihe von Ländern, deren Medikamentenpreise man eigentlich nicht mit den deutschen Preisen vergleichen kann.
Weil sie nicht mit dem deutschen Markt vergleichbar sind?
Gorniak: Was hat ein griechischer, spanischer oder portugiesischer Preis mit einem deutschen zu tun? In all diesen Ländern wurden u.a. aufgrund der Finanzkrise die Arzneimittelpreise von staatlicher Seite gesenkt. Und diese Preise sollen dann Vergleichsmaßstäbe zu den Preisen einer funktionierenden Volkswirtschaft wie Deutschland sein? Da stimmt doch etwas nicht.
Sie wirken ein wenig panisch.
Kretschmer: Das resultiert aus dieser Unsicherheit. Wie wird mit der Vergleichstherapie umgegangen? Was passiert mit dem IQWiG-Bericht? Was passiert in der Preisfindung? Wir wissen zum Beispiel überhaupt nicht, wie überhaupt ein Preis gebildet wird. Gibt es einen Algorithmus? Oder ein gewichtetes Mittel nach Patientengruppen und -mengen? Ich kann im Augenblick nur in die Glaskugel blicken, weiß aber nicht im Entferntesten, wo wir irgendwann finanziell stehen werden, was aber nun einmal meine Aufgabe als Stratege wäre.
Das klingt nach keiner guten Aussage für eine Strategin.
Kretschmer: Richtig. Und mein Geschäftsführer schickt mich zu Recht los, damit ich meine Hausaufgaben mache. Doch wie ohne jegliche Fakten?
Also Evidenz gleich null.
Kretschmer: Evidenz minus null. Von uns wird erwartet, einen Hochrisikomarkt zu bedienen, doch statt nur im Nebel zu stochern, müssen wir im kompletten Blindflug agieren! Da fühlt sich keiner wohl, das ist wie Gehen auf Treibsand, jeder Schritt kann verkehrt sein.
Wie steht es mit der Operationalisierung des Zusatznutzens, die das IQWiG in Art und Weise einer freiwilligen Leistung vorgenommen hat, die aber vom G-BA so nicht angenommen wurde?
Kretschmer: Diese Schwellenwertdiskussion war schon allerhand. Dabei waren wir ja froh, dass wir überhaupt irgendwas hatten. Doch interessanterweise hat der G-BA die Schwellenwerte gleich wieder kassiert, weil die einer normgebenden Entscheidung des G-BA entspringen müssten. Mit dem IQWiG-Modell hatten wir zumindest etwas, an dem wir uns orientieren konnten, jetzt haben wir wieder nichts mehr.
Was wäre denn Ihr Wunsch zu Ostern?
Kretschmer: Mein Osterwunsch lautet, dass nicht immer gleich vermutet wird, die Pharmaindustrie wolle das Gesundheitssystem ausnutzen. Die Pharmaindustrie stellt sich der Nutzenbewertung und ist damit ein Teil der Lösung und nicht mehr das Problem. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier