top

„Vision Zero: Die Zukunft eines besseren Gesundheitssystems“

„Im Gesundheitssystem gibt es weder klare Verantwortlichkeiten noch breit aufgestellte Präventionsmaßnahmen, die auch nur annähernd denen entsprechen, die wir für den Straßenverkehr als gut und effizient anerkannt haben.“ Mit einem Vergleich zur Straßen- und Flugsicherheit begründet Prof. Dr. med. Christof von Kalle, Direktor des Clinical Study Center von Charité und BIH sowie ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit (SVR), den kürzlich vom SVR ins Spiel gebrachten All-Hazard-Ansatz sowie eine „Health in all Policies“-Strategie. Von Kalle erklärt im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ die

Mehr lesen
Erstveröffentlichungsdatum: 02.04.2023

Plain-Text

„Im Gesundheitssystem gibt es weder klare Verantwortlichkeiten noch breit aufgestellte Präventionsmaßnahmen, die auch nur annähernd denen entsprechen, die wir für den Straßenverkehr als gut und effizient anerkannt haben.“ Mit einem Vergleich zur Straßen- und Flugsicherheit begründet Prof. Dr. med. Christof von Kalle, Direktor des Clinical Study Center von Charité und BIH sowie Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit (SVR), den kürzlich vom SVR ins Spiel gebrachten All-Hazard-Ansatz sowie eine „Health in all Policies“-Strategie. Von Kalle erklärt im Titelinterview von „Monitor Versorgungsforschung“ die Grundlagen und Hintergründe eines Vision-Zero-Konzepts sowie die Idee einer datengetriebenen, besseren Zukunft unserer Gesundheitsversorgung.

>> Im zweiten Teil des MVF-Fachkongresses „Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“, der am 24. Januar 2023 durchgeführt wurde, sprachen Sie über den vom Sachverständigenrat Gesundheit, dem Sie angehören, eingeführten All-Hazard-Ansatz und die Überlegungen, die dazu geführt haben. Welche waren das?
Uns ist klar geworden, dass es nicht mehr ausreicht, einfach nur Resilienz für eine höhere Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssystems von der einen zur nächsten Coronapandemie zu fordern. In Zeiten von Klimawandel, Pandemien und Kriegen sowie deren Folgen, die mitunter miteinander in Zusammenhang stehen können, werden Belastungen auf unsere Gesundheitssysteme einströmen, die nur mit einem All-Hazard-Ansatz sowie einer „Health in all Policies“-Strategie zu bewältigen sein werden. Zuerst müssen wir uns als Gesellschaft und Politik überlegen und diskutieren, welche verschiedenen Gefahren es überhaupt geben kann und wie etwaige Präventions- und Reaktionsmaßnahmen aussehen können. Wenn man die Gefahren-, Aktions- sowie Reaktionslagen so gut es irgend geht definiert hat, müssen diese in alle politischen Ebenen eingebracht und implementiert werden.

Wird es uns so gelingen, beim nächsten Mal nicht derart schlecht vorbereitet in eine neue Pandemie oder gar einen Krieg zu laufen?
Das weiß niemand. Was wir aber besonders durch die Coronapandemie gelernt haben, ist, dass die Vorbereitungsphase, nicht die Akutphase das entscheidende Element darstellt, um einen breiten und möglichst hinreichenden Schutz gegenüber externe Schocks zu erzielen – wie immer sie aussehen mögen. Ich spreche dabei nicht von „Unknown Unknowns“, mit denen man mögliche exogener Schocks bezeichnet, von denen man noch nicht einmal Kenntnis von deren Existenz hat. Ich meine mehr die „Known Knowns“, also Ereignisse, die man sowohl kennt als auch ein Bewusstsein darüber entwickelt hat, welche möglichen Auswirkungen sie mit sich bringen. Hitze, Sturmfluten, Hochwasser und Erdbeben sind derartige Ereignisse, die hinsichtlich ihrer Präsenz im gesellschaftlichen wie individuellen Bewusstsein verankert sind, aber dennoch immer wieder überraschend kommen, obwohl man sie doch eigentlich in einem unbestimmten Zeitraum erwarten, vorsorgen und teilweise sogar vor ihnen warnen kann. Dennoch gehen Gesellschaften mit solchen Großereignissen nahezu ohne wesentliche Vorbereitung um. Und das auch noch immer wieder.

Ist das eine Dystopie einer recht ungewissen Zukunft unseres überforderten Gesundheitssystems?
Überhaupt nicht. Wir haben noch Zeit zu reagieren. Wir tun jedoch im Gesundheitssystem immer so, als ob es keine anderen Systeme gäbe, die vor großen Herausforderungen stehen oder standen.

Welche wären das?
Nehmen wir zum Beispiel die Bereiche Straßenverkehrs- und Flug-
sicherheit und schauen einmal, wie dort mit lebensbedrohlichen Gefahren umgegangenen wurde und wird. In diesen werden seit über 50, beziehungsweise über 70 Jahren sogenannte Vision-Zero-Konzepte verfolgt. Und das mit Erfolg.

Was versteht man darunter?
Ein Vision-Zero-Konzept ist relativ simpel. Hiebei wird für ein zu regelndes Gefahrenfeld systemweit ein recht einfaches Prinzip ausgegeben, welches festschreibt, dass vermeidbare Todesfälle gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert werden.

Das war es schon?
Na ja. Damit beginnt die richtige Arbeit, weil jeder einzelne beteiligte Stakeholder oder Marktteilnehmer aufgerufen ist, in seinen jeweiligen Verantwortungsbereichen die Gründe für Todesfälle zu analysieren, einer Aufsichtsbehörde zu melden und dann so gut es irgend geht zu vermeiden. Aber ganz wichtig: dafür auch in der Verantwortung zu stehen, bis hin zum Regress oder sogar einer Strafverfolgung. So konnten seit den 70er-Jahren durch eine Vielzahl von Maßnahmen die Zahl der Verkehrstoten – bezogen auf gefahrene Kilometer – gefünfzigstelt werden.

Übertragen auf das System Gesundheit würde das bedeuten ...
... dass verschwendete Lebensjahre, eingebüßte Lebensqualität und unnötige Todesfälle nicht mehr akzeptiert oder quasi als gottgegeben oder dem Schicksal zuschreibbar hingenommen werden.

Wobei die klassischen, im G-BA versammelten Bänke gleich aufschreien werden, das sei unmöglich.
Wir haben doch eben gesehen, dass genau das im Bereich Verkehrs- und Flugsicherheit möglich war. Und das bei ständig steigenden Verkehrsdichten und höheren Geschwindigkeiten, die bei uns in Deutschland immer noch toleriert werden. Durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, beginnend mit einer Idee, die mit viel Arbeit, Mühe und Beharrlichkeit um- und durchgesetzt wird – in Form einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller am System Beteiligten. Diese beiden Beispiele zeigen uns ebenso, dass Fehlentwicklungen selbst in sehr komplexen Gemengelagen durchaus minimier- oder behebbar sind. Allen muss dabei natürlich klar sein, dass die Translation viel Geduld und Durchhaltungsvermögen benötigt und die nicht im Zeitraum einer oder weniger Regierungskoalitionen zu messen ist.

Wo beginnen?
Mit einem gesellschaftlichen Diskurs, in dem konsentiert wird, wie viel Tote wir künftig im Bereich Gesundheit zu akzeptieren bereit sind. Wenn das klar ist, kann die prinzipielle Ausrichtung des Systems in die gewünschte Richtung erfolgen.

Klingt logisch, warum wird das bislang im Bereich Gesundheit nicht gemacht?
Zwischen der Denke des stillen Hinnehmens und einem Vision-Zero-Konzept gibt es einen grundlegenden Unterschied. Wer eine unbestimmte Zahl an Toten oder vergeudeter Lebensjahre hinzunehmen bereit ist, wird sich in seinem traditionellen Denken natürlich auch auf die Vermeidung von Un- oder Zwischenfällen fokussieren, aber solche Fälle an sich und imperfekte Systeme als solche tolerieren. Vision-Zero-Konzepte hingegen streben aus sich heraus eine Systemperfektionierung an. Zudem sehen diese Konzepte die Imperfektion menschlichen Verhaltens als einen naturgegebenen Faktor an, der vom jeweiligen System entsprechend ausgeglichen, im besten Fall verhindert werden muss.

Machen wir das doch an einem Beispiel fest.
Nehmen wir dazu ein klassisches Beispiel aus der Verkehrssicherheit, bei dem es mehrmals Schwerverletzte oder gar Todesfälle an einer bestimmten Straßenkreuzung gegeben hat. Wenn ein solches Ereignis an diesem Ort mehr als einmal passiert, wird verpflichtend eine Kommission vor Ort geschickt, die analysieren soll, was zu bestimmten Unfallsituationen führen kann und wie diese zu verhindern sind. Im Gesundheitssystem gibt es so etwas nicht. Wenn beispielsweise eine familiäre Krebserkrankung vorliegt, bei der mehr als ein Mitglied einer Familie zu einer untypischen Zeit an einer Krebserkrankung verstirbt, macht sich keine Kommission auf den Weg und niemand untersucht diesen Fall. Die Gesellschaft akzeptiert solche Fälle als dramatische Einzelschicksale, die vielleicht noch durch heldenhafte Einsätze von Unfallhelfer:innen oder Ärzt:innen verhindert werden können. Falls das gelingen sollte, ist das löblich. Doch besser wäre es, einen systematischen Ansatz zu schaffen, der solche Fälle auf Dauer prinzipiell verhindert.

Ist das eine Frage der Finanzierung?
Überhaupt nicht. Systemische Lösungen erfordern selten große, teure Erfindungen. Vielmehr ist ein anderes Denken, das zuvörderst nichts kostet, gefragt und dann viel Mühe und Arbeit, um so lange zu suchen, bis alle Gründe erforscht und miteinander korreliert sind. Das könnte übrigens die Versorgungsforschung leisten, die es sich auf die Fahnen schreiben müsste, ein allgemein verständliches Vision-Zero-Konzept für den Gesundheitsbereich zu formulieren, für das man aber bitte kein kompliziertes Handbuch konsultieren muss.

Wäre das nicht auch eine Aufgabe der Politik?
Sicher auch. Doch werden gesetzliche Vorschriften alleine nicht funktionieren, wenn die handelnden Akteure nicht bereit sind, anders zu denken und ihr Handeln an einer neuen Maxime auszurichten sowie sich daran auch messen und honorieren zu lassen.

Also doch eine Frage des Geldes?
Ich würde sagen: eher eine Frage der Allokation von Mitteln. Wenn wir erneut in die Auto- und Flugverkehrssicherheit blicken, wird man schnell erkennen, dass beide Systeme bereit waren und immer noch sind, enorme Investitionen für Prävention zu tätigen. Hier herrscht die Erkenntnis und das Verständnis, dass Präventionsmaßnahmen wirtschaftlich außerordentlich erfolgreich sind, wenn strikte Kontrollmechanismen und Verantwortlichkeiten eingeführt werden. Das reicht übrigens bis zum Recht auf Eigentum: Jedem Autobesitzer ist absolut klar, dass sein Fahrzeug durch den TÜV muss und die Betriebserlaubnis erlischt, wenn die Plakette nicht auf dem rückwärtigen Nummernschild klebt. Meines Wissens gibt es gegen diesen Akt der Entwertung des mobilen Guts Auto keine einzige Klage, die gerichtsanhängig wäre.

Zurück ins Gesundheitssystem.
Hier leisten wir es uns, genau diesen Ansatz nicht zu verfolgen. Es gibt weder klare Verantwortlichkeiten noch breit aufgestellte Präventionsmaßnahmen, die auch nur annähernd denen entsprechen, die wir für den Straßenverkehr als gut und effizient anerkannt haben. Denken wir an den Beginn dieses Vision-Zero-Konzepts zurück, der mit der Erkenntnis des damaligen Verkehrsministers Georg Leber begann, immer mehr Tote auf deutschen Straßen nicht mehr hinnehmen zu wollen. Er nahm dazu alle – von Fahrzeugherstellern bis Kommunen – in die Pflicht und gründete obendrein noch den Deutschen Verkehrssicherheitsrat, den es heute noch gibt und dem inzwischen über 200 institutionelle Mitglieder angehören. Das war wohlgemerkt bereits 1969! Man sieht daran aber auch, dass ein erfolgreiches Vision-Zero-Konzept den Schöpfer der Idee weit überleben kann, denn es ist selbst lebensfähig und funktioniert irgendwann von alleine.

Können wir uns ein solches System im Bereich Gesundheit überhaupt leisten?
Die Frage lautet eher: Wollen wir es uns leisten? Jedes Vision-Zero-Konzept lebt in erster Linie vom Gedanken der Prävention, der dem Gesundheitsbereich so fern nicht ist. Leider wird Prävention im Bereich Gesundheit falsch verstanden: als Kostenfaktor, auf den möglichst wenige Prozentpunkte der GKV-Ausgaben allokiert werden dürfen. Prävention richtig verstanden ist hingegen ein vielversprechendes und sehr wichtiges Aktionsfeld für Resilienz und Krisenfestigkeit in dem eingangs erwähnten „All-Hazard-Ansatz. Es wird doch jedem zu vermitteln sein, dass jede präventierbare Erkrankung alleine schon vom Personalaufwand eine außerordentlich lohnende Geschichte ist, die unser Gesundheitssystem in größtdenkbarem Maß entlasten kann.

Ein Beispiel dazu?
Werfen wir dazu einen Blick in die Niederlande, die in etwa so groß wie Nordrhein-Westfalen sind und wo ungefähr so viele Menschen wie in NRW leben. In unserem Nachbarland wird einer Kohorte von 850.000 Personen über 55 Jahren ein Briefchen mit einem Darmkrebs-Selbsttest inklusive eines bereits freigemachten Rücksendeumschlags zugeschickt. Das Ganze kostet inklusive Laboranalyse pro Person in etwa 20 Euro und hat immerhin eine Teilnahmerate von über 70 Prozent erzeugt. Klar, das kostet erst einmal viel Geld, hat aber bereits über 20.000 Erkrankungen potenziell verhindert – mit all den Folgekosten für das Gesundheitssystem und andere Systeme wie Pflege, Arbeit, Rente und Soziales. Geschweige denn, dass frühzeitig behandelte Darmkrebspatient:innen wesentlich länger und besser leben.

Das ist doch ein Modell, das auch für Deutschland möglich wäre.
Aber sicher. Das eben beschriebene Vorgehen, das von Ernst J. Kuipers und seinem Team von der Erasmus Universität Rotterdam entworfen wurde, war sogar Preisträger des Felix-Burda-Awards 2017. Damit kann niemand sagen, es sei gänzlich unbekannt. Nur setzt es bei uns niemand um.

Auch hier die Frage: Weil es zu viel kostet?
Gesundheit gibt es nun einmal nicht umsonst. Wir leisten es uns aber, 16 Jahre darüber zu diskutieren, ob Patient:innen Darmkrebs-Selbsttests bei Fachärzt:innen oder auch bei niedergelassenen Ärzt:innen abholen können. Abholen! Wir werden sehen, wie auf diese Aktion aufmerksam gemacht wird und wie hoch die Responserate ausfallen wird. Die weit wichtigere Frage wäre jedoch, wie viele Menschen an Darmkrebs in diesen Jahren gestorben sind, weil sie ihr individuelles Krebsrisiko nicht kannten. Darüber spricht jedoch niemand.

Was wäre, wenn man das von Ihnen beschriebene niederländische Screening-Projekt in Deutschland durchführen würde?
Man kann ziemlich genau analysieren, für welche Kohorte ein derartiges Screening den größten Nutzen hätte. Das wären in etwa 20 Millionen Menschen. Wenn man die Kostenstruktur des niederländischen Projekts hochrechnet, kommt man auf einen Invest in der Höhe von rund 350 Millionen Euro für einen Zeitraum von 5 Jahren. Das klingt womöglich auf den ersten Blick ziemlich viel, macht aber nur 0.017% der in diesem 5-Jahreszeitraum auflaufenden 2055 Milliarden Euro Gesamtgesundheitskosten aus. Auf der positiven Seite stünden jedoch annähernd 500.000 Personen, für die diese Aktion potenziell lebensrettend wäre. Wiederum mit all den damit verbundenen Leid, den Auswirkungen auf Lebensqualität und -zeit sowie Folgekosten in allen gesellschaftlichen Systemen.

Sie sagten eben, dass man die Kohorte für ein Darmkrebs-Screening beschreiben könne. Mal kein Datenproblem oder gar -leck?
Hier haben wir einmal kein Datenproblem. Was aber nicht heißt, dass es woanders keines gäbe. Wir sind beispielsweise im Bereich der öffentlichen Gesundheit bisher nicht in der Lage, einen entsprechenden Datenfluss zu gewährleisten. Es ist in der Pandemie deutlich geworden, dass so ziemlich alle Gesellschaften nicht in der Lage waren, die nötigen Daten zu erheben, zu verstehen und kurzfristig in entsprechende Strategien umzusetzen. Auch das hat mit Sicherheit viele Menschenleben gekostet – verschwendet, wenn man das einmal so drastisch sagen will. Von daher ist eine grundsätzliche Neuausrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes wichtig, wie aktuell vom SVR-Gutachten vorgeschlagen. Nur so werden wir eine gewisse Resilienz erzeugen können.

Wäre nicht ein konzertiertes Vorgehen mit der Versorgungsfor-schung sinnvoll?
Die Anbindung an eine wissenschaftliche Fundierung ist nach internationalen Maßstäben wesentlich. Hier ist künftig auch die Versorgungsforschung gefragt, weil sie darauf ausgelegt ist, bei ihrer Forschungsarbeit tief in die tatsächliche Anwendung einzudringen. Für diese Herausforderung brauchen wir unbedingt aggregierte Daten und Auswertungen aus allen Bereichen des Gesundheitssystems – mit höchstmöglicher Transparenz und bestverfügbarem Zugang für alle.

Wobei wir doch im Gesundheitssystem immer denken, dass wir nicht jeden einzelnen Fall messen können.
Das ist absoluter Nonsens. In der Verkehrs-, der Flug- und selbst bei der Arbeitssicherheit machen wir das doch auch. In diesen Bereichen ist es seit Jahrzehnten absolut selbstverständlich, dass die Daten jedes einzelnen Falles in entsprechende Register eingegeben, verarbeitet und veröffentlicht werden müssen. Und das bei jedem Einzelfall wie etwa einem Bremsenversagen. Hier werden die Gründe ermittelt und abgestellt. Alles andere würde zu einem Systemversagen führen. Gleiches müsste auch für das Gesundheitssystem gelten.

Davon sind wir aber noch sehr weit entfernt.
Wohl wahr. Den Verantwortlichen unseres Gesundheitssystems scheint es auszureichen, quasi den Finger ins Wasser oder in den Wind zu halten, um Outcome zu messen. Mehr als das geschieht – ketzerisch gesagt – nicht, weil es keine bevölkerungsweiten Datenerhebungen gibt. Das ist, wenn ich mir das bis zu möglichen Auswirkungen auf Menschenschicksale durchdenke, relativ schockierend. Auch dass man immer wieder sagt, dass die Daten, die wir im Gesundheitssystem haben, qualitativ so schlecht sind, dass man mit ihnen keine Forschung machen könne. Aber um Menschen zu behandeln, dafür reicht es dann anscheinend schon. Ein solches Vorgehen ist fast schon als zynisch zu bezeichnen.

Was bräuchten wir denn?
Echtzeitdaten-Dashboards, aber nicht nur, was Krisen angeht. Es geht darum, nicht mehr nur Stichprobendaten zu überwachen, sondern flächendeckend Daten aus der realen Versorgung automatisiert zu erheben und fortlaufend auszuwerten. Das ist natürlich nichts, das man von heute auf morgen erreichen kann. Doch muss man endlich damit beginnen, ähnlich wie das bei den Kassenabrechnungsdaten geschehen ist, die lange Zeit in einer Art Dornröschenschlaf geschlummert haben, bis man entdeckt hat, welche Schätze in ihnen verborgen liegen. Bald werden sie in akkumulierter Form der Forschung zur Verfügung stehen, auch wenn das Ganze mehr als 20 oder auch 30 Jahre gedauert hat. Es geht aber auch um viele weitere relevante Datenquellen wie etwa Registerdaten, Daten der Pflegekassen, Qualitätssicherungsdaten, Arzneimittelüberwachungsdaten, amtliche Statistiken und last but not least Wetterdaten.

Wobei die Daten aus elektronischen Gesundheitsakten von Millionen von Patient:innen noch lange nicht erfasst und integriert sind.
Wenn das Gesundheitssystem erbrachte Gesundheitsdienstleis-tungen nicht mehr bezahlen würde, wenn der entsprechende Datensatz nicht in der ePA des Patienten abgeliefert wurde, würden der Digitalisierungsgrad und die Datenverfügbarkeit recht schnell nach oben gehen. Bislang ist die Motivationslage bei den einzelnen Gesundheitsdienstleistern alleine schon wegen der zusätzlichen Aufwände nicht vorhanden, Daten zu erzeugen und abzuliefern. Darüber hinaus existiert ein teilweise sehr merkwürdiges Dateneigentumsverständnis. Die Daten gehören doch den Patient:innen, nicht dem, der sie eingibt. Hier wird die Politik durch klare Definitionen und Zielvorgaben in der Steuerung agieren müssen. Nur so wird ein hinreichender Digitalisierungsgrad tatsächlich erreicht – nicht erst in weiteren 20 bis 30 Jahren.

Wir haben den Datenschutz noch gar nicht angesprochen.
Bei dem Datenschutz, wie er bisher verstanden und ausgeübt wird, geht es mehr darum, die Daten vor dem Patienten zu schützen, als sie einzusetzen, um Patientenschutz durch Datennutzung zu erzielen. Das aktuelle Datenschutzkonzept, das wir im Moment in Deutschland leben und zum Teil auch gesetzlich verankert haben, ist asymmetrisch auf das Nichtprozessieren von Daten ausgerichtet. Sinnreicher wäre ein Datennutzungskonzept, wie es übrigens bereits auch der Ethik-
rat empfohlen hat, das das Prozessieren von Daten erlaubt, wenn es den Patient:innen nützt und schützt. Es muss erreicht werden, dass trotz eines sicher nötigen Datenschutzes die für das Patientenwohl lebensnotwendigen Auswertungen stattfinden und ausgewertet werden können. Überzogener Datenschutz kann in einigen Situationen – das haben wir teilweise auch in der Pandemie gesehen – entweder zu erheblichen Freiheits- und Funktionseinschränkungen führen oder auch Krankheit und Tod verursachen. Wohingegen die Idee, dass jemand durch Datenverlust zu körperlichem Schaden gekommen ist, bisher doch wohl ein relativ theoretisches Konstrukt ist.

Sie haben alles in allem eine datengetriebene Zukunft im Sinn.Wir können es uns künftig nicht mehr leisten, ein komplexes System wie das der Gesundheit mit der zeitweisen Erfassung von Stichproben steuern zu wollen. Wir müssen hinkommen zu einer strukturellen und strukturierten Förderung aller patientenrelevanten Outcomes. Das wird letztendlich nur dann konsequent möglich sein, wenn es einen patientenzentrierten, das heißt für Patient:innen verfügbaren und von ihnen mitbetriebenen Datensatz gibt. Nur so werden wir die Patientenreise inklusive patientenbezogener Outcomedaten sektorenübergreifend erfassen können. Damit darf die Aufgabe der Datensammlung nicht auf die Institutionen und Praxen oder andere Kontaktpunkte der Patient:innen mit dem Gesundheitssystem ausgelegt sein, sondern muss zentral mit dem Patienten oder der Patientin verbunden sein.

Mit welchem Ziel?
Es werden sich nach und nach Ökosysteme effektiverer Leistungen digitaler Versorgung entwickeln, die sich vor allem im Bereich der datenintensiven Medizin herausbilden werden. Die Treiber sind hier Sequenzierung und personalisierte Medizin, die sich massiv weiterentwickeln werden, wenn die Patient:in ihre Daten und Informationen nicht mehr ausgedruckt oder per CD-Rom zur nächsten Fachärzt:in mitbringen muss. Damit entsteht auch ein neuer, wertvoller Benefit für die Versorgungsforschung, die nach meinem und unserem Verständnis im Sachverständigenrat eine bessere Datenlage bekommen muss, die letzten Endes auch eine Analytik aller Systemteilnehmer zulassen muss, statt sich wie bisher auf partielle Studienkonzepte mit relativ beschränkter Aussagekraft beschränken zu müssen. Das wäre eine Art Versorgungsforschungs-Infrastrukturaufgabe, die wiederum viele interessante Forschungsthemen beinhaltet, mit denen man zu neuen Lösungen und neuen Funktionalitäten kommen kann, die die Versorgung wirklich verbessern können. <<

Herr Professor von Kalle, danke für das Gespräch.

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.