Dr. Maximilian Gaßner leitete von 1995 bis Ende 2008 im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit die Abteilung „Sozialversicherung“ und anschließend bis Februar 2010 im Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit die Abteilung „Gesundheitspolitik, Krankenversicherung“. Seit März 2010 ist er Präsident des Bundesversicherungsamts (BVA) in Bonn. Das BVA gehört zum unmittelbaren Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, übt die Rechtsaufsicht über die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung aus, ist an zentraler Stelle in die Finanzströme zwischen den Sozialversicherungsträgern eingebunden, und ist darüber hinaus seit dem Jahr 2009 für die Durchführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (M-RSA) sowie für die Verwaltung des Gesundheitsfonds in der gesetzlichen Krankenversicherung verantwortlich. In diesen Aufgabenbereich fallen auch die Zulassung und das Monitoring der Disease Management Programme (DMP) - darum war das BVA auch Kooperationspartner des „Monitor Versorgungsforschungs“-Fachkongresses „10 Jahre DMP“.
>> Herr Dr. Gaßner, lassen Sie uns doch direkt mit einem aktuellen Thema beginnen, das jüngst durch die Medien ging - die Schließung der City BKK und weitere drohende Kasseninsolvenzen. Welche Erfahrungen haben Sie als Bundesbehörde machen müssen, die sich in die Auseinandersetzungen zwischen den Kassen einmischen musste? Sich dabei zwischen die Stühle zu setzen, ist doch sicherlich keine große Freude?
Von Freude kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Zum einen ist eine Kassenschließung schmerzlich für diejenigen, die letztendlich dafür verantwortlich sind und zum zweiten war die öffentliche Diskussion um die Diskriminierung der Versicherten für das System schädlich. Dieser Punkt stand, als wir die Schließung verfügen mussten, nicht im Fokus; zumal die Rechtslage eindeutig war und die Kassen bereits seit Monaten über die Schließung informiert waren.
Was hat denn dazu geführt, dass die Kassen dennoch solch unmoralische Abwiegelungsversuche unternommen haben?
Die Kassen haben nun einmal ein besonderes Interesse an einer bestimmten Art von Mitgliedern. Junge und gesunde Mitglieder sind aus Kassensicht nach wie vor attraktiver, weil wir im Rahmen des Fondssystems eine leichte Überdeckung für junge gesunde Versicherte haben.
Wie kann denn das Problem der Überdeckung angegangen werden?
Dem BVA liegt ein Vorschlag seines wissenschaftlichen Beirats vor. Der sieht vor, durch eine geänderte Berücksichtigung Verstorbener die relativ ausgeprägte Unterdeckung bei multimorbiden älteren Versicherten etwas abzumildern und die dementsprechende Überdeckung bei jüngeren Versicherten zurückzuführen. Dieser Vorschlag setzt allerdings voraus, dass im Kassenlager ein gewisser Konsens erreicht wird.
Warum?
Die Umsetzung des Vorschlags würde zu Verschiebungen bei den Zuweisungen an die Kassen führen, weil dem BVA ja keine gesonderten finanziellen Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Von einigen Kassen wird dies abgelehnt.
Klassische Versorgerkassen mal angenommen.
Sicher. Hervorgebracht wird das alte Argument, die Umverteilung werde „erhöht“, was so nicht korrekt ist. Denn es geht im System des Gesundheitsfonds und des Risikostrukturausgleichs ja gar nicht um eine „Umverteilung“. Dies würde nämlich voraussetzen, dass jemand vorher etwas besessen hat. Das ist aber nicht der Fall. Schließlich stehen die Beiträge der Gesamtheit der Versicherten zu und werden durch das System des fonds- und morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs verteilt - und nicht „umverteilt“.
Würde denn nicht eine Unterscheidung nach Schweregraden Sinn machen?
Wir prüfen durchaus, bei welchen Krankheitsbildern die Spreizung so groß ist, dass Gruppen gebildet werden sollten. Am Grundprinzip, dass den Ausgangspunkt stets die Durchschnittswerte und Pauschalen bilden, kann man jedoch nichts ändern. Bei Durchschnittswerten gibt es immer Werte, die unter und solche die über dem Durchschnitt liegen. Wenn Finanzmittel konkret nach den Kosten einer Erkrankung zugewiesen würden, dann hätten wir ein rein ausgabenorientiertes System - und genau das wollen wir ja nicht haben. Selbstverständlich gab und gibt es aber an einigen Stellen Nachbesserungsbedarf.
Ein Beispiel?
Bei der Gruppe der Bluter wurde die Zuweisung zwischenzeitlich ausdifferenziert und drei Gruppen gebildet. Aber solche Differenzierungen sind nur begrenzt möglich, weil das Ergebnis sonst in einer direkten Kostenerstattung münden würde, was, wie gesagt, nicht das Ziel ist.
Und dennoch kommt gerade der M-RSA seitens der Krankenkassen schlecht weg, weil sie behaupten, mit dem Geld nicht auszukommen.
Es gibt tatsächlich einige Kassen, wo dies der Fall ist. Hier kann man u. a. feststellen, dass diese Kassen nicht so gut wirtschaften oder teurere Strukturen unterhalten als andere. Das System setzt aber voraus, dass alle ihre Wirtschaftlichkeitspotenziale aktivieren. Grundsätzlich ist das System, in dem Zuweisungen nach Durchschnittswerten erfolgen, in der Lage, diejenigen, deren Kosten über dem Durchschnitt liegen, zu motivieren, wieder auf den Durchschnitt zu kommen oder vielleicht sogar besser als der Durchschnitt zu sein. Denn dadurch entstehen diesen Kassen finanzielle Spielräume, mit denen sie beispielsweise Selektivverträge abschließen und die Versorgung ihrer Versicherten verbessern können.
Haben Sie bezüglich dieses von Ihnen apostrophierten Optimierungspotenzials bereits Bewegung hin zu einer ökonomischen Betrachtung des ganzen Versorgungssystems beobachten können?
Wir stellen schon fest, dass das derzeitige System die Kassen sehr stark motiviert, ihre jeweiligen Wirtschaftlichkeitspotenziale zu heben. Doch läuft dieser Prozess meiner Ansicht nach zu stark in Richtung des einfachen Cost Cuttings. Das hat jedoch weniger mit dem Zuweisungssystem zu tun, sondern damit, dass der Zusatzbeitrag im Markt als ein außerordentliches Finanzierungsinstrument und nicht als ein Regelfinanzierungsinstrument wahrgenommen wird, wie es seitens der Politik geplant war.
Was könnte für eine richtigere Wahrnehmung des Instruments Zusatzbeitrag getan werden?
Vorab muss man festhalten, dass der Wechsel von einem relativen auf einen absoluten Beitrag das Kostenbewusstsein des Versicherten schärft, weil er einen absoluten Beitrag - mag er auch teilweise recht marginal sein - einfach viel stärker wahrnimmt. Problematisch ist, dass derzeit nur wenige Kassen einen Zusatzbeitrag erheben. Das bewirkt eine Überwahrnehmung dieses Preissignals bei den Versicherten. Zudem wurde das Instrument Zusatzbeitrag bedauerlicherweise weder von der Politik noch von Mitbewerbern der Bevölkerung richtig vermittelt.
Was wäre zu tun?
Meiner Ansicht nach sollten wir einen „Normalzustand“ anstreben.
Will heißen: Zusatzbeitrag für alle.
Der Normalzustand kann sich ja nur dann einstellen, wenn alle Kassen, zumindest der größte Teil, einen Zusatzbeitrag einführen. Dadurch könnte die Überreaktion bei den Versicherten - die meist den sofortigen Kassenwechsel auslöst - vermieden werden. Das würde auch zu mehr Beruhigung in der Wettbewerbslandschaft führen sowie zu einer sinkenden Fokussierung auf die pure Kostenoptimierung seitens der Krankenkassen. Das wiederum hätte zur Folge, dass die Qualität der Versorgung und das Versorgungsmanagement wieder mehr in den Blickpunkt der Kassenmanager rücken würde.
Was wird in den nächsten kommenden Monaten im Bereich Zusatzbeitrag auf uns zukommen? Sie müssen es ja wissen. Schließlich müssen die Zusatzbeiträge beim BVA beantragt werden.
Das hängt nicht zuletzt von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ab. Genau lässt sich das zur Zeit noch nicht sagen. Wir müssen die Ergebnisse des Schätzerkreises im Herbst abwarten. Es kann durchaus sein, dass wir 2012 nochmals ohne durchschnittlichen Zusatzbeitrag auskommen. Was man aber aus der Retrospektive der letzten 30 Jahre sagen kann, ist, dass die Grundlohnsummenentwicklung in der Regel unterhalb der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes liegt und die Ausgabenentwicklung über der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Wenn nun, wie es derzeit der Fall ist, der Beitragssatz fixiert wird, hat dies zur Folge, dass die Differenz über Zusatzbeiträge ausgeglichen werden muss. Das bedeutet, dass der Zusatzbeitrag dementsprechend langfristig steigen wird.
Muss das System Gesundheitsfonds modifiziert werden?
An der Fondssystematik muss meiner Ansicht nach nichts geändert werden. Man könnte jedoch im Bereich M-RSA durchaus über Änderungen nachdenken. Zum Beispiel über die Frage einer stärkeren Regionalisierung des M-RSA, was ja auch schon in der Koalitionsvereinbarung steht.
Eine „gerechte“ Verteilung auf regionaler Ebene zu erreichen könnte in „Hauen und Stechen“ ausarten, meinen Sie nicht?
Es wäre in einigen Ausnahmefällen sicherlich schwierig und wider das Gerechtigkeitsempfinden. Zum Beispiel lediglich regionale Unwirtschaftlichkeiten auszugleichen macht keinen Sinn, weil diese dadurch nur prolongiert würden.
Aber auf der anderen Seite würde ein Ausgleich der Unwirtschaftlichkeiten doch eine Verbesserung des Versorgungssystems bewirken.
Hier ist die entscheidende Frage, was genau eine bessere Versorgung und was „Luxus“ ist. Ist die Versorgung dann besser, wenn es viel mehr Ärzte gibt, oder ist irgendwann ein gewisser Sättigungsgrad erreicht und alles, was darüber hinaus geht, ein gewisser Luxus, der zu Überversorgung und vielleicht auch zu Übertherapien führt? Sicherlich soll Letzteres nicht vom Zuweisungssystem ausgeglichen werden. Auch wenn sich Regionen für bestimmte Besonderheiten entscheiden, müssen sie diese letztendlich selber finanzieren. In § 11 Abs. 6 des Entwurfes des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes (GKV-VStG), das am 1.1.2012 in Kraft treten soll, ist das klar geregelt. Dort steht, dass die Kassen Satzungsleistungen in definierten Bereichen anbieten können, aber diese Leistungen nicht über das Fondssystem ergänzend finanziert werden dürfen. Das bedeutet: Diese müssen aus den Überschüssen der Zuweisungen oder über den Zusatzbeitrag finanziert werden.
Kann das funktionieren?
Die Frage ist, wie gut sich eine Kasse bei den Versicherten vermarkten kann. Bei einem Versicherten, den lediglich der Beitrag und nicht die Leistungen interessieren, wird das sicherlich schwierig. Anders bei Versicherten, die das Angebot der Kassen insgesamt betrachten. Ich bin in dieser Hinsicht durchaus optimistisch, denn die Erfahrungen zeigen, dass nicht alle Versicherten - und besonders nicht Chroniker - wegen kleinster pekuniärer Anreize auf Wanderschaft gehen. Sie achten sehr wohl darauf, ob sie bei einer Kasse gut betreut werden und welche Leistungen die Kasse anbietet.
Wenn wir noch einmal auf den Paragrafen 11 Abs. 6 zurückkommen. Dieser sieht doch auch einige Chancen für das System vor, in Qualitätsmarketing über den Zusatzbeitrag einzusteigen, den man anders vermarkten könnte, als über die nichtzugelassenen Leistungserbringer. Was kann man sich darunter vorstellen? Sind etwa Leistungen wie Patientenbegleitung oder Patientencoaching denkbar, die bislang im System noch nicht verankert sind?
§ 11 Abs. 6 gibt den Kassen die Möglichkeit, alle Leistungen anzubieten, die der Bundesausschuss nicht ausgeschlossen hat. Doch bezüglich der nicht zugelassenen Leistungserbringer vertrete ich eine restriktive Ansicht. Leistungserbringer, die im SGB V nicht genannt sind, gehören m. E. nicht dazu; das kann aber durchaus unterschiedlich interpretiert werden. Letztendlich wird es davon abhängen, wie die Gerichte die Vorschrift interpretieren werden.
Und bezüglich der Compliance-Coaches?
Diese Berufsgruppen sind keine klassischen Leistungserbringer. Vielmehr werden sie im Rahmen verordneter Leistungen beziehungsweise in Abhängigkeit von einem bestimmten Leistungserbringer tätig. Ich denke, daran wird sich im Prinzip auch nichts ändern. Was sich ändern kann, ist, dass die Leistungen stärker auf diesen Bereich fokussiert werden. Insofern kann ich mir durchaus vorstellen, dass weitere Tätigkeitsbereiche für solche Berufsgruppen eröffnet werden. Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass hier unabhängig von klassischen Verordnungsberufen neue Geschäftsfelder entstehen.
Wie sieht ein effizientes und erfolgreiches Coachingprogramm Ihrer Ansicht nach aus? Welche Rolle spielen darin idealerweise die einzelnen Akteure wie Arzt, Patient und Krankenkasse?
Traditionelle Anbieter fokussieren ihre Bemühungen meist auf Erinnerungsprogramme, die typischerweise Patienten mit chronischen Erkrankungen daran erinnern, ihre Medikamente einzunehmen oder ein Wiederholungsrezept anzufordern. Doch bei drei Viertel der Non-Adhärenz-Fälle spielt die Vergesslichkeit des Patienten gar keine Rolle. Daher schießen diese Erinnerungsprogramme meines Dafürhaltens am Ziel vorbei und sind langfristig wenig wirksam. Wirklich effektive Programme müssen die Ursache für eine mangelnde Patienten-Adhärenz an der Wurzel packen. Idealerweise sollten diese jeden mit einbinden, angefangen beim Arzt, über die Apotheker hin zu den Kostenträgern. Nur so kann wirklich ein Patienten-fokussierter Ansatz implementiert werden. Ein erfolgreiches Programm liefert zudem Resultate, die für alle vier Hauptakteure relevant sind: Patienten, Gesundheitsversorger, Pharmaunternehmen und Kostenträger, zum Beispiel durch das Management von Nebenwirkungen oder die Vermeidung von Krankenhausaufenthalten.
Kommen wir nun auf den Gesundheitsfonds zurück, beziehungsweise auf die Fondsquote. Sie haben bereits erwähnt, dass die Fondsquote stabil bleiben konnte - aufgrund der besseren wirtschaftlichen Entwicklung. Wie ist denn die Quote zur Zeit?
Im Jahr 2009 lag sie bei 100 Prozent, im Jahre 2010 bei 99 Prozent und in 2011 ist sie wieder bei 100 Prozent. Wenn der Gesetzgeber den Beitragssatz nicht angehoben hätte, wären wir in 2011 bei einer Fondsquote von 98 Prozent.
Was aber doch immer noch im Rahmen der rechtlichen Vorgaben gewesen wäre.
Wir haben keine 95-Prozent-Regelung mehr - die ist bereits durch das GKV-WSG abgeschafft worden. Auch wenn die 95-prozentige Deckungsquote unterschritten wird, muss die Differenz durch den Zusatzbeitrag ausgeglichen werden. Eine übermäßige Belastung, die sich hieraus für den Versicherten ergeben könnte, wird dabei durch den Härtefallausgleich kompensiert.
Eine Frage, die politisch noch gelöst werden muss, ist die Frage nach den Finanzmitteln für den Härtefallausgleich.
Es könnte noch einige Zeit dauern, bis es dazu kommt. Im Übrigen handelt es sich dabei um eine gesetzliche Festschreibung, die der Gesetzgeber auch wieder ändern könnte.
Sehen Sie denn derzeit Bewegung in der Diskussion?
Wohin sich die Diskussion um den Zusatzbeitrag entwickeln wird, ist schwer vorauszusagen. Das hängt nicht zuletzt von den künftigen Wahlergebnissen ab. Man sollte sich aber über eines klar sein: Selbst wenn die Beitragsgrundlage - wie von verschiedenen politischen Gruppen gefordert - verbreitert und gleichzeitig das Zuweisungssystem beibehalten wird, bleibt ein zentrales Problem immer bestehen.
Dass einige Kassen mit den Zuweisungen zurechtkommen, andere jedoch nicht.
Eben. In diesem Fall müssen die betroffenen Kassen die Möglichkeit haben, zusätzliche finanzielle Mittel zu generieren. Um die Zusatzbeiträge kommen wir also nicht umhin.
Man bräuchte ein Instrument, das nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis funktioniert. Wie wäre es mit einer Leistungskürzung?
Das ist ein relativ gefährliches Instrument, weil mit der Leistungskürzung das Instrument einer Pflichtversicherung untergraben werden kann, letztendlich ist es aber eine politische Entscheidung.
Also dann doch wohl eher hin zur besseren, und auch effizienteren Versorgung, wie sie zum Beispiel mit Disease-Management-Programmen bei Chronikern möglich ist.
Ich sehe zu einer strukturierten Behandlung keine Alternativen. Die Sicherung von Qualität kann - nicht nur im Medizinbereich - nur durch eine strukturierte Abfolge von Leistungen und Prozessen erfolgen. So wie man Qualität und Sicherheit im Flugverkehr nur dadurch erreichen kann, dass Piloten strukturiert geschult und bestimmte Gefahrensituationen permanent trainiert, reflektiert und wiederholt werden.
Einspruch: Es würde niemand von einer Fluglinie erwarten, eine Vorher-Nachher-Versorgungsforschungsstudie zu erstellen, die jedes Instrument, das sie einsetzt - wie Qualitätssicherung, Ausbildung, Weiterbildung und Qualitätsoffensiven - einzeln betrachtet. Nur in der Gesundheitsversorgung ist es so, dass erst mal alles hinterfragt wird.
Dass im Bereich der Gesundheitsversorgung alles permanent hinterfragt wird, liegt in der Tat daran, dass die erzeugten Ergebnisse meist nicht so evident sind und ohne entsprechende Versorgungsforschung auch nicht ausreichend evident gemacht werden können. Hätten wir bei den DMP mit Vergleichsgruppen agieren können, täten wir uns vielleicht etwas einfacher.
Wo liegt das Interesse der Kritiker, DMP zu hinterfragen? An zu wenig Geld? Der Vorstand des GKV-Spitzenverbandes hatte am 21. September 2010 die Höhe der DMP-Programmkostenpauschale für das Jahr 2011 neu bestimmt: Sie wurde von 180 Euro auf 168 Euro je Versichertenjahr der RSA-wirksamen Einschreibung in ein strukturiertes Behandlungsprogramm abgesenkt - davon 36 Euro für Verwaltungskosten der Kassen.
Zunächst sei der Hinweis gestattet, dass bei uns zu Beginn des Jahres 2009 mit der Einführung des Morbi-RSA und dem damit einhergehenden Wegfall der Koppelung von DMP an den RSA die Befürchtung bestand, dass die Krankenkassen eventuell diese Änderung zum Anlass nehmen könnten, ihre DMP zu beenden, da die modifizierte Programmkostenpauschale als übriggebliebener monetärer Anreiz nicht ausreichen würde, um die Kassen zu einer Fortführung ihrer Programme zu bewegen. Diese Bedenken haben sich jedoch überhaupt nicht bestätigt. Keine Kasse hat ihre DMP auf Grund der Umstellung auf den Morbi-RSA beendet.
Dies sehen Sie als Signal dafür, dass die Krankenkassen durch die Durchführung von DMP hinreichend hohe Effizienz- und Effektivitätsgewinne im Bereich der Gesundheitsversorgung chronisch kranker Patienten generieren, um ihre Durchführung als lohnenswert zu betrachten?
Genau. Und weiterhin stellen die DMP für eine Krankenkasse einen nicht unwesentlichen Wettbewerbsfaktor dar. Beendet eine Krankenkasse ihre DMP, so könnte dies durchaus Abwanderungseffekte bei ihren Versicherten auslösen. Dabei würden genau die Versicherten abwandern, die durch ihre DMP-Teilnahme und dem Wunsch der Fortführung eines solchen zeigen, dass sie aktiv an einer Verbesserung ihres Gesundheitszustandes mitarbeiten wollen.
Also sollte eine Absenkung der Programmkostenpauschale auch keine bzw. nur marginale Folgen für die DMP-Landschaft in Deutschland haben?
Davon gehen wir aus. Allerdings sehen wir auch, dass in der Regel größere Kassen besser mit der Programmkostenpauschale auskommen als kleinere. Der Grund sind positive Skaleneffekte, weil einfach mit steigender Teilnehmerzahl die Stück- und die Grenzkosten eines DMP sinken. Auch liegt es im Wesen einer Pauschale, dass einige der Bezieher besser mit den zur Verfügung gestellten Mitteln auskommen als andere. Darüber hinaus bezieht sich die Programmkostenpauschale gerade auf die Kostenarten, die von den Krankenkassen direkt steuerbar sind.
Das BVA weist viel Geld im Zusammenhang mit den DMP zu.
Aber weniger als man gemeinhin annimmt. Um es genau zu sagen: Die DMP-Pauschale machte im Jahr 2011 „nur“ 935 Millionen Euro, also nur 0,5 Prozent der Gesamtzuweisungen aus.
Was wird zukünftig im Bereich DMP neu geplant?
Das GKV-VStG überträgt die Zuständigkeit für den Bereich DMP auf den Gemeinsamen Bundesausschuss. Das heißt: Ab dem 1.1.2012 wird der G-BA auch für die Weiterentwicklung von DMP zuständig sein. Ob dieser beispielsweise die Erweiterung von DMP für neue Indikationen plant oder die Datenerhebung um weitere Zielwerte erweitern wird - all das können wir derzeit noch nicht abschätzen. Der Gesetzentwurf bietet dem G-BA sehr viel Spielraum, um sich das Feld der DMP zu erschließen.
Und mit dem Gesetzentwurf eines GKV-VStG wird auch die Notwendigkeit von Wiederzulassungen aufgehoben.
Dies ist, nachdem bereits mit dem GKV-WSG eine Verlängerung der Zulassung um zwei Jahre auf maximal fünf Jahre erfolgte, ein folgerichtiger Schritt. Es handelt sich hierbei um einen wesentlichen Beitrag zur Entbürokratisierung des Zulassungsverfahrens von DMP, die auch immer wieder vom Bundesversicherungsamt gefordert wurde.
Wie wird dabei der Bereich der Patienten- oder Bürgerorientierung bei DMP umgesetzt?
Bisher bestand keine direkte Beteiligung der Interessenvertreter von Patienten. Dies ändert sich vielleicht durch die Übertragung der Zuständigkeit für DMP auf den G-BA. Gemäß § 140f Abs. 1 und 2 SGB V sind die Interessenvertretungen der Patientinnen und Patienten in Fragen, die die Versorgung betreffen, im Rahmen eines Mitberatungsrechtes durch den G-BA zu beteiligen. Dies ist auch wünschenswert, da aus einer stärkeren Einbeziehung der Patienten in die Ausgestaltung und Weiterentwicklung von DMP unter Umständen auch eine Stärkung der Betrachtung von Anreizsystemen für Patienten resultieren kann. Was wiederum die Compliance der Patienten verbessern könnte. Allerdings hängt die Akzeptanz und Motivation der DMP-Teilnehmer bezüglich des initialisierten Selbstmanagements und der Einhaltung der empfohlenen Behandlungsrichtlinien auch wesentlich von den koordinierenden und steuernden Haus- bzw. Fachärzten sowie der Informationspolitik der Krankenkassen ab.
Das ist doch bisher noch alles intransparent.
Stimmt. Die Prozesse zwischen den Schnittstellen werden in den an uns übermittelten Daten und der von uns daraus erstellten vergleichenden Evaluation der DMP, welche einerseits der Qualitätssicherung aber auch dem Qualitätsmanagement dient, leider nicht abgebildet. Somit besteht bei der Betrachtung der Kooperation und des Informationsflusses zwischen dem ambulant-hausärztlichen, dem fachärztlichen und stationären Bereich noch keine hinreichende Transparenz. Die Schnittstellenverknüpfung ist somit ein Bereich, dem wir uns künftig stärker zuwenden müssten. Es bedarf jedoch eines aufeinander abgestimmten und zielorientierten Handelns aller an der Durchführung von DMP Beteiligten, um hier mehr Transparenz schaffen zu können.
Diese Ergebnisse werden allerdings nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Das stimmt so nicht. Es werden die Evaluationsberichte der Kassen je zugelassenem DMP durch die Kassen veröffentlicht; zudem die Ergebnisberichte der Auswertung zu Diabetes mellitus Typ 2 sowie die Verteilungsanalysen der medizinischen und ökonomischen Zielwerte über alle DMP. Und das immerhin im Auswertungszeitraum 2003 bis 2008, bei Koronaren Herzkrankheiten bis 2007. Außerdem stellen wir unsere Veröffentlichungen und Präsentationen auf unserer Internetseite ein. Richtig ist aber, dass wir in der Vergangenheit durchaus die Befürchtung hatten, dass einige Krankenkassen ihre DMP wieder beenden würden, wenn sie im Rahmen unserer Evaluation unterdurchschnittliche Ergebnisse bei einzelnen Zielwerten generieren. Diese Hypothese hat sich jedoch nicht bewahrheitet. Vielmehr gibt es Signale aus der Kassenlandschaft, die darauf hinweisen, dass die Krankenkassen in ihren Regionen den Benchmarking-Ansatz aufnehmen und fortführen, um die DMP zu verbessern und sich hierfür eine weitreichendere Informationspolitik wünschen würden.
Würden Sie sich noch mehr Transparenz wünschen?
Da sich unsere oben genannten Bedenken nicht bestätigt haben, ist für uns in jedem Fall mehr Transparenz wünschenswert. Mehr Transparenz und eine aktive Informationspolitik sehen wir als Chance, um die Diskussion um DMP und ihre Weiterentwicklung voran zu treiben. Eine erhöhte Transparenz hätte zudem den positiven Effekt, dass wir den gesetzlich Versicherten neben dem Zusatzbeitrag ein weiteres nicht-monetäres, sondern versorgungsbezogenes Instrument an die Hand geben, um eine geeignete Krankenkasse zu wählen.
Was wäre dann zu tun?
In einem ersten Schritt müsste ein Konsens der Hauptbetroffenen gefunden werden, damit die Inhalte von Publikationen nicht missverständlich sind, sondern die Ergebnisse adressatengerecht aufbereitet werden. Es muss den Adressaten dieser Informationen klar sein, dass es keinen einzelnen Summenrichtwert für die Güte von DMP gibt. Vielmehr können zwischen den DMP je Indikation jeweils nur die gleichen medizinischen und ökonomischen Zielwerte miteinander verglichen werden. Denn nach unseren Erfahrungen weist kein DMP durchgängig bei allen Zielwerten auffällig gute oder schlechte Ergebnisse auf.
Sie führen im Rahmen von Benchmarking eine vergleichende Evaluation durch, die die einzelnen Kassen nutzen können, wenn sie wollen. Wie wird denn dieses Angebot genutzt?
Die Information von Krankenkassen mit auffälligen DMP erfolgt automatisch durch uns. Darüber hinaus haben wir Mitte Mai 2011 eine Abfrage bei den Gemeinsamen Einrichtungen in den Regionen, in denen die Krankenkassen und die KVen vertreten sind, gestartet, in der wir optionale Datenlieferungen in Form von grafischen Auswertungen für die jeweiligen Regionen offerierten. Das Feedback war positiv. Und bisher haben wir sechs Gemeinsame Einrichtungen beliefert.
Aber einzelne Kassen verhalten sich diesbezüglich noch zögerlich?
Leider. Der MVF-Kongress „10 Jahre DMP“ hat uns aber in unserem Bemühen unterstützt, die Kommunikation mit den Krankenkassen zu intensivieren. Es wäre wünschenswert, wenn die Krankenkassen unser Angebot intensiver nutzen würden und die zur Verfügung gestellten Ergebnisse in die regional zuständigen Gemeinsamen Einrichtungen tragen würden, um sie dort zu diskutieren und einen Prozess der Optimierung in Gang zu setzen. Allerdings besteht hier kein Berichtswesen, das uns signalisiert, ob ein solcher Prozess tatsächlich in jeder Region besteht. Wir vertrauen insoweit jedoch der Kassenseite, dass sie die nötigen Anstrengungen durchführt.
Da wären wir beim Thema Prävention, das auch nicht unbedingt das Lieblingskind der Krankenkassen ist.
Die Krankenkassen sehen Prävention in etlichen Fällen mehr als ein Marketinginstrument an und weniger als ein sinnvolles Instrument zur Krankheitsvermeidung. Auch wird teilweise recht schlicht argumentiert, dass sich Prävention nicht lohne, wenn der Patient nachher die Kasse wechsle.
Wenn wir aber mal an Multimorbide denken, die auch eine gewisse Unterdeckung im Zuweisungssystem auslösen ...
... dann könnte Prävention durchaus ökonomisch motiviert werden.
Dennoch halten die Kassenmanager dem BVA vor, dass nur nach dem Status des Vorjahres zugewiesen würde.
Und? Wenn man es schafft, dass zum Beispiel ein Patient mit instabiler Angina pectoris in einen stabilen Zustand gebracht wird, bekommen die Kassen trotzdem die höhere Zuweisung, obwohl die Kosten gar nicht mehr anfallen.
Doch was ist mit der Primärprävention?
Es gibt für Primärprävention keine eigene Zuweisungen aus dem Fonds. Dennoch könnten die Kassen mehr aus den Überschüssen der allgemeinen Zuweisungen in Primärprävention investieren. Man muss jedoch Prävention sehr differenziert betrachten und auch losgelöst von dem Träger Krankenkasse. Denn die meisten Präventionsaktivitäten können nicht auf den Kreis der Krankenkassenversicherten beschränkt werden. Darum müsste Prävention an sich systemübergreifend organisiert werden.
Ob DMP, Compliance oder Prävention: Letztlich hängt alles auch an der Nichtsteuerbarkeit und mangelnden Durchgriffsfähigkeit zum Patienten.
Unser Gesundheitssystem ist ein liberales System und das ist auch gut so. Darum werden wir mit dem Thema der Steuerung von Patienten immer unsere Probleme haben, auch wenn das System vielleicht anders organisiert viel effizienter sein könnte. Wer das möchte, muss jedoch bereit sein, härter durchzugreifen, den Patienten härter anzupacken - von harten finanziellen Restriktionen bis hin zu einem Ausschluss von bestimmten Therapien. Diese Diskussion möchte ich jedoch nicht führen und ich sehe hierbei auch keinen Konsens in der Gesellschaft.
Herr Dr. Gaßner, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.