12 Kassen müssen – vor allem bedingt durch die Auswirkungen des Morbi-RSA – von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge in Höhe von 8 bis 37,50 Euro verlangen und setzen Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler damit unter medialen Druck: Statt die Vorgaben des Koalitionsvertrags in aller Ruhe mit Details zu unterfüttern und eine strukturierte Gesundheitsreform zu konzipieren, muss wieder einmal geflickschustert werden. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit dem Bundesgesundheitsminister über sein Konzept für eine wirkliche Gesundheitsreform, die ihren Namen auch verdienen würde. Schon jetzt ist klar: Versorgungsforschung kommt eine zentrale Rolle zu!
>> Herr Minister Rösler, der Erwartungsdruck seitens aller Beteiligten des Gesundheitswesens und vor allem auch seitens der Medien ist hoch. Die Einen bemängeln, dass in den ersten Tagen ihrer Amtszeit zu wenig passiert ist, die Anderen loben manche Personalentscheidungen, auf die wir sicher noch zu sprechen kommen. Und die Dritten rügen, dass bisher bis auf ein Moratorium im Bereich eHealth nichts groß geschehen ist. Doch jetzt scheinen Sie in Zugzwang zu kommen, nachdem die aktuellen Zusatzbeiträge der Krankenkassen in den Medien – und so auch in den Augen der Öffentlichkeit – vor allem steigenden Arzneimittelpreisen zugeschrieben werden, was ja so nicht ganz richtig ist.
Für mich ist ausschlaggebend, dass die Beiträge der Versicherten effizient eingesetzt werden. Das heißt, dass mögliche – und durchaus vorhandene – Einsparpotenziale im Arzneimittelsektor, aber auch in anderen Bereichen, gehoben werden. Wir alle können doch stolz sein, dass Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hat, in dem der Zugang zu neuen innovativen Arzneimitteln für GKV-Versicherte gesichert ist. Aber ebenso gilt: In Deutschland sind die Preise besonders von innovativen Medikamenten zu hoch. Hier wollen wir nicht nur ran, hier müssen wir ran, wenn den Patientinnen und Patienten in Deutschland auch künftig noch innovative Arzneimittel zur Verfügung stehen sollen.
Während die Arzneimittelpreise zu hoch sind, diskutieren Ärzte offen über Rationierung und Priorisierung. Ist das nicht etwas unethisch, wenn gleichzeitig nicht über das Ende oder zumindest den Versuch der Beseitigung von Ineffizienzen im System gesprochen wird?
Niemand hat einen Freibrief, wenn es um die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung geht. Ich habe ein Konzept mit Maßnahmen zur Arzneimittelpreisbildung vorgelegt. Das ist einer von mehreren Bausteinen. Mein Ziel ist ein effizientes System, in dem die Gelder der Versicherten optimal eingesetzt werden. Denn wenn öffentlich argumentiert wird, es sei trotz 174 Milliarden Euro zu wenig Geld im System oder es gebe eine schleichende Rationierung, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ein Regelwerk der Rationierung oder ein wirklich effizientes System. Ich will das effiziente System.
Und wenn das dann effizient eingesetzte Budget immer noch nicht reichen sollte?
Wenn trotz optimaler Mittelverwendung tatsächlich zu wenig Geld im System sein sollte, bin ich der erste, der sagt, dass mehr Geld eingesetzt werden muss. Doch solange wir kein optimales System haben, kann doch keiner ernsthaft mehr Geld verlangen, noch kann er behaupten, es sei zu wenig da.
Es ist sicher allen Systembeteiligten klar, dass wir uns auch Anno 2010 immer noch in einem System der Über-, Unter- und Fehlversorgung befinden.
Genau diese Fehlsteuerung der Mittel löst solche Diskussionen aus, wie wir sie zur Zeit beobachten. Darum sehe ich es als meine Aufgabe, ein besseres, sprich qualitativ hochwertigeres System zu schaffen.
Hier hat sich die Politik in den letzten Jahren und Jahrzehnten sicher nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert: Ein wahrer Flickenteppich der Legislative, sich gegenseitig widersprechende oder gar aushebelnde Instrumentarien werden nur zu oft bemängelt.
Das stimmt nur teilweise. Doch die Kritik hat einen wahren Kern: Die meisten bisherigen Gesundheitsreformen – gleich welcher Parteirichtung – beschränkten sich immer auf Kostendämpfung, was vielleicht in der jeweiligen Zeit auch das Richtige, weil kurzfristig Durchsetzbare war. Doch all diese Reformen und Gesetze haben es nicht geschafft, das System als solches zu verbessern, weil sie eben nicht dazu beigetragen haben, zu einem effizienteren und gleichzeitig auch qualitativ besseren System zu kommen. Genau das ist mein erklärtes Ziel.
Ein wahrlich hehres Ziel.
Ich glaube wirklich, dass es bei einem Gesamtvolumen von 174 Milliarden Euro, die Jahr für Jahr nur im GKV-Bereich ausgegeben werden, genug Spielraum gibt, um das System zu optimieren.
Vielleicht sind es auch verbale Nebelgranaten, die da geworfen werden, weil sich alle Leistungserbringer im bestehenden System ganz gut eingerichtet haben.
Das darf nicht pauschaliert werden. Es gibt aus meiner Sicht einen großen Unterschied zwischen einer unfairen Konkurrenz auf der einen Seite und einem fairen Wettbewerb auf der anderen Seite.
Weil versucht wird, in einem System der knapp budgetierten Töpfe – ob das bei den Ärzten Regelleistungsvolumina, gedeckelte oder auch nur teil gedeckelte Budgets sind, oder bei der Pharmaindustrie Höchstpreise oder selektive Vertragsmodelle sind – zu überleben?
Dagegen kann man in einer freien Marktwirtschaft nichts haben. Mir geht es aber darum, wie jemand versucht, sein Geschäft zu betreiben. Bei der unfairen Konkurrenz hat derjenige Erfolg, der besonders geschickt die einzelnen Regeln und das System als solches auszunutzen im Stande ist. Dieses Verhalten hat absolut nichts mit Therapiefreiheit oder Leistung für den Patienten zu tun. Das ist der Auswuchs einer Konkurrenzsituation, in der mit harten Bandagen um Marktanteile geschachert wird – ob zwischen Haus- und Facharzt, ambulant gegen stationär oder ein Medikament gegen das andere. Dieses Vorgehen halte ich für falsch. In einem fairen Wettbewerb dagegen hat derjenige Erfolg, der eine gute, aber auch nachvollziehbare Leistung bringt. Und gut nenne ich vor allem das, was dem Patienten nutzt.
Sie plädieren für eine moralische Dimension der Marktwirtschaft.
So hoch will ich das gar nicht hängen. Ich rede erst einmal von einem fairen Umgang – nicht nur mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, sondern vor allem mit dem höchsten Gut, das wir alle haben: Das ist unsere Gesundheit. Ich plädiere aber auch ganz entschieden für ein neues Miteinander, das das bisherige Gegeneinander ablösen kann.
Wenn man sich die öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre vor Augen führt …
... dann macht der Ton die Musik. Diese Dissonanz ist sicher eines der Grundprobleme des deutschen Gesundheitswesens, ein anderes ist das tiefsitzende Misstrauen. Ich will allen Beteiligten im Gesundheitswesen deutlich machen, dass ich ihnen nicht mehr Geld versprechen kann – das ist meine klare Ansage, ob ich nun bei Ärzten, Apothekern oder der Pharmaindustrie spreche. Aber dafür kann ich den Einstieg in ein faires System mit verlässlichen Rahmenbedingungen in Aussicht stellen. Darum halte ich auch nichts davon, die einzelnen Akteure gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil, ich agiere bei jedem Thema, das auf meinen Tisch kommt, nach einer vergleichbaren Strategie: Ich lade die einzelnen Akteure ein, meist zuerst die Leistungserbringer, dann die Kostenträger. Das ist in meinen Augen die einzige Möglichkeit, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu beschreiten.
So geschehen am Beispiel des eCard-Moratoriums oder der Arzneimittelpreise.
Genau. Die Diskussion um die eCard läuft doch seit vielen Jahren ohne konkrete Ergebnisse. Ebenso jene um die künftige Arzneimittel-Preisfindung. Hier hatte ich zuerst den GKV-Spitzenverband bei mir, dann den Branchenverband progenerika, gefolgt vom BAH, BPI und dem VFA. Ich höre mir ganz bewusst immer alle Seiten an, die ganz offen artikulieren können, welche jeweiligen Vorstellungen sie haben. Aber ebenso klar ist das, was ich allen Gesprächspartnern vorab erkläre: Das BMG und der Gesetzgeber treffen die Entscheidungen – und zwar danach, was für die Versicherten und Patienten gut ist.
Ein neuer Ton scheint ins Bundesgesundheitsministerium einzuziehen.
Durchaus. Auch weil ich die Beteiligen nicht einbestelle sondern einlade. Ich bin erfreut, dass die Vertreter der Kassen und der Pharmaindustrie dieses kleine Zeichen, vielleicht aber auch die größeren Zeichen der Zeit erkannt haben. Alle – und so auch die Pharmaindustrie – müssen ihren jeweiligen Beitrag leisten.
Wird dem Arzneimittel hier nicht ein etwas zu großer Wirkhebel zugemessen? Der von den Kassen als Kostentreiber ausgemachte Arzneimittel-Bereich ist doch nur im Bereich der patentgeschützten Originalpräparate ein Kostentreiber, aber auch hier wieder nur einer unter vielen.
Produktinnovationen waren und sind seit jeher das A und O der Medizin. So ist es auch kein Wunder, dass schon immer große finanzielle Ressourcen in diesen Bereich geflossen sind. Es war sicher ein Fehler der Politik, nicht zu erkennen, dass vielleicht Prozessinnovationen mindestens ebenso wichtig für die Effizienz eines Systems sind wie Innovationen auf dem Produktsektor.
Was dann auch heißen muss: Weg von der Einzelbetrachtung hin zu einem Blick aufs große Ganze.
Aktuell diskutieren wir über die Frage, wie man die Einnahmeseite neu gestalten kann. Dabei wäre auch die Frage spannend, wie man die Abläufe im gesamten System verbessern kann. Denn Prozessinnovationen könnten helfen, Kosten zu sparen und effizienter zu arbeiten. Es ist daher meine Aufgabe – neben der Einnahmenseite, die vor allem die Öffentlichkeit beschäftigt – die Ausgabenseite in ein effizienteres System zu überführen. Zu einem solchen systemischen Ansatz gehört es, die gesamte Behandlungskette im Alltag zu betrachten, weil es hier sicher noch viel Potenzial gibt.
Wenn man es denn genauer wüsste, womit wir bei Versorgungsforschung angekommen sind.
Das ist für mich ein ganz wichtiges Thema. Gerade deshalb taucht der Begriff „Versorgungsforschung“ als einer von ganz wenigen anderen Begriffen gleich zweimal im Koalitionsvertrag auf – einmal im BMBF- und einmal im BMG-Teil.
Wobei die formale Zuständigkeit bei Frau Schavan liegt.
Doch wir haben uns darauf verständigt, das Thema gemeinsam mit Workshops anzugehen, die bereits gestartet sind. Dabei geht es mir vor allem darum, die Probleme des Krankheitsgeschehens im Alltag aufzuarbeiten. Denn wir sind in der Highend- und Hightechmedizin hervorragend aufgestellt, doch in der Versorgungskette gibt es oft erheblichen Verbesserungsbedarf – unter qualitativen, aber auch unter ökonomischen Gesichtspunkten.
Sehen Sie ein Umdenken, das die Versorgungsforschung aus ihrem Noch-Schattendasein befreien könnte?
Mit Sicherheit. Wenn inzwischen sogar die Kassen bereit sind umzudenken, um aus der ewigen Diskussion um zu viel oder zu wenig Geld herauszukommen. Doch hier stehen die Krankenkassen erst am Anfang, so wie es zugegebenermaßen auch die Politik tut. Denn im letzten Koalitionsvertrag stand ja noch gar nichts zum Thema Versorgungsforschung drin.
Wie stellen sich andere Akteure dazu?
Ich meine, eine gewisse Bewegung bei allen handelnden Akteuren zu erkennen. Das sieht man sogar am sperrigen Thema der Bedarfsplanung, dem wir uns seitens des BMG angenommen haben. In den 90er Jahren hatte die Bedarfsplanung im Hinblick auf die damals vorhandene Ärzteschwemme das Ziel, möglichst die Niederlassung von Ärzten zu verhindern. Heute aber sind die Anforderungen gänzlich andere – fast das Gegenteil ist der Fall. Selbst die KBV hat bereits eine gemeinsame Bedarfsplanung mit dem stationären Bereich angedacht. Was schluss-endlich dabei herauskommt, ist eine andere Sache. Aber alleine das Signal ist bemerkenswert.
Die Herausforderungen werden auch hier enorm sein, weil die Bürger den Erfolg eines Gesundheitsministers am Ende nicht daran messen werden, wie toll er eine Reform auf den Weg gebracht hat.
Richtig. Sondern vor allem daran, wie der Arztzugang per se gewährleistet ist, sprich wenig bis gar keine Wartezeiten.
Wird das überhaupt möglich sein?
Schon die gefühlte Wirklichkeit sieht anders aus. Laut Statistik gibt es keine schlecht versorgten Gebiete. Die Frage lautet, welche Anreize wir setzen müssen, damit Ärzte aus den Ballungszentren in den ländlichen Raum gehen. Dabei wissen wir, dass es kaum gelingen wird, einen eingesessenen Facharzt aus Berlin ins Havelland zu bekommen. Aber in der Phase des Selbstständigwerdens kann man einen Arzt motivieren. Hier muss man ansetzen.
Es gibt doch seit dem 1. Januar dieses Jahres die Möglichkeit von Zuschlägen. Das ist schon eine Form von Anreizmodell.
Es gibt noch ganz andere, sehr unterschiedliche und auch viel weiter führendere Modelle, die wir uns derzeit ansehen: Sachsen zum Beispiel bietet Stipendien für Medizinstudenten an. Und medizinische Versorgungszentren wären eine andere Möglichkeit.
Sie favorisieren MVZ?
Als Modell ja. Doch wir wollen verhindern, dass große Kapitalgeber einsteigen und am Ende MVZ nicht mehr nach medizinischen Gesichtspunkten im Sinne von Freiberuflichkeit betrieben werden, sondern unter Kapitalmarktgesichtspunkten. Deswegen gilt ja schon jetzt die Regel, dass ein MVZ von einem Arzt geführt werden muss. Außerdem haben wir in der Koalition vereinbart, dass die Mehrheit der Geschäftsanteile und Stimmrechte bei den Ärzten liegen soll. Das umzusetzen, ist allerdings nicht so ganz einfach.
Ist das MVZ – ähnlich wie auch die Pauschale 1 der Hausarztverträge – ein Schritt den Ärztestand zu entkommerzialisieren?
Das wäre eine Sache der Selbstverwaltung, die innerhalb der Hausarztverträge die Möglichkeit hat, solche Instrumente einzusetzen. Es muss einfach einen Leistungs- und Qualitätswettbewerb geben, der weit über die bisherigen Mengenanreize hinausgeht, aber auch nicht in eine Akkordarbeit ausarten darf, was dem Arztberuf als solchem, vor allem aber dem Patienten nicht gerecht werden würde.
Hier kommt das Stichwort „Pay for performance“ zupass.
Auch das klingt erst mal gut. Schon jetzt gibt es im Rahmen des EbM-Modells die Möglichkeit, nach bestimmten Qualitätskriterien zu honorieren. Doch wie soll Performance bewertet werden? Und: Was heißt denn Performance im Gesundheitsbereich? Wenn man Qualität bezahlen will, muss man doch auch Qualität beurteilen können und darüber hinaus einen Zusammenhang herstellen können zwischen Bezahlung und Ergebnisqualität. Aber: Wie definiere und kontrolliere ich diese Qualitätsbeziehung? Das ist keine einfache Frage, auch wenn das Ziel ordnungspolitisch durchaus richtig ist.
Wie kann Versorgungsforschung gegen Ineffizienzen im System wirken, die, wenn sie nicht gelöst werden, im Zuge der Priorisierungsdebatte auch als unethisch zu bezeichnen sind?
Wir können zum Beispiel den Herzinfarkt ganz toll behandeln, das ist unbestritten. Aber wie bekommt man im ländlichen Raum einen Patienten schnell zum Spezialisten? Oder wie gehen wir mit Demenz um? Mit Pflege? Genau das und noch viel mehr soll der Workshop zwischen BMBF und BMG erarbeiten.
Vielleicht ist jedoch die Frage vordringlicher, wie man Versorgungsforschung als konzertierten Ansatz installieren kann.
Es wird unmöglich sein, das ganze System auf einen Schlag erforschen zu wollen. Darum muss man sich einen Bereich nach dem anderen ansehen. Sicher sind alle Themen rund um die Volkskrankheiten sehr wichtig.
Und ein wirklich sektorenübergreifender Ansatz!
Sicher. Ich betrachte das Gesundheitssystem auch als Kette von der Prävention bis zur Nachsorge.
Und bis hin zur Pflege, die leider eine andere Versicherungsart ist.
Wenn sie das Thema Gesundheit ganzheitlich betrachten, dann interessiert sich der einzelne Mensch doch nicht dafür, welche Versicherungsart am Ende für was zuständig ist. Deshalb muss die Politik die Schnittstellen zwischen den einzelnen Sicherungssystemen – ob GKV, Pflege oder Sozialhilfe – neu definieren. Die Aufgabe der Versorgungsforschung ist es dann, die entsprechenden Schnittstellen ausfindig zu machen und etwaige Probleme zu lösen.
Diese globalere Betrachtungsweise führt schnell über das GKV-System hinaus.
Stimmt. Wir führen diese Diskussion beispielsweise derzeit bei der neuen Pflegebegriffsdefinition. Irgendwann kommt man im Gespräch mit den Beteiligten zum Beispiel an den Punkt, wie es denn nun genau mit Eingliederungshilfen aussieht. Bei dieser Frage hat man dann die Länder mit am Tisch. Ich sage mal salopp: Ich traue mir zwar eine Gesundheitsreform zu, aber aus gutem Grunde keine Föderalismusreform. Doch eigentlich muss es das Ziel sein, Grenzen zu überwinden, auch solche bei sozialen Sicherungssystemen. Zumindest kann man die Schnittstellen ausfindig machen und definieren, welche Schwierigkeiten es gibt. In welchem Zeitraum diese gelöst werden können, ist wieder eine andere Frage. Doch man darf kein Tabu von vorne herein im Kopf haben.
Auch kein Tabu, nicht erfolgreiche Instrumentarien über Bord zu werfen? Zum Beispiel: Rabattverträge?
Sicher ist: Wir haben die Rabattverträge und sie haben gewirkt. Zumindest haben sie vor allem die Generika-Preise gesenkt oder stabil gehalten und müssen alleine schon deswegen zu Einspareffekten bei den Kassen geführt haben. Doch da ich erklärter Anhänger eines fairen Wettbewerbs bin, ist immer zu prüfen, ob innerhalb dieser Rabattvertragssystematik ein fairer Wettbewerb herrscht. Da auf der einen Seite große Kassen stehen, die teilweise ein Monopol – zumindest ein regionales – darstellen. Und auf der anderen kleinere, meist mittelständische Unternehmen, die im Bieterkonzert mit großen, oft multinationalen Anbietern keine Chance haben.
Sie sind also bereit, etwas weiterzudenken.
Man muss weiter denken! Damit das am Ende nicht zu einem Rückgang der Vielfalt führt. Wenn irgendwann die Kasse keine Möglichkeit mehr hat, auf andere Anbieter auszuweichen, weil sie durch die Rabattverträge der letzten Jahre kaputt gemacht worden sind, dann ist nichts gewonnen.
Hierzu gibt es ja einige Modelle, die seit Jahren diskutiert werden.
Dazu bedarf es Prüfungen im Vergaberecht und einer stärkeren Nutzung des Wettbewerbs und Kartellrechts. Und auch mehr Wahlfreiheit für Patienten im Zuge einer Mehrkostenregelung ist denkbar.
Wenn man denn wüsste, welche Einsparungen tatsächlich erzielt werden. Kann die Politik den Kassen nicht etwas mehr Transparenz verordnen?
Die Kassen müssen die Einsparungen aus den Rabattverträgen in einem dafür vorgesehenen Kontenrahmen ausweisen. Das geschieht zur Zeit aber noch mit einer erheblichen Verzögerung.
Das Gesundheitssystem braucht trotz aller Vertraulichkeit der Geschäftsgeheimnisse ein gewisses Maß an Transparenz, um Bewertungen abgeben zu können. Wenn man Daten hat, muss man damit auch umgehen dürfen. Daten und Informationen brauchen aber nicht nur Forscher, sondern auch Patienten. Wie sieht es denn mit denen aus?
Ein Ziel der neuen Gesundheitsreform ist es, gerade für Versicherte und Patienten für mehr Transparenz zu sorgen. Ein souverän und eigenverantwortlich agierender Versicherter benötigt Wissen über Krankheit und Krankheitsgeschehen sowie Informationen über seine Rechte als Patient.
Aber bisher weiß zum Beispiel nur ein winziger Bruchteil der GKV-Versicherten, wie viel ihre Behandlung kostet. So viel zum Thema Transparenz.
Stimmt. Kein Patient kann eine seriöse Preis-Leistungs-Bewertung anstellen, weil er den Preis dafür nicht kennt. Man gibt die Krankenversicherungskarte ab und wird behandelt. Es ist doch kein Wunder, dass die Versicherten oft vollkommen falsche Vorstellungen darüber haben, was ihre Behandlung wirklich kostet.
Dafür hat jeder Krankenversicherte das Gefühl, dauernd mehr in seine Krankenversicherung einzahlen zu müssen.
Wobei der Begriff „einzahlen“ das falsche Wort ist, weil die GKV ja kein Sparverein ist. Richtig ist jedoch, dass man zahlt und will, dass mit den Mitteln vernünftig umgegangen wird.
Und andererseits das Verlangen möglichst viel zu bekommen. Diese Diskrepanz behindert die eigene Selbststeuerungsfunktion, die an sich das einzig sinnvolle wäre. Wie bekommt man aber den Patienten zu mehr Selbststeuerung?
Das ist die wichtigste Frage überhaupt. Wenn man möchte, dass ein Krankenversicherungssystem gleichermaßen auf Eigenverantwortung wie auf Solidarität aufbaut, dann besteht die Kunst darin zu wissen, wo die die Grenze zwischen beiden verläuft. Will heißen: Wo liegen die Grenzen der Eigenverantwortung für mehr Effizienz, die ich abverlangen kann und muss? Und wo ist die natürliche Grenze der Solidarität? Wobei wir alle wissen, dass jeder irgendwann in eine Situation kommen kann, in der er auf Hilfe anderer – also auf die Solidarität der Gesellschaft – angewiesen sein wird.
Das aber verlangt in erster Linie einen ebenso aufgeklärten wie selbstbewussten Patienten.
Der Patient kann mit seinem Wissen eine gewisse Marktmacht ausüben, auch wenn es immer Informationsasymmetrie geben wird. Doch gerade deswegen braucht man ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis. Aber mehr Selbstbewusstsein als bisher könnte man dem Patienten schon zutrauen.
Also wäre auch eine Neufassung des HWG nötig?
So weit würde ich im Moment noch nicht gehen. Erst mal braucht der Patient möglichst gute und neutrale Informationen. Patientenaufklärung und -bildung und auch Prävention ist doch viel mehr als nur eine Rückenschule: Es muss ein Mentalitätswechsel herbeigeführt werden.
Gibt es hierfür einen aktuellen Plan, den Sie im Auge haben?
Wenn man das System als Ganzes betrachtet, dann kommt man zu folgender Lösung: Man braucht ein wettbewerbliches System und einen mündigen sowie aufgeklärten Versicherten und Patienten. Gerade deswegen haben für mich Patientenaufklärung und -bildung und auch Prävention einen so hohen Stellenwert.
Doch auch davon ist derzeit noch wenig zu spüren.
Manchmal hat man den Eindruck, dass die heutigen Angebote der Kassen eher Marketing- als richtige Präventionsmaßnahmen sind. Unsere Studien belegen, dass derzeit gerade einmal zwei Millionen Versicherte durch Präventionsmaßnahmen erreicht werden.
Was im Vergleich zu 70 Millionen Versicherten und 50 Millionen Beitragszahlern nicht gerade viel ist.
Dazu kommt, dass das meist jene sind, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben und sich solche Kurse ganz bewusst aussuchen. Die entscheidende Frage ist deshalb, wie man diejenigen für Präventionsangebote erreichen kann, die eher informations- und manchmal vielleicht auch bildungsferner sind. Ein Ansatz wäre es zum Beispiel, über Hausärzte zu agieren. Ein zweiter Ansatz wäre es, den gesamten Bereich der beruflichen Gesundheitsförderung stärker in den Vordergrund zu rücken – auch, weil es einen engen Zusammenhang zwischen beruflicher Belastung und Burn-out-Syndromen bis hin zur Depression gibt.
Das sind sicher nur zwei kleine Bausteine – aber man muss sicher irgendwo anfangen. Wenn man ja zu mehr Prävention sagt, kommt man dann nicht automatisch zu einer Prämie?
Sicher. Man muss Anreize schaffen! Meine Aufgabe ist es doch nicht nur dafür zu sorgen, dass die Gesundheitsversorgung stets gut gesichert ist, sondern auch, dass die Menschen möglichst lange gesund bleiben. Durch eigenes Wissen, durch eigene Information und vor allem durch eigenes Verhalten.
Was im Endeffekt nur das Management von Krankheit oder Gesundheit ist.
Genau deshalb muss man die richtigen Anreize schaffen – ob für Leistungserbringer oder für den Patienten. Das ist der beste Weg, um unnötige volkswirtschaftliche Kosten im Bereich der Krankenversicherung zu vermeiden. Das ist eigentlich eine wahrlich banale Erkenntnis, aber zugleich auch unglaublich schwierig umzusetzen – auch weil es in der Geschichte der Gesundheitspolitik nicht gelernt ist.
Haben Sie denn das Gefühl, dass die Leistungserbringer Transparenz überhaupt wollen?
Das auf jeden Fall. Wenn Sie von einem fairen System ausgehen können, dann wissen alle, dass gute Leistung belohnt wird und schlechte nicht. Wer dieses Grundprinzip akzeptiert, wird zum Beispiel eine anonyme Konkurrenzsituation gerne gegen eine transparente und faire Kosten-Nutzen-Bewertung eintauschen. Und wer eine echte Prozess- oder Produktinnovation anbietet, braucht doch vor einer Kosten-Nutzen-Bewertung keine Angst zu haben.
Das Problem sind die Schrittinnovationen. Die große Welt der Medizin lebt leider nicht von den ganz großen Würfen, sondern meist von vielen kleinen Fortschritten.
Genau darum gab es bisher immer Regeln, die Ausweichmechanismen nach sich zogen, die dann wiederum zu neuen Regeln führten. Was übrigens ganz gut die überbordende Bürokratie im Gesundheitssystem erklärt. Damit wäre Schluss, wenn man sich auf international anerkannte Regeln verständigen würde, wobei ich weiß, wie schwierig das ist.
Die Richtung der Kosten-Nutzen-Bewertung, die Herr Prof. Sawicki, der uns vor zwei Ausgaben im Titelinterview Rede und Antwort gestanden hat und dessen Vertrag zum 31. August dieses Jahres ausläuft, soll der Maßstab sein?
Man muss trennen zwischen der Person Sawicki und dem Institut IQWiG. Um in der Funktion des Institutleiters des IQWiG zu bestehen, muss man schon ein bestimmter Typ Mensch sein – nämlich nahezu unempfindlich gegen Kritik. Das ist fast wie das Amt eines Gesundheitsministers: Sie werden von allen Seiten kritisiert und alle sind unzufrieden, egal was sie tun. Glauben Sie mir, schon nach knapp 100 Tagen kenne ich mich damit ganz gut aus. Wenn man aber unempfindlich gegen Kritik wird, kann es manchmal sein, dass man auch unempfindlich gegen Selbstkritik wird.
Und daran ist Herr Professor Sawicki gescheitert?
Ich will zwischen Fehlern im Verwaltungsverfahren und dem Aufbau des IQWiG selbst unterscheiden, denn letzteres war eine enorme Leistung, die ich ihm persönlich hoch anrechne. Aus dem Nichts ein derartiges Institut aufzubauen und die Kosten-Nutzen-Bewertung in bestimmten Teilen schon einzuführen, dazu braucht man ein großes Maß an Durchsetzungsfähigkeit.
Sollte denn der deutsche Sonderweg in der Kosten-Nutzen-Bewertung so bleiben, wie er ist oder nicht doch besser noch einmal überdacht werden?
Das oberste Ziel muss die internationale Vergleichbarkeit sein. Den Pharmabereich kann man nicht nur national betrachten, was ein Mindestmaß an Vergleichbarkeit nach sich zieht. Je akzeptierter dann die angewandten Verfahren sind, desto einfacher wird am Ende die Kosten-Nutzen-Bewertung sein. Und wenn sich Leistung im fairen Wettbewerb lohnt, wird sich auch dieses Verfahren am Ende schneller etablieren. Dann hätten wir auch aus Patientensicht einiges erreicht. Weil dann nur noch jene Medikamente in die Kostenerstattung kommen, die tatsächlich ein vernünftiges Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen.
Und den dafür adäquaten Preis.
Natürlich. Dass sich jedes Unternehmen nach Marktzulassung einen Preis ausdenken kann, ist doch ein Unstand, den man so nur noch in Deutschland findet. Das wird sich ändern müssen.
Dafür gibt auch schon erste Ansätze der Fachverbände.
Die Verbände haben erkannt, dass dieses lukrative Geschäftsmodell auf Dauer so nicht weitergehen kann. Aus der Sicht der Politik ist ein faires System zu entwickeln. Das neue Preissystem wird sicher nicht sofort finanzielle Auswirkungen haben – aber in ein bis zwei Jahren schon. Wichtig ist, dass Einsparungen für die GKV realisiert werden, ohne Innovationen zu verhindern. Die Balance ist wichtig.
Das kann die Chance eines neuen Wettbewerbs sein.
Die Chance ist da. Am Ende will ich für ein faires System stehen, das auf lange Sicht für alle Seiten Erfolg verspricht.
Es wird auf die langfristige Verlässlichkeit ankommen, denn die fehlte bisher.
Man muss eigentlich nur die ganz normalen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft anwenden: einen fairen Wettbewerb und ein klares Ordnungssystem. Wobei sich die Politik nicht anmaßen sollte, immer alles regeln zu wollen. Wichtig sind die groben Eckpfeiler eines Systems und die notwendige Markttransparenz, im Einklang mit den richtigen Anreizen für die Belohnung von echten Leistungen und nicht für die Geschicklichkeit im Ausnutzen des Systems.
Der Weg wird das Ziel sein.
Das ist von Konfuzius sehr weise gesagt und das stimmt auch.
Haben Sie schon einen Namen für das nächste Gesetz?
Noch nicht. Der Name kommt zum Schluss. Die wichtigste Frage lautet, wie vermittle ich den Menschen, dass wir ein System auf den Weg bringen wollen, in dem alle Versicherten und Patienten am Ende sicher sein können, dass das Geld für Vorsorge und Versorgung zur Verfügung steht, statt in Ineffizienzen zu verdampfen. Wenn uns das gelingt, hätten wir mehr erreicht als alle bisherigen Reformen.
In Ihrem kürzlich vorgestellten Eckpunktepapier soll der gesamte Arzneimittelmarkt neu geregelt werden. Wie lauten die Ziele?
Wir wollen dafür sorgen, dass alle neuen und innovativen Arzneimittel sofort für die Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Aber auch, dass diese Arzneimittel in Zukunft bezahlbar bleiben. Wir brauchen endlich eine notwendige Balance zwischen Innovationsfähigkeit und Bezahlbarkeit.
Wie soll diese Balance hergestellt werden?
Wichtig ist, dass Pharmaunternehmen künftig die Preise für neue Arzneimittel nicht mehr einseitig bestimmen können, sondern mit Studien den Nutzen für alle neuen innovativen Arzneimittel nachweisen. Diese werden dann vom GBA geprüft, damit die Krankenkassen eine solide Grundlage für Preisverhandlungen erhalten.
Also in Form von selektiven Verträgen?
Die Kassen sollen in Zukunft die Preise der Arzneimittel mit den Unternehmen verhandeln. Das ist ein weiterer bedeutender Schritt zu einem patientenorientierten Gesundheitsmanagement der Krankenkassen für ihre Versicherten.
Wie soll das Procedere genau aussehen?
Die pharmazeutischen Unternehmen werden verpflichtet, schon zur Markteinführung ein Dossier zu Nutzen und Kosten einzureichen.
Im Prinzip wäre das ein ähnliches Modell wie es bereits in Schottland praktiziert wird.
Man muss ja nicht alles neu erfinden. Mit einem derartigen Dossier sollen die wichtigsten Nachweise erbracht werden, wie zugelassene Anwendungsgebiete, medizinischer Nutzen, medizinischer Zusatznutzen im Vergleich zum Therapiestandard bzw. zu Therapiealternativen, Therapiekosten, Quantifizierung der Anzahl der Patienten bzw. Abgrenzung für die Behandlung in Frage kommender Patientengruppen, Beschreibung der Anforderung an eine qualitätsgesicherte Anwendung.
Also jede Menge Inhalte der Versorgungsforschung.
Geplant ist, dass der G-BA auf Grundlage des mit den Dossiers eingereichten Fakten in kurzer Frist eine Nutzenbewertung veranlasst, die in der Regel spätestens drei Monate nach Zulassung vorliegen soll. In der Bewertung soll es zum Beispiel darum gehen, für welche Patienten und Erkrankungen ein Zusatznutzen besteht.
Was geschieht dann?
Wie in den gemeinsamen Eckpunkten vereinbart, muss das pharmazeutische Unternehmen bei Arzneimitteln mit erkennbaren Zusatznutzen mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen innerhalb eines Jahres nach Zulassung in Direktverhandlungen einen Rabatt auf ihren Abgabepreis vereinbaren – mit Wirkung für alle Krankenkassen.
Was passiert falls es keine Einigung gibt?
Dann entscheidet eine zentrale Schiedsstelle innerhalb von drei Monaten. Die Schiedsstelle setzt den Rabatt beispielsweise auf Basis internationaler Vergleichspreise fest.
Was geschieht mit Arzneimitteln ohne erkennbaren Zusatznutzen?
Arzneimittel, für die in dieser Nutzenbewertung kein Zusatznutzen festgestellt wird, sollen künftig direkt in das Festbetragssystem überführt werden. Grundsätzlich soll es darüber hinaus bei Analogarzneimitteln eine Umkehr der Beweislast geben, will heißen: Eine therapeutische Verbesserung wird nur auf Antrag des Unternehmens anerkannt. Dieses ist verpflichtet, die notwendigen Belege dazu selbst vorzulegen.
Insgesamt ein anspruchsvolles Zeitfenster, wenn man betrachtet, wie lange Nutzenbewertungen bislang dauern.
Darum wird auch das IQWiG in seiner wissenschaftlichen Arbeit gestärkt und die Verfahrensabläufe gestrafft.
Das Gesamtpaket soll ja erst zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Welche kurzfristigen Aktionen planen Sie?
Die Koalitionsfraktionen haben sich meiner Linie angeschlossen: Wir ziehen das Preismoratorium und die Erhöhung der Herstellerrabatte vor. Der Abschlag für Arzneimittel ohne Festbetrag wird von derzeit 6 auf 16 Prozent angehoben. Das bringt uns allein in diesem Jahr jeden Monat 120 Millionen Euro. Je früher wir starten können, desto besser für die Gesetzliche Krankenversicherung und damit auch für die Versicherten. <<
Das Gespräch führten MVF-Herausgeber Prof. Dr Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.