Seine Vita liest sich wie eine Rundreise durch die Schaltstellen der Macht im deutschen Gesundheitssystem: Er war Justiziar des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte (1969–1971), dann in der gleichen Funktion in der gemeinsamen Rechtsabteilung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereingigung (1971–1987), danach Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (1988–2003) und ist seit 2004 Unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 SGB V. Wenige Menschen prägten das deutsche Gesundheitssystem so wie Dr. Rainer Hess, der – wie er im Exklusivinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ sagt – noch viele Aufgaben vor sich hat.
>> Im Bericht über das Mainzer Symposium „Versorgungsforschung als Instrument der Gesundheitssystementwicklung“ (10./11. März 2006) forderten Sie, Herr Dr. Hess, dass der G-BA „evidenzbasierte Erkenntnisse“ benötige, um normative Entscheidung treffen zu können. Haben Sie denn in den vergangenen drei Jahren Ihre Daten bekommen?
Nein. Obwohl die meisten Daten zumindest zum Teil im System bereits vorhanden wären. Nur werden sie immer noch nicht in einer brauchbaren Form aggregiert, dass man damit etwas anfangen könnte.
Sie sprechen den Paragraphen SGB X 75 zur „Übermittlung von Sozialdaten für die
Forschung und Planung“ an sowie den Paragraphen 303a im SGB V, der die Bildung einer „Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz“ regelt. Oder wohl besser gesagt regeln sollte: Denn der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung sollten bereits bis zur Mitte des Jahres 2004 eine Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz bilden. Was ist seitdem geschehen?
Rechtlich wäre das Ministerium zuständig, die Beteiligten zur Ordnung zu rufen. Es kann doch nicht angehen, das Gesetze, die ins Gesetzesblatt geschrieben wurden, nicht angewendet werden. Die meisten der nötigen Daten wären vorhanden, wenn sie denn zur Verfügung gestellt würden.
Wer mit einem Kassen-Vorstand wie Dr. Johannes Vöcking (s. MVF 02/08) spricht, wird schnell zu hören bekommen, warum die Kassenszene nicht gerade darauf erpicht darauf ist, ihre Daten der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.
Die Politik hat die Kassen ganz bewusst in den Wettbewerb geschickt. Nun wundert sie sich, dass sich der von der Politik gewollte Wettbewerb negativ auswirkt. Es ist doch naheliegend, dass in einer Wettbewerbssituation individuelle Daten als Betriebsgeheimnisse betrachtet werden.
Hier wirkt sich auch die Fragestellung aus, ob Kassen nun Unternehmen oder Institutionen öffentlichen Rechts sind. Bereits Anfang der 90er Jahre hatte ja der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Unternehmensbegriff des europäischen Rechts präzisiert, nach dem für den Charakter einer bestimmten Organisation weder die Art ihrer Finanzierung noch ihre Rechtsform maßgeblich ist, sondern lediglich die Funktion, die sie wahrnimmt. Nach dieser Definition, die der EuGH derzeit überprüft, können öffentliche Einrichtungen sehr wohl Unternehmen sein, eben weil sie eine Tätigkeit ausüben, die auch Privatunternehmen ausüben könnten – was bei einer Krankenversicherung der Fall ist.
Wenn Kassen Institutionen des öffentlichen Rechts sind, die einen öffentlichen Auftrag haben, müsste der Gesetzgeber auch entsprechend der Aufgabenstellung Kriterien für die Evaluation vorgeben. Das hat man mit dem Datenpool auch getan. Dabei kann ich die Kassenvertreter durchaus verstehen, wenn sie Erkenntnisse, die sie zum Beispiel aus einem Integrationsvertrag mit einem regionalen Netz gewonnen haben, nicht veröffentlichen wollen, damit die Konkurrenz keine Vorteile daraus ziehen kann. Oder dass sie Hausarztsysteme auf eigene Kosten evaluieren lassen sollen, und dann andere die Lernkurve sozusagen umsonst beschreiten. Aber weiter bringt uns dieser Ansatz in der Versorgungsforschung nicht.
Intern werden sehr wohl entsprechende Studien durchgeführt.
Evaluiert wird, wie sie sich ein bestimmtes Instrument auf den Haushalt der betreffenden Kasse oder auf deren Versichertengemeinschaft auswirkt. Doch keine Kasse wird ihre Daten einem externen Institut zur Verfügung stellen, um damit eine allgemein gültige Studie zu erstellen, die damit Lerneffekte für alle hätte. Selbst bei DMPs, bei denen begleitende Studien gesetzlich vorgeschrieben sind, gibt es kaum externe Evaluationen. Dabei haben wir in Deutschland eine Vielfalt an Versorgungsmodellen, die über das Einzelvertragssystem praktiziert werden. Es wäre notwendig, einen breit angelegten Versorgungsforschungsansatz zu etablieren, anstatt länger mit Gesundheits-Survey-Daten des Robert-Koch-Instituts zu arbeiten. Ein solcher aus der GKV heraus aufgebauter Datenpool würde die deutsche Versorgungsforschung endlich auch in die Lage versetzen, Studien in einer ganz anderen Qualität und Breite durchzuführen. Das hätte auch zur Folge, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht mehr ein so schlechtes Bild abgeben würde.
Was wäre denn zu tun?
Man muss lediglich geltendes Recht anwenden. Wir haben eine Fülle von Abrechnungsdaten, auch wenn sie derzeit noch den großen Nachteil haben, dass sie bislang auf den Fall und nicht auf den Versicherten bezogen sind. Das ist eine Frage der Pseudonymisierung, die aber lösbar erscheint.
„Evidenzbasierte Erkenntnisse“, die Sie einfordern, benötigen eine Vielzahl an Versorgungsforschungsstudien. Reicht dafür der aktuelle und viel konzertiertere Förderungsansatz?
Das Bundesforschungsministerium (BMBF) stimmt nun seine Aktivitäten zur Intensivierung der Versorgungsforschung mit dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) ab – und auch der G-BA ist daran beteiligt. Das ist schon einmal ein Fortschritt. Das zentrale Problem jedoch, wer das Gros der nötigen Versorgungsforschungs-Studien finanzieren soll, ist über solche Förderansätze noch lange nicht befriedigend gelöst. Alleine beim G-BA bräuchten wir eine Vielzahl solcher Studien.
Auf dem letzten Kongress Versorgungsforschung des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung in Köln (16./18. Oktober 2008) wurde einmal mehr auch Ihre Forderung aus dem Jahr 2006 laut, dass bei der Finanzierung von Versorgungsforschung auch die Industrie mit einbezogen werden sollte.
Dass die Industrie hier in einer Verantwortung steht, ist sicher unbestreitbar. Wer in Deutschland ein Produkt auf den Gesundheitsmarkt bringen will, hat selbst dafür Sorge zu tragen, dass der medizinische Nutzen hinreichend belegt ist. Von daher können wir die Industrie aus dieser Verantwortung auf keinen Fall entlassen. Man muss aber auch einen Weg finden, wie man in einer gewissen Übergangszeit eine innovative Leistung im GKV-System bezahlbar halten kann, um in dieser Zeit über klinische Studien eine Evidenz erzielen zu können.
Welcher Ansatz schwebt Ihnen da vor?
Ich favorisiere begleitende Modellprojekte zur Einführung von Innovationen in bestimmten Krankenhäusern – Kompetenzzentren, wenn man so will. Denn im Krankenhaus kann nach geltendem Recht eine Innovation zu Lasten der gesetzlichen Kassen ohne vorhergehende Bewertung durch den G-BA eingeführt werden. Wenn man nun die stationäre Behandlung mit einer ambulanten Leistungserbringung koppelt, und dieses Modellvorhaben seinerseits an die Bereitschaft des Krankenhauses – das dann natürlich auch ambulant tätig sein kann – bindet, zumindest Verlaufsbeobachtungen zu dokumentieren, könnte nach einer gewissen Zeit eine Entscheidungsgrundlage geschaffen werden. Ideal wäre es natürlich, wenn in dieser Zeit eine Studie auf möglichst hohem Evidenzniveau erstellt würde, die dann entsprechende Klarheit schafft.
Wer soll das Geld geben?
Ich kann mir eine Mischfinanzierung vorstellen. Die Kassen zahlen die erbrachten Leistungen im Rahmen eines Modellprojekts nach §63 SGB V ist. Die Overheads für die Studienerstellung und Auswertung durch eine wissenschaftliche Einrichtung könnten durch BMG/BMBF-Mittel beigebracht werden. Und die Industrie muss die Restfinanzierung übernehmen, wobei es – das dürfte klar sein – keinerlei Beeinflussung seitens der Hersteller geben darf.
Das ist doch heute schon möglich.
Nur wird es zu wenig getan. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Vakuumversiegelungstherapie, die bereits vor rund zehn Jahren als Innovation in das Krankenhaus eingebracht wurde. Doch damals sah der Hersteller keinerlei Veranlassung, entsprechende Studien zu finanzieren, weil die Leistung in den Krankenhäusern abgenommen wurde – einfach so, ohne jede Evidenzprüfung. Nun wurde ein Antrag beim G-BA mit der Fragestellung eingebracht, ob man diese Therapie nicht auch ambulant durchführen könne. Das heißt aber auch, dass sie natürlich erst zur ambulanten Versorgung freigegeben werden muss. Dabei kam wieder das altbekannte Problem auf: Es gibt keinerlei Studien. Nun haben wir als G-BA eine entsprechende Studie angeregt, und die Kassen führen zur Zeit entsprechende Verhandlungen mit dem Hersteller. Doch diese Gespräche kommen nicht wirklich voran, wie man hört: Die Studie wird zur Zeit nicht durchgeführt.
Lassen Sie mich raten: Es geht sicher um die Studienbedingungen.
Richtig. Hauptsächlich stellt sich die Frage, welchen Einfluss ein Hersteller auf solche Studien nehmen darf. Dass er sie finanzieren muss, steht in diesem Bereich, in dem ein Hersteller sehr gut verdient, außer Frage. Doch daran darf doch kein Modellprojekt scheitern!
Kritiker werden auch entgegenhalten, dass derartige Modellvorhaben innovationsfeindlich sind, weil sie Innovationen erst zeitverzögert dem Gesamtmarkt zur Verfügung stellen.
Derartige Modellvorhaben beeinträchtigen nicht die Einbringung in das System. Sie bedeuten lediglich eine Konzentration auf einige Krankenhäuser. Ich finde es durchaus sinnvoll, eine Innovation in einem Modellprojekt zu prüfen, bevor es in der Breite eingeführt wird. Am Beispiel der Robot-Chirurgie wurde doch sehr deutlich, was alles passieren kann, wenn eine solche Technik ohne jegliche Evidenz eingeführt wird. Nach einigen Jahren und vielen hundert Operationen mussten die Chirurgen nämlich mit Schrecken feststellten, welche Sekundärprobleme mit dieser Technik verbunden waren, wodurch diese Technik auch schnell wieder vom Markt verschwand. Aber: Musste es überhaupt erst soweit kommen? Wäre es nicht besser, ein Verfahren auf wenige Krankenhäuser zu konzentrieren, um es erst dann in der Breite frei zu geben, wenn die Evidenz belegt ist?
Warum gibt es so wenige solcher Ansätze?
Es gibt durchaus Anträge. Allerdings haben wir bisher alle ablehnen müssen. Vielleicht waren unsere Anforderungen etwas zu hoch definiert – zugegeben. Andererseits muss man doch eigentlich erwarten können, dass eine Arzneimittelstudie vorher von der Ethik-Kommission geprüft und freigegeben wurde. Häufig werden allein schon diese Grundanforderungen nicht erfüllt. Andere Studien sind dagegen vom Ansatz her falsch angelegt, was ich in die Kategorie „Hausarbeiten nicht gemacht“ einordnen würde. Ich hoffe jedoch, dass es demnächst Anträge gibt, die wir positiv bescheiden und ausdrücklich zu Lasten der Kassen durchführen lassen können.
Demzufolge werden auch einige Studien am G-BA vorbei laufen.
Momentan wird eine solche Studie durchgeführt, die nicht über den G-BA läuft, weil wohl Bedenken bestehen, dass sie scheitern wird. Im Prinzip wäre es richtiger, derartige Studien über den G-BA laufen zu lassen. Denn es hat doch nun wirklich keinen Sinn, dass jeder Studien so macht, wie er gerade will. Studien sollten vielmehr zentral koordiniert und bewertet werden können.
Was uns zur geforderten Evidenzklasse führt. Es gibt auch für die Versorgungsforschung verschiedene Evidenzklassen, von denen – so eine zentrale Forderung – immer die höchstmögliche angewendet werden sollte, was nun mal die Randomized Controlled Trials sind. Sie forderten im eingangs erwähnten Bericht auch, dass sich Versorgungsforschung „an der Realität ausrichten“ solle. Sind RCTs denn für Sie immer und überall die conditio sine qua non?
Sind sie nicht. Wir haben in unserer Verfahrungsordnung exakte Kriterien festgelegt, die jeder nachlesen kann. Der G-BA entscheidet eben nicht nur nach der höchsten, sondern nach der höchst verfügbaren Evidenzklasse und bewertet dazu den Abstand zur höchst möglichen Evidenzklasse. Das heißt: Wir prüfen im Einzelfall, wie weit das Evidenzniveau gegenüber der höchsten Evidenzklasse abgesenkt werden darf, ohne das Risiko für Fehlentscheidungen zu hoch werden zu lassen. Jenes Delta zwischen der verfügbaren und der bestmöglichen Evidenzklasse hilft uns, das Risiko von Fehlentscheidungen beispielsweise bei Nebenwirkungen zu minimieren. So hat der G-BA zum Beispiel im Bereich der Hippotherapie nach der niedrigsten Evidenzklasse entschieden.
Es war eine Ablehnung.
Wir haben selbst noch auf dieser Evidenzklasse ablehnen müssen, weil auch hier die Effizienz nicht belegt war. Wir stoßen generell immer wieder auf Studien und Methoden, deren Evidenz nicht belegt ist. Dann müssen wir zwangsläufig eine negative Entscheidung treffen, weil der Nutzen nicht hinreichend belegt wurde und wir daher auch keine Aussage über eine etwaige Zusatzleistung treffen können. Das ist auch für uns ziemlich unbefriedigend.
Dennoch wird das IQWiG und damit auch der G-BA immer wieder nur an seinen RCT-basierten Entscheidungen wie etwa bei den Analoginsulinen oder bei Clopidogrel gemessen.
In der Arzneimittel-Versorgung ist die Forderung nach der höchst möglichen Evidenzklasse auch richtig, eben weil hier das Risiko von Nebenwirkungen enorm ist, wie einige dramatische Entscheidungen auf dem Weltmarkt auch gezeigt haben. Bei der Arzneimittel-Therapie, bei der ein chemischer Stoff in einen Menschen eingebracht wird, werde ich deshalb auch immer die höchst mögliche Evidenz fordern. Unterscheiden müssen wir jedoch zwischen Arzneimitteln, Heilmitteln und Hilfsmitteln, bei denen seitens des G-BA durchaus eine Abstufung vorgenommen wird. Wie sie übrigens auch seitens des IQWiG vorgenommen wird. Denn auch das Institut geht im Evidenzniveau entsprechend herunter, was schon das eigene Methodenpapier ausdrücklich vorsieht. Das wird nur oft vergessen oder einfach nicht wahrgenommen.
Nimmt der Bundesausschuss eigentlich nur das IQWiG in Anspruch?
Das IQWiG hat seinen Status im Gesetz und ist damit für uns der zentrale Gutachter im Rahmen der Nutzenbewertung vor allem von Arzneimitteln und medizintechnischen Verfahren. Aber bei der Festbetragsgruppenbildung arbeiten wir beispielsweise eng mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zusammen. Dieses Massenverfahren, das den Bundesausschuss jedes Quartal aufs Neue beschäftigt, würde das IQWiG überfordern.
Damit ist das IQWiG auch ein Nadelöhr.
Bis jetzt nicht. Das IQWiG soll und muss nicht alles selbst machen, sondern beauftragt seinerseits Dritte, was gerade bei der Kostenbewertung auch explizit so im Gesetz steht. Nach § 35b SBG V muss der Gutachter dazu ein eigenes Methodenpapier entwickeln, was aber bisher noch nicht abschließend vorliegt.
Weil vor allem auch ein Streit der Gesundheitsökonomen daraus geworden ist.
Einigkeit besteht zum Teil zumindest auch seitens der Gesundheits-ökonomen, dass vor allem der medizinische Nutzen zu belegen ist und erst danach eine ökonomische Betrachtung erfolgen kann. Man kann und darf eben nicht Ökonomie an die Stelle von Nutzen setzen. Damit sind wir erst bei der ersten Stufe der Diskussion: Erst wenn der Nutzen definiert und der Zusatznutzen belegt ist, kommt für mich erst die viel schwierigere Frage, wie hoch der Preisabstand sein kann und wie er gemessen wird. Hier befinden wir uns in einer noch ganz offenen Diskussionsphase.
In der die Diskussion um den QALY gescheut wird.
Das hat auch seinen guten Grund. Ich wüsste nicht, wer in Deutschland rechtssicher eine der QALY-Idee zu Grunde liegende Obergrenze definieren kann – und zwar indikationsübergreifend. Wir arbeiten beim G-BA daran, zwei oder auch mal mehrere Methoden bei ein und demselben Krankheitsbild zu vergleichen. Niemand vergleicht bisher bei uns über Indikationen hinweg. Genau das muss man aber tun, wenn man, wie etwa das NICE, festsetzen will, was eine Gesellschaft für ein zusätzliches Lebensjahr auszugeben bereit ist. Solange diese Diskussion in Deutschland nicht geführt wird, ist der QALY lediglich eine Methode, die man bei der Errechnung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses anwenden kann. Aber deswegen muss doch noch lange kein Budgetdeckel und damit einen Leistungsausschluss gebildet werden.
Auch birgt der QALY-Ansatz das Problem, wie das gewonnene Lebensjahr bewertet und in Geld umdefiniert wird.
Brauchen wir den QALY überhaupt? Gibt es nicht andere Methoden wie die Effizienz-Grenzmethode, die das IQWiG bevorzugt?
Hier widerspräche der gemeine Ökonom, indem er die Willkürlichkeit der monetären Bemessensgrundlage bemängelt, so dass es eine Innovation in einem Umfeld mit billigen Arzneimitteln oder vielen Generikas zu wenig Return bringen wird, was wiederum Innovationen verhindern wird.
Die Frage ist doch, ob der Gesetzgeber nicht das genau will. Wenn ich den § 31 Absatz 2a SGB V richtig verstehe, geht der Gesetzgeber doch davon aus, dass Schrittinnovationen nur mehr unter Höchstbetragsbedingungen zugelassen werden. Im Prinzip wird also gesagt: Eine Schrittinnovation mag zwar einen Zusatznutzen bringen, ist aber nicht so innovativ gegenüber den Standardmethoden, wodurch für sie eine Obergrenze festgelegt wird.
Der Paragraph ist demnach innovationsfeindlich.
Im Grunde ja. Der Gesetzgeber will die Industrie offenkundig dazu zwingen, Sprunginnovationen, also wirkliche Innovationen – was leider nicht so einfach funktioniert – zu produzieren, für die dann auch keinerlei Begrenzungen gelten. Wenn es zu einer Innovation nun mal keine Alternative gibt, ist auch keine Kosten-Nutzen-Bewertung möglich und zudem muss jeder Preis bezahlt werden, den das Unternehmen formuliert.
Wird denn die freie Preisbildung eine Zukunft haben?
Der Markt lässt nach wie vor eine freie Preisbildung zu. Deutschland zwingt mit seiner immer noch recht liberalen Arzneimittelpolitik die Industrie noch nicht so stark, den Zugang über ergänzende Studien zu erkämpfen. Noch sind die Arzneimittel auf den Markt und noch werden sie von den Kassen bezahlt. Aber langsam kommt auch bei der Industrie die Erkenntnis zum Tragen, eine vierte Hürde zu akzeptieren. Auch, weil es besser ist, Sicherheit am Anfang gegen eine permanente Unsicherheit im Laufe der Marktentwicklung zu tauschen. Hier stelle ich Bewegung auf Seiten der Industrie fest.
Wie sehen Sie die Stellung des G-BA?
Der G-BA ist nun einmal ein zentrales Organ, das normative Entscheidungen für 90 % aller Versicherten trifft. Ein solches Organ gibt es beispielsweise in den Vereinigten Staaten, in Frankreich oder in England nicht: Hier wird im Vorfeld seitens des NICE oder des AKS mit der Industrie verhandelt, zu welchen Bedingungen ein noch nicht gesichertes Präparat in den Markt kommen kann. Die Franzosen machen sich das ganz einfach und zahlen den Preis der Standardtherapie und zwar solange der Zusatznutzen nicht belegt ist. Das wäre bei uns der Festbetrag. Also wäre dieses System auch in Deutschland möglich, wenn der G-BA beauftragt würde à la NICE die Verhandlungen im Vorfeld zu führen, während das BfArM seine Zuständigkeit ähnlich der EMEA im Bereich des Wirksamkeitsnachweises beibehält.
Ob das besser wäre, ist die Frage. Das, was die Industrie so verunsichert, ist doch das Pooling von Macht.
Die Industrie kann nicht behaupten, sie sei dem Machtzentrum IQWiG/G-BA hilflos ausgeliefert, das einfach so über die Köpfe hinweg entscheiden würde. Jede Entscheidung wird sehr genau begründet und bewertet. Aber hier kommen wir wieder zu dem Punkt Studienlage: Ich kann und werde die Industrie, vor allem nicht die Arzneimittel-Industrie, aus ihrer Verantwortung entlassen, die Effizienz und den Nutzen ihrer Produkte beweisen zu müssen, wenn sie schon hohe Priese für ihre Produkte verlangen will und auch noch von den Kassen erstattet bekommt. Solange sie das aber nicht tut, wird sie davon ausgehen müssen, dass wir auch negative Entscheidungen treffen. Das ist die bittere Wahrheit für all diejenigen, die noch nicht einmal die Grundvoraussetzungen für eine positive Entscheidung schaffen.
Viele reden auch von einem gestörten Verhältnis.
Das ist kein gestörtes Verhältnis. Die Industrie und wir reden sogar im erheblichen Umfang miteinander – auch über deren Studienqualität. Der Kern des Problems liegt oft in der fehlenden Bereitschaft der Industrie, die entsprechenden Beweise auf den Tisch zu legen. Und wir müssen nun einmal nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten entscheiden. Punktum. Aber man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen: Die bisherigen Entscheidungen zu Arzneimitteln sind doch nur singuläre Entscheidungen, die den Arzneimittelmarkt nur minimal beeinflussen. Aber man kann doch nun gewiss nicht sagen, dass der G-BA und das IQWiG den deutschen Arzneimittelmarkt in die Knie zwingen würde. Genau das Gegenteil ist doch der Fall: Unsere Entscheidungen hinken dem Markt immer einen Schritt hinterher. Bislang reihen wir eine Einzelentscheidung an die andere, ohne letzten Endes große Auswirkungen auf die Versorgungsqualität.
Sie wollen ihre Arbeit mehr auf Versorgungskonzepte umstellen?
Wir dürfen uns nicht länger nur mit einem Präparat oder einer Technik befassen, sondern müssen ein Krankheitsbild en toto betrachten. Zuerst müssen wir uns über eine Leitlinienbewertung ein genaues Bild machen, welche Standards es für die Behandlung einer bestimmten Krankheit gibt. Auf dieser Basis muss dann das IQWiG beauftragt werden, etwaige Evidenzlücken unter Leitlinienbedingungen zu füllen. Den Anfang wird das neue Institut für Qualität machen, das in Kürze beauftragt werden wird, entsprechende Qualitätsparameter- und indikatoren zu definieren. Dann hätte der G-BA endlich die Möglichkeit, gesamthafte Versorgungskonzepte umzusetzen, das Arzneimittel, aber auch Heil- und Hilfsmittel umfasst. Das wäre endlich einmal ein konzeptioneller Ansatz. Aber auch da stehen wir in einer großen Wüste und suchen das Sandkorn, das man als erstes in die Hand nehmen kann.
Ein „Sandsturm“ kommt ab Januar mit dem Morbi-RSA auf uns zu.
Im Hinblick auf dieses Datum muss man positiv vermerken, dass es ja richtig ist, dass wir uns mit dem Morbi-RSA auch von der reinen Ökonomie verabschieden. Wenn wir auf Vergütungen umstellen, die sich sowohl im internen Zahlungsausgleich der Kassen untereinander als auch in den Vergütungsstrukturen – ob das nun ein DRG oder die ambulante Behandlung mit ihren morbiditätsorientierten EBMs ist – an der Morbidität der Versicherten ausrichten, bedeutet das einen Ausstieg aus einem rein ökonomischen Budgetdenken. Ich würde es auch als positiv betrachten, dass man den reinen Ausgleich nach Alter, Geschlecht und Versicherungsstatus auf Morbiditäten ausrichtet, was letztlich die Kassen begünstigt, die auch die höheren Risiken haben. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass solche Morbiditätsstrukturen dazu führen werden, dass man in jeder Kasse danach trachten wird, in eine möglichst hohe Morbiditätsstufe zu kommen. Wir werden also als Bürger nicht gesünder, sondern bekommen eine „krankere“ Statistik.
Was aber wie bei so vielen Einführungen von Steuerungsinstrumenten wohl so nicht vorauszusehen war.
Das ist uns Deutschen anscheinend eingegeben: Wir führen Instrumente, und seien sie noch so tiefgreifend, ein und schauen erst danach, was daraus wird. Und wenn es falsch läuft, wird gesagt: Ach, das haben wir aber gar nicht gewollt. Das machen andere Länder durchaus anders, die sich Modellprojekte und auch genügend Zeit verordnen. Aber wir führen beispielsweise DRGs ein, ohne sie vorher getestet zu haben. Nun mag das DRG für ein Krankenhaus als solches zu sehr ökonomischen Ergebnissen führen. Aber was ist mit den Patienten, die sehr viel früher entlassen werden? Die müssen doch im ambulanten Bereich weiter behandelt werden. Auch da sind wir in der Versorgungsforschung schlecht aufgestellt, weil die zur Evaluation solcher Fragestellungen nötigen Daten nicht ausgetauscht werden. Ein anderes Beispiel sind die DMPs: Wir wissen nach jetzt immerhin fünf Jahren immer noch nicht, wie sich DMPs auf die Gesamtkosten auswirken. Klar: Die Behauptung, dass das so sei, ist immer wieder zu vernehmen. Aber ist das auch tatsächlich je bewiesen worden?
Was nur die Spitze des Eisbergs wäre.
Wir haben in Deutschland über 20 verschiedene Systeme, die man gut evaluieren könnte. Dann wüsste man sehr genau, welches das Beste und Effizienteste ist. Wir hätten sogar die Datenbasis, aber führen sie nicht aggregiert zusammen. Genau darauf wird es in den nächsten Jahren ankommen. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier