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„Wir liefern die Wissensgrundlagen“

Universitäts-Professor Dr. Holger Pfaff, Sprecher des ZVFK, im MVF-Titelinterview

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.04.2008

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Die Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Holger Pfaff bilden drei miteinander verzahnte Bereiche: Versorgungsforschung, Sozialepidemiologie und Systemgestaltung. In der Versorgungsforschung, die Pfaff als Sprecher des Zentrums für Versorgungsforschung Köln (ZVFK) nach außen vertritt, steht die Analyse des Versorgungs- und Gesundheitssystems im Mittelpunkt. Nur die ist oft schwierig, da seitens der Politik noch manchmal das rechte Einsehen fehlt. Doch das sollte sich ändern, wie Pfaff im Exklusiv-Interview mit „Monitor Versorgungsforschung“ (MVF) ausführt.

>> Herr Professor Dr. Pfaff, betrachtet man die aktuelle Gesundheitspolitik, kommt das Bild eines blinden Uhrmachers in den Kopf: Er schlägt mit einem Vorschlaghammer auf ein mechanisches oder auch elektronisches Teil, dann auf ein anderes und horcht, ob sich das Geräusch des Uhrwerks verändert. Oder eben nicht. Ist das aktuelle Gesundheitspolitik?
So kann man das nicht sagen. Die Politik versucht zum Beispiel oft die Folgen von politischen Entscheidungen im Gesundheitssystem durch Gutachten abklären zu lassen. Dahinter stehen meist ausgeklügelte Rechenmodelle. Ob das immer ausreicht, um die Politikfolgen richtig abschätzen zu können, mag dahingestellt sein.

Nennen Sie das Versorgungsforschung?
Nein. Wir bewegen uns bei diesen Gutachten im Bereich der Politikfolgenabschätzung und nicht der Politikfolgenforschung. Zwischen der Abschätzung einer möglichen Entwicklung und der Erforschung der tatsächlichen Entwicklung gibt es große Unterschiede. Abschätzen tut man die Folgen einer Sache, die noch nicht vorhanden ist. Die Wirkungsforschung dagegen erforscht die Folgen eines Sachverhalts, der schon im Gesundheitssystem vorhanden ist oder gerade neu eingeführt wurde. Wirkungsforschung im Gesundheitssystem ist Teil der Versorgungsforschung.

Können Sie hierzu ein Beispiel anführen?
Bevor eine Innovation – z.B. die Gesundheitskarte – per politischen Beschluss in das Versorgungssystem eingeführt wird, sollte im Idealfall im ersten Schritt eine Politikfolgenabschätzung durchgeführt werden. Dabei geht es darum, verschiedene Szenarien über die möglichen Folgen zu entwickeln. Dazu gibt es etablierte Techniken. Danach muss im zweiten Schritt die Wirkungsforschung ins Spiel kommen. Dies kann zum Beispiel so aussehen, dass ein Modellversuch in einer Modellregion gestartet wird, der unter Realbedingungen die Folgen der Innovation beschreibt und bewertet. Dabei ist es Aufgabe der Versorgungsforschung, nicht nur die beabsichtigten Folgen zu untersuchen, sondern auch die unbeabsichtigten. Jede politische Entscheidung hat – wie wir aus der Soziologie und Medizinsoziologie wissen – immer auch unbeabsichtigte Folgen.

Egal wie gut die Absicht war.
Weitgehend. Man nennt dieses Phänomen in der Soziologie die „unbeabsichtigten Folgen absichtsvollen Handelns“. Wie bei Medikamenten gibt es auch bei Versorgungsinnovationen – wie z.B. MVZ oder IV-Netzwerken – die Möglichkeit, dass unerwünschte Nebenwirkungen eintreten. Diese Nebenwirkungen rühren meist daher, dass das Gesundheitssystem, in das man mit der Versorgungsinnovation eingreift, genauso wie der menschliche Körper sehr komplex ist. Man wird daher nur unter hohem Aufwand alle Wirkungen einer Maßnahme vorhersagen und identifizieren können. Handelt es sich bei der Versorgungsinnovation um ein ganzes Bündel von Maßnahmen, wird dies noch schwieriger, da jede Einzelmaßnahme in diesem Bündel eine eigene Wirkung entfalten kann.

Tests im Vorfeld wären doch sicher immer ein probates Mittel.
Im Bereich Gesundheit haben wir es fast immer mit komplexen Innovationen und Interventionen zu tun. Komplexe Innovationen aber müssten immer erst einmal getestet werden. Denn solche Innovationen weisen meist „Kinderkrankheiten“ auf. Diese müssen beseitigt werden, bevor es zu einer flächendeckenden Einführung des Modells kommt. Modelltests sind notwendig, um ausgereifte Versorgungsinnovationen in die Praxis zu bringen.

Das würde jedoch eine etwas andere Zeitlinie erfordern als man sie bisher beobachten kann?
Das stimmt. Dies ist nicht nur eine Herausforderung für die Politik, sondern auch für die Versorgungsforschung. Ein Modelltest, der nicht nur die Machbarkeit prüfen soll, sondern auch die Wirkung der Versorgungsinnovation, nimmt ein paar Jahre in Anspruch. Sie brauchen Zeit für die Planung des Modelltests, Zeit für die Einführung der Innovation – die sogenannte Implementierung – und Zeit, um die Kinderkrankheiten der Innovation zu erkennen und zu beseitigen. Und schließlich Zeit, um die Versorgungsinnovation wirken zu lassen und diese Wirkung dann abschließend zu messen.

Und in der ganzen Zeit kann die Politik nicht entscheiden. Also ein Aufruf zur stoischen Hinnahme dessen, was da allenthalben versucht wird?
Bei folgenschweren Versorgungsinnovationen wäre das aktive Abwarten volkswirtschaftlich unter Umständen sinnvoller als vorschnell zu handeln und eine ganze Hochleistungsgesellschaft mit unausgereiften Innovationen zu beschäftigen. Wenn man in der Politik nicht warten kann, bis Modelltests erfolgreich durchgeführt wurden, wäre es zumindest ratsam, die Wirkung der ohne Vortest eingeführen Versorgungsinnovation mittels Vorher-Nachher-Vergleich oder besser noch mittels einer randomisierten kontrollierten Studie zu untersuchen. Dies wird oft nicht systematisch oder – wie im Falle der DMP-Evaluation – zu spät gemacht. Man muss mit der Evaluation beginnen, lange bevor die Versorgungsinnovation eingeführt wird.

Im Bereich der Telematik weiß man schon seit 1999, dass sie – zumindest als ideelles Konstrukt – auf uns zukommen wird. Dennoch ist kein umfassendes System-Versorgungsforschungsprojekt dazu bekannt.
Leider nicht. Aber es gibt begleitende Implementierungsforschung im Feld. Diese wird stufenweise durchgeführt in Form von 10.000er und 100.000er Tests in sieben Modellregionen in Deutschland.

Was könnte man denn seitens der Versorgungsforschung tun, damit deren Tools besser und stringenter als bisher angewandt, ja als Basis jedweder politischen Entscheidung genutzt werden?
Versorgungsforschung an sich hat ja mindestens vier Aufgaben. Die erste ist rein messender Natur: Man muss zunächst das Gesundheitssystem und die Versorgungssituation mittels valider Messinstrumente erfassen können. In diesem Zusammenhang rücken die Methoden der Versorgungsforschung in den Vordergrund. Die zweite Aufgabe besteht darin, die Messinstrumente zu nutzen, um die Versorgungssituation adäquat beschreiben zu können. Bei der dritten Aufgabe geht es darum, die grundlegenden Zusammenhänge des Gesundheits- und Versorgungssystems zu analysieren. Ziel ist es, genau zu verstehen, wie der „Motor“, der das Gesundheitssystem ausmacht, funktioniert. Die vierte Aufgabe der Versorgungsforschung ist es, die so entwickelten Messinstrumente und die so gewonnenen Erkenntnisse der Versorgungspraxis und der Politik zur Verfügung zu stellen, damit eine fortwährende Qualitätsentwicklung stattfindet.

Ein Wissenschaftler muss schon ein dickes Fell haben, wenn man Anspruch mit Wirklichkeit vergleicht.
Auch die Wissenschaft sollte – wie andere Bereiche in der Gesellschaft auch – eine Politik der kleinen Schritte verfolgen. Man muss auch mit kleineren Erfolgen zufrieden sein. Zum Beispiel haben wir herausgefunden, dass das Leitlinienwissen der Ärzte mit dem Alter abnimmt. Wenn man dies weiß, wäre es sinnvoll, für die Zielgruppe der älteren Mediziner entsprechende Fortbildungen anzubieten. Weiter wissen wir z.B. aus der Versorgungsforschung, dass die Empathie eines Arztes in der Onkologie sich positiv auf den Heilungserfolg und die Lebensqualität auswirkt, weil sich ein „empathischer“ Arzt besser in die Situation eines Patienten hineinversetzen kann und besser als nicht-empathische Ärzte erahnt, welchen Informationsbedarf der Patient hat. Wer diesen Zusammenhang kennt, kann angehenden Ärzten entsprechende Schulungen anbieten. Dies ist nur ein kleiner Schritt im Rahmen der Qualitätsentwicklung des Gesundheitssystems. Viele solcher Schritte führen aber insgesamt zu einer deutlichen Verbesserung des Versorgungssystems.

Das ist sicher hilfreich, aber ein größerer Ansatz würde eine strukturierte Gesundheitssystemforschung voraussetzen.
Das Dilemma der aktuellen Versorgungsforschung ist, dass das Gros der Studien krankheitsbezogen ist. Was indes so falsch nicht ist, weil Versorgungssysteme krankheitsbezogen organisiert sind. Da es viele Krankheiten gibt, gibt es auch viele Möglichkeiten, Dinge zu untersuchen. Aber: Versorgungsforschung kann sich dadurch eben auch schnell verzetteln. Krankheitsübergreifende Studien, die das Gesamtsystem in den Blick nehmen, bilden eher die Ausnahme.

Sie vermissen ein strukturiertes Herangehen?
Generell wären mehr krankheitsunabhängige, systemübergreifende Studien und Forschungsansätze wünschenswert, auch wenn sie schwieriger zu realisieren sind.

Sie sehen keine positive Entwicklung in Deutschland?
Ich bin Optimist. Es wurden in Deutschland in den letzten Jahren wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen. Auch wenn Versorgungsforschung in Deutschland noch lange nicht so etabliert ist wie in Amerika. Man muss deutschen Wissenschaftlern durch gute Datenzugänge mehr Möglichkeiten bieten, die Zusammenhänge des Gesundheitssystems zu analysieren. Dann werden wir auch international in der Versorgungsforschung konkurrenzfähiger.

Obwohl man eigentlich erkennen kann, dass die Komplexität eher noch zunimmt?
Generell kann man in der Tat davon ausgehen, dass die Komplexität des Gesundheitssystems zunimmt. Die Konvergenz der internationalen Gesundheitssysteme verstärkt diesen Trend. So nimmt unser sozialstaatliches Gesundheitssystem sowohl Elemente aus der Marktwirtschaft als auch aus der Planwirtschaft auf und wird dadurch immer vielgestaltiger und komplexer.

Ein Albtraum für einen Wissenschaftler?
Nein, denn für die Wissenschaft stellt dies eher eine Herausforderung dar. Für die Politik dagegen hat die Komplexität einen Albtraum-Charakter. Die Versorgungsforschung hat die Aufgabe, den Politikern bei der Bewältigung der komplexen Aufgabe zu helfen. Ich halte mich dabei an das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft. Wir können – möglichst wertfrei – die Wissensgrundlagen liefern, entscheiden aber muss die Politik.

Politik sollte sich ganz aus Versorgungsforschung heraushalten?
Nein. Sie soll die zur Verfügung stehenden Instrumente und Techniken der Versorgungsforschung gerade in der Politikfolgenforschung besser nutzen und zudem unabhängige Versorgungsforschung fördern. Die Förderung der Versorgungsforschung gewinnt immer mehr an Schwung. Das BMBF, die Bundesärztekammer und weitere Geldgeber fördern bereits heute die deutsche Versorgungsforschung direkt und indirekt in nicht unerheblichem Maße. Und auch die DFG wird in Zukunft Versorgungsforschung stärker fördern. Also sind wir schon ganz gut unterwegs. Das Ziel allerdings haben wir noch lange nicht erreicht. Es ist ein weiter Weg dorthin.

Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.