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„Wissenschaftler müssen den Zweifel kultivieren“

Das Motto „Palliativ - Versorgung - Forschung“ des gemeinsam stattfindenden 10. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und des 13. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung waren mit Bedacht und mit einem Blick auf die Zukunft gewählt. Das verdeutlichten Prof. Dr. Edmund A.M. Neugebauer, Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) und Prof. Dr. Friedemann Nauck, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, in einem gemeinsamen „Einführungsspiel“, das – inklusive Trikottausch – ganz im Zeichen und in der Sprache der zu dieser Zeit noch laufenden Fußballweltmeisterschaft gehalten war. Dabei trug Nauck Trikot-Nummer 20 (für 20 Jahre DGP) und Neugebauer die 8 (für 8 Jahre DNVF).

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Erstveröffentlichungsdatum: 04.06.2014

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Das Motto „Palliativ - Versorgung - Forschung“ des gemeinsam stattfindenden 10. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und des 13. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung waren mit Bedacht und mit einem Blick auf die Zukunft gewählt. Das verdeutlichten Prof. Dr. Edmund A.M. Neugebauer, Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) und Prof. Dr. Friedemann Nauck, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, in einem gemeinsamen „Einführungsspiel“, das – inklusive Trikottausch – ganz im Zeichen und in der Sprache der zu dieser Zeit noch laufenden Fußballweltmeisterschaft gehalten war. Dabei trug Nauck Trikot-Nummer 20 (für 20 Jahre DGP) und Neugebauer die 8 (für 8 Jahre DNVF).

> Das Begriffspaar Palliativversorgung und Versorgungsforschung sieht Nauck als Herausforderung, in Zukunft die hospiz-palliative Arbeit so aufzustellen, dass die Gesellschaft sieht und erkennt, dass die hier Tätigen für ihre Patienten eine adäquate und gute Arbeit leisten. Dazu sei es auch notwenig, nicht nur „immer Gutmensch zu sein“, sondern noch besser zu werden. Nauck: „Und da, wo wir noch nicht gut genug sind, brauchen wir ganz dringend Unterstützung der Versorgungsforschung.“
In der Sprache des Fußballs ausgedrückt, ginge es heute und in Zukunft um Teamverstärkung. Schon heute sei die Palliativmedizin in vielen Bereichen gut aufgestellt, doch sind seiner Meinung nach vielleicht noch nicht alle Grenzen der Multiprofessionalität ausgelotet. So lauteten wichtige Fragen: „Was darf der Sozialarbeiter und was die Psychologin, was die Musiktherapeutin?“ Und: „Was macht die Krankenschwester, wenn der Arzt da ist oder nicht da ist?“ Oder: „Welche Aufgaben dürfen Ehrenamtliche übernehmen?“ Aber auch: „Warum haben wir so wenig Ehrenamtliche auf Palliativstationen?“ Nauck: „All diese Fragen sind wichtig, denn es geht um die Palliativversorgung in der bestmöglichen Umsorgung unserer Patienten.“

Mehr Forschung ins Feld der Palliativmedizin
Genau hier sieht der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin einen deutlichen Forschungs- und Klärungsbedarf. Darum hat die DGP vor zwei Jahren angefangen, eine S3-Therapieleitlinie zu schreiben, deren letzte Konsensuskonferenzen in diesem Jahr stattfinden. „Ich hoffe, dass wir Anfang 2015 unsere S3-Leitlinien vorlegen können“, erklärte Nauck, wozu aber jetzt auch mehr Forschung ins Feld kommen müsse und darum die Palliativmedizin teamverstärkt werden müsse – eben mit der Versorgungsforschung.
Den verbalen „Ball“ nahm Neugebauer gerne auf, denn „die Patientenorientierung wird in Palliativmedizin und Hospiz“ gelebt, sagte er, hier sei „wirklich die Not und der Wunsch des Patienten führend“. Dieser Fokus auf Patientenorientierung und -beteiligung sei das Prä, der die Palliativmedizin ausmache und den man auch für andere Disziplinen stärker nutzen könnte. Auch wenn der Begriff der Patientenbeteiligung oft genutzt werde, sehe die Realität doch ganz anders aus. „EBM – a movement in crisis“ wäre vor kurzem ein sehr zu empfehlender Artikel im „British Medical Journal“ überschrieben gewesen. „Warum ist das so?“, fragt Neugebauer rhetorisch, denn alle machen heute doch evidenzbasierte Medizin mit systematischen Reviews, Metaanalysen und randomisiert-kontrollierten Studien. Nur sei dieser Ansatz limitiert, erklärte der Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung. Limitiert zum Beispiel in der Art der Patienten. Denn viele Krebspatienten seien älter als 65, während die meisten Studien Patientenkollektive von 18 bis 65 einschließen würden, weil es dazu bestimmte gesetzliche Vorgaben gibt. „EBM – a movement in crisis“ drücke darum genau das aus, um das es heute geht: die Lücke zwischen Efficiency und Evectiveness. Neugebauer: „Wir versuchen mit der Versorgungsforschung den Efficiency Evectiveness Gap zu schließen und so reale EBM und damit personenzentrierte Medizin zu leben.“
Das Gesundheitssystem müsse jedoch auch versuchen, den Patienten mehr als bisher mitzunehmen, ihn so vorzubereiten, dass er in ein Gespräch mit seinem Arzt eintreten kann und die für ihn relevanten Fragen kennt und diese dann auch tatsächlich stellt. Dazu brauche es gute Patienteninformationen und evidenzbasierte Entscheidungshilfen, wozu auch in der Palliativmedizin eine hohe Forschungsbereitschaft nötig sei.
„Nicht alle lieben Forschung“, gab denn auch Nauck zu Protokoll. Sein ehemaliger Chef hätte immer wieder gesagt: „Herr Nauck, die Zahlen müssen Sie veröffentlichen, das müssen Sie aufschreiben, Sie sind zu patientenverliebt, machen Sie doch mal, schreiben Sie mal auf.“ Damals hätte er wie viele andere große Vorbehalte gehabt. „In einer schwierigen Situation, in der ein Mensch stirbt, soll ich auch noch Forschung machen? Wofür?“, hätte er sich früher gefragt, wobei er heute wisse, dass genau diese Forschung essenziell sei. Nauck: „Forschung ist deswegen wichtig, weil wir uns nur so weiterentwickeln können.“ Es reiche eben nicht aus, mit nice to have oder einem guten Vorsatz an Patienten heranzugehen und Medikamente zu verabreichen, die ihnen vielleicht gar nicht wirklich helfen. Gerade die Palliativmedizin sei für den Ansatz der personalisierten Medizin offen, weil viele hier Tätige exakt das tun: Sie nehmen einen Menschen in seiner Situation an und versuchen, für ihn das Beste zu machen. „Doch wie?“, fragt sich Nauck; nach Trial and Error? Nach dem Zufallsprinzip?

„Zweifel kultivieren“
Die von Nauck vorgebrachten Vorbehalte versteht Versorgungsforscher Neugebauer durchaus, gerade bei Menschen, die schwer erkrankt sind und dem Lebensende nahe sind. Dennoch, sagt er, müsse sich auch die Dispizlin der Palliativmedizin wissenschaftlich entwickeln, sonst stünde sie – wieder in der Sprache des Fußballs – irgendwann im Abseits. Dabei zitierte er seinen Lieblingsphilosophen Sir Karl Popper, der ihn schon ganz früh am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn gelehrt habe, dass „ein Wissenschaftler und auch ein Mediziner den Zweifel kultivieren“ müsse. Nur die „Grundhaltung sich selbst immer wieder zu hinterfragen“ könne Frage beantworten wie: „Warum tue ich das, was ich immer tue?“ Oder: „Warum tue ich das so, wie ich es immer tue?“ Bei diesen Fragen würde sich nicht nur die Palliativmedizin oder die Hospize schwer tun, sondern viele andere Fachrichtungen auch. Wer aber Antworten auf diese Fragen finden wolle, brauche es ein Team, nicht nur gute Einzelspieler und den Willen zu forschen.
„In der Palliativmedizin gibt es in den letzten Jahren immer mehr Offenheit auch Forschung gegenüber“, erklärte dazu Nauck. Doch bräuchte es jetzt das, was die BENELUX-Länder, Großbritannien, Australien und die USA vormachten: „gute Konzepte für Forschung“. Naucks ehrliche Selbstkritik: „Und uns fehlen diese Konzepte. Wir sind zu sehr mit uns beschäftigt.“ Auf der anderen Seite sei es aber auch wichtig, nicht plötzlich Forschung für das Allerwichtigste zu halten, denn das sei der Patient und auch dessen Angehörige. Daher lautet seine Forderung: „Wir müssen in allen Bereichen gut sein, nicht nur in einem Bereich.“ Der Grund für die von ihm aufgeführten Defizite sei darum nicht mangelnder Willen, sondern das noch fehlende Grundverständnis, was mit Forschungsergebnissen zu erreichen sei und wie diese übersetzt werden könnten in das tägliche Tun. Oder würde nicht viel zu oft geforscht, um Impact-Punkte zu bekommen? Oder warum so viele Publikationen in Englisch publiziert werden?
Nauck plädiert dafür, dass man den Forschungsteams klarmachen müsse, dass jede Forschung im Bereich der Palliativmedizin und im Hospiz einen Bezug zum Patienten geben müsse. Das sei umso schwieriger, als dass diese Forschung über universitäre Einrichtungen hinausgehen müsse, in stationäre, in ambulante, in teilstationäre Bereichen sowie in Hospize, die alle gemeinsam für Patienten tätig seien. Nauck: „Und wir brauchen auch longitudinale Studien, um einzelne Patienten und deren Bedarfe und Bedürfnisse wirklich analysieren zu können.“ Dies benötige eine stärkere Vernetzung der Forschung und ebenso mehr Finanzierung. Nauck: „Wir brauchen Programme der DFG und des BMBF.“ Heute sei Forschung unterfinanziert, angewiesen auf gut meinende Stiftungen. Dabei gebe es eine große Anzahl von Fragen und auch ethischer Herausforderungen: „Wer ist eigentlich der Hospizpatient?“ Und: „Wer ist der Palliativpatient, an dem ich forsche?“ Für solche und ähnliche Fragen würden die klassischen Methoden nicht ausreichen, darum sei die Palliativmedizin auf Antworten aus der Versorgungsforschung angewiesen.

„Ein Stück weit spezieller“
Die Versorgungsforschung hat diese Antworten. Denn sie ist es gewohnt, die Forschungsfelder in Bedarfsforschung – der Feststellung von subjektiven und objektiven Versorgungsbedarfen – über in die Inanspruchnahmeforschung – dem Umfang und der Qualität der Angebote, der Leistung, die in Anspruch genommen werden – in die organisationsbezogene Forschung – der Analyse und Beschaffung von Versorgungsorganisationen – und nicht zuletzt in die Versorgungsökonomie zu überführen. Neugebauer: „In der Fachgesellschaft Palliativmedizin geht es um die Output- und noch viel mehr um die Outcome- und ebenso die Lebensqualtiätsforschung.“ Dies sei durchaus ein Stück weit spezieller als in vielen anderen Fachbereichen, aber auch das Besondere an Palliativ und Hospiz. <<
von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier