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Zur Rolle der Klinischen Infektiologie

Kommentarreihe Teil 1 von Prof. Dr. med. Matthias Schrappe

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Erstveröffentlichungsdatum: 02.04.2023

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>> Man trifft nur lebende Motorradfahrer. In einem gut besetzten Konzertsaal könnten sie sogar die beste Lebenserwartung aufweisen, vielleicht weil sie aktiver und fitter sind. Aber bedacht: dies gilt nur, wenn man die in den Jahrzehnten vor unserer Konzertveranstaltung verstorbenen Motorradfahrer unberücksichtigt lässt. Für einen solchen Selection Bias gab es auch in den ersten Monaten der Corona-Epidemie ein prominentes Beispiel, nämlich die Studie zur kindlichen SARS-2-Infektiosität, die von T.C. Jones und C. Drosten am 1.5.2020 auf einem Charité-Server veröffentlicht wurde. Kinder hätten die gleiche Viruslast im Rachenabstrich wie Erwachsene, hieß es, und man folgert daraus „we have to caution against an unlimited re-opening of schools and kindergartens in the present situation“. Lässt sich diese massive Beeinflussung der Meinungsbildung wenige Tage vor der Entscheidung in der Ministerpräsidentenkonferenz am 6.5. durch diese Daten rechtfertigen? Wohl kaum, denn man konnte unter den knapp 60.000 Getesteten überhaupt nur 49 Kinder (<10 J.) mit einem PCR-positiven Rachenabstrich identifizieren (2,25% der getes-teten Kinder), während z. B. in der Altersgruppe 51-60 J. immerhin 662 Personen zu finden waren (6,25% PCR+). Man „traf nur infizierte Kinder“, die niedrige Infektionsrate bei Kindern wurde vernachlässigt.
Für beide Fälle gibt es einfache Abhilfe. So könnte man bei den Motorradfahrern die Beobachtung beim Erwerb des Führerscheins beginnen, wer lebt länger? Und bei der Kinderfrage hätte man z. B. Familien mit einem PCR-positiven Familienmitglied untersuchen können, wie sich die Weitergabe der Infektion zwischen Erwachsenen und Kindern verteilt. Dies hätte eine gute Annäherung an das Risiko ermöglicht, das von Kindern ausgeht: „Häufigkeit der Infektion x individuelle Viruslast“.
Aber die Drosten-Gruppe blieb bei ihrer Darstellung, trotz der auch international starken Kritik. Eine folgende Science-Veröffentlichung machte trotz des hervorragenden Publikationsortes alles nur noch schlimmer: keine sauber formulierte Fragestellung, keine klar formulierte Methodik ... stattdessen Formulierungen wie „we first adress a set of questions ...“ (welche?) und „a further set of temporal questions ...“ (aber welche?). Ein Desaster.
Allerdings war dies nur ein besonders kras-
ses Beispiel für die Verletzung infektions-epidemiologischer Standards während der Corona-Pandemie in Deutschland. Es ist Allgemeingut, dass man mit Häufigkeitsangaben arbeiten muss, die unabhängig von der Testfrequenz sind und sich auf repräsentative Stichproben beziehen, dass man von „Inzidenz“ nicht sprechen kann, wenn man die Stichprobe täglich ändert, dass man für klinische Ereignisse Falldefinitionen erarbeiten sollte, die den Endpunkt der Beobachtung von anderen Ereignissen abgrenzen. Und so weiter.
Natürlich gab es kritische Stimmen, z. B. aus den Reihen der sturmerprobten Krankenhaushygieniker. Denn wenn „die Hygiene“ behauptet, die nosokomialen Infektionen wären für eine bestimmte Zahl von Todesfällen im Jahr verantwortlich, was ist dann die sofortige Rückfrage, kritisch und direkt: Sind die Patienten wirklich an der Infektion verstorben oder doch an der Grundkrankheit, und wie – bitteschön – haben Sie denn den Unterschied dingfest gemacht? Man arbeitet also mit overall- und adjusted-mortality, zurechenbarer Sterblichkeit, eine Grundfrage, ohne die man sich eigentlich in diesem Feld gar nicht zu Wort melden braucht. Und wie bewältigt man diese Differenzierung zwischen „mit“ und „an“? Indem man beispielsweise mit Score-Systemen arbeitet. Eine intravenöse Katheterinfektion ist dann als Todesursache anzunehmen, wenn bspw. Fieber und Eiter an der Einstichstelle und kontinuierliche Bakteriämie und Weiteres zusammenkommen und die Grundkrankheit zum gleichen Zeitpunkt keinen Progress gezeigt hat.
So hätte man auch bei Corona verfahren müssen. Stattdessen haben wir als hochentwickeltes Land mit einem ach so vorbildlichen Gesundheitswesen bis heute keine Differenzierung der berichteten Corona-Todesfälle hinbekommen. Dieser Umstand hat seine Wurzeln weit oben im gesundheitspolitischen Gebälk, aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren: Es hat eine große Bedeutung, epidemiologische Begriffe richtig einzusetzen, denn man will damit steuern, beeinflussen: infection control, Infektionssteuerung. Dies ist die wissenschaftliche Disziplin, die angefangen von der epidemiologischen Beschreibung über die Risikofaktoren (bei nosokomialen Infektionen, z. B. die Qualität der Antibiotika-Gabe, bei Corona, z. B. Alter und Komorbidität) zu Präventionsstrategien kommt, die einen nachweisbaren und anhaltenden Effekt haben.
Und hier hat sich in den letzten Jahren wirklich Bahnbrechendes getan. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass lineare Ein-Punkt-Interventionen (z. B. die berühmte „Dienstanweisung“) keine anhaltende Wirkung haben, wurde herausgearbeitet, dass man auf Mehrfachinterventionen setzen muss. Da es sich bei Epidemien nicht um rein biologische Geschehen handelt (ein Virus, dem man den „Krieg“ erklären muss, und dessen „Killer-Mutationen“), sondern um komplexe soziale, gesellschaftliche Prozesse, muss man zu deren Bewältigung komplexe Interventionen einsetzen.
Diese „Complex Multicomponent Interventions“ (CMI) stellen auch das Grundmodell wirksamer Interventionen dar, wie sie in der Versorgungsforschung untersucht und eingesetzt werden. Die Geburtsstunde im Infection control-Bereich waren die Studien zur weitgehenden Elimination von Katheterinfektionen von Peter Pronovost und Co. in Michigan, die mehrfach dupliziert werden konnten und – immer in Abhängigkeit vom Kontext – als Goldstandard angesehen werden können.
Jetzt haben wir nur ein einziges Problem. Dies ist alles seit Langem bekannt. Wir unterrichten all das seit Jahrzehnten im Studenten-unterricht. Warum haben sich dann aus der wissenschaftlichen Community nur so wenig Wissenschaftler:innen zu Wort gemeldet und eine Korrektur eingefordert? Diese Frage wird uns alle noch lange beschäftigen, daher auch die Kommentarserie zu „Wissenschaft und Politik“, die hier ihren Anfang nimmt.<<

Literatur
Jones, T.C. et al.: An Analysis of SARS-CoV-2 Viral Load by Patient Age. Unveröff. Manuskript, 1.5.2020; Nachfolgepublikation Science 10.1126/science.abi5273 (2021)
Pronovost, P. et al.: An Intervention to Decrease Catheter-Related Bloodstream Infections in the ICU. NEJM 355, 2006, 2725-32