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Der deutsche Sonderweg in der Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen durch das IQWiG

In Deutschland wurden gesundheitsökonomische Instrumente zur Arzneimittelbewertung erstmals durch das GKV-Modernisierungsgesetz eingeführt. Grundlage dieser Wirtschaftlichkeitsabwägung von Arzneimitteln sind die internationalen Standards der Gesundheitsökonomie, die explizit im Gesetz gefordert sind. Die vom IQWiG vorgelegten Methodenentwürfe sind bislang insuffizient und unterliegen einer breiten Kritik. So unterliegt das vom IQWiG vorgeschlagene Konzept der Effizienzgrenze vielen methodischen Unzulänglichkeiten. Zudem wird der QALY als indikationsübergreifendes Nutzenmaß strikt abgelehnt. Auch entspricht die gewählte Perspektive der Versichertengemeinschaft und die enge Einbindung der Nutzenparameter nicht dem internationalen Standard. Der Vorschlag des IQWiG ist damit nicht geeignet, um die erforderlichen Handlungsanleitungen für die Durchführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen neuer Medizintechnologien zu schaffen. Ein Blick auf die internationalen Methoden, die in vielen anderen Ländern seit geraumer Zeit etabliert sind, zeigt alle notwenigen Lösungsansätze auf. Diese Lösung wird auch Auswirkungen auf die Landschaft der Versorgungsforschung haben.

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.04.2009

Abstrakt: Der deutsche Sonderweg in der Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen durch das IQWiG

In Deutschland wurden gesundheitsökonomische Instrumente zur Arzneimittelbewertung erstmals durch das GKV-Modernisierungsgesetz eingeführt. Grundlage dieser Wirtschaftlichkeitsabwägung von Arzneimitteln sind die internationalen Standards der Gesundheitsökonomie, die explizit im Gesetz gefordert sind. Die vom IQWiG vorgelegten Methodenentwürfe sind bislang insuffizient und unterliegen einer breiten Kritik. So unterliegt das vom IQWiG vorgeschlagene Konzept der Effizienzgrenze vielen methodischen Unzulänglichkeiten. Zudem wird der QALY als indikationsübergreifendes Nutzenmaß strikt abgelehnt. Auch entspricht die gewählte Perspektive der Versichertengemeinschaft und die enge Einbindung der Nutzenparameter nicht dem internationalen Standard. Der Vorschlag des IQWiG ist damit nicht geeignet, um die erforderlichen Handlungsanleitungen für die Durchführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen neuer Medizintechnologien zu schaffen. Ein Blick auf die internationalen Methoden, die in vielen anderen Ländern seit geraumer Zeit etabliert sind, zeigt alle notwenigen Lösungsansätze auf. Diese Lösung wird auch Auswirkungen auf die Landschaft der Versorgungsforschung haben.

Abstract: Health economics assessment - the German sonderweg by the IQWiG

In Germany, the use of health economic assessments for drug evaluation was introduced for the first time by the Health Modernization Act in 2007. This act explicitly demands the application of international standards of health economics as a basis for the German methodology. The methods thus far outlined and presented by the IQWiG are obviously insufficient in meeting this requirement and are widely criticized. The concept of the efficiency frontier suggested by the IQWiG is subject to many methodological deficiencies. Benefit measures across indications such as QALY are rejected. Furthermore, the chosen perspective of the community of insured patients and the close integration of the benefit parameters are not in line with international standards. As a result, the suggestion of the IQWiG is not appropriate for generating the required guidance for conducting cost-benefit assessments of new medical technologies. A look at the international methods, which have been established in many other countries for quite some time, will show all necessary approaches for deriving a solution.

Literatur

Atkins, D./Best, D./Briss, PA./Eccles, M./Falck-Ytter, Y./Flottorp, S. et al.(2004): Grading quality of evidence and strength of recommendations. BMJ 2004, 19, 328 (7454):1490. Hjelmgren, J./Berggren, F./Andersson, F. (2001): Health economic guidelines-similarities, differences and some implications. Value Health 2001, 4: 225-50. Markowitz, H. (1952): Portfolio Selection. Journal of Finance 1952, 7: 77-91. Schulenburg, J-M./Vauth, C./Mittendorf, T./Greiner, W. (2007b): Methoden zur Ermittlung von Kosten-Nutzen-Relationen für Arzneimittel in Deutschland. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2007, 12: 3-25. Schulenburg, J-M./Greiner, W./Jost, F./Klusen, N./Kubin, M./Leidl, R./Mittendorf, T./Rebscher, H./Schöffski, O./Vauth, C./Volmer, T./Wahler, S./Wasem, J./Weber, C. (2007a): Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation - dritte und aktualisierte Fassung des Hannoveraner Konsens. Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2007, 12: 285-90. Torrance, G. (1976): Toward a utility theory foundation. Health Serv Res 1976, 11: 349-69. Zentner, A./Velasco-Garrido, M./Busse, R. (2005): Methoden zur vergleichenden Bewertung pharmazeutischer Produkte. Bericht Nr. 122. 2005. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Reihe Health Tochnology Assessment. Jöckel, K.H./Kohlmann, T./Raspe, H./Wasem, J. (2007): Zentrale Schlussfolgerungen der Kommentierenden Synopse der Fachposition zur Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Fachtagung am 18. Juni 2007 und der wissenschaftlichen Klausurtagung am 7./8. November im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit 2007.

Zusätzliches

Plain-Text

Der deutsche Sonderweg in der Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen durch das IQWiG

Vor nunmehr fast zwei Jahren hat der Gesetzgeber die Grundlagen in den §§ 35b, 31 Abs. 2a sowie 139 Abs. 1 und 2 SGB V für die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln beschlossen. Seit dem 01.04.2007 kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beauftragt werden, eine Nutzen oder Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln durchzuführen. Dies gilt „für jedes erstmals verordnungsfähige Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen sowie für andere Arzneimittel, die von Bedeutung sind“.

>> Vor diesem Hintergrund hat das IQWiG einen ersten Entwurf (Version 1.0) einer „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“ konzipiert und diesen am 24. Januar 2008 der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Obgleich sich 46 Verbände, Unternehmen, Institutionen und Fachexperten durchweg kritisch zu den vorgelegten Methoden geäußert haben, legte das IQWiG am 14. Oktober 2008 eine nur in Nuancen überarbeitete zweite Fassung (Version 1.1) vor. Die einzig wirklichen Neuerungen fanden sich im Wesentlichen in den sogenannten technischen Anhängen zur Kostenbewertung, zur Modellierung und zum Umgang mit Unsicherheiten, die in zutreffender Weise Lehrbuchwissen enthalten und dadurch partiell in Widerspruch zu dem Hauptpapier stehen.
Auch die überarbeitete Fassung steht nach wie vor unter scharfer nationaler wie auch internationaler Kritik. Das Kernstück der vorgeschlagenen Methodik zur Kosten-Nutzen-Bewertung ist weiterhin die sogenannte Effizienzgrenze. Dabei beruft sich das IQWiG auf die lange Historie der Anwendung und die große Bedeutung, die dieses Konzept in der Ökonomie erlangt habe. Um aufkommende Kritik schon im Vorfeld ein Stück weit zu kontern, weist das IQWiG dabei gern auf den Nobelpreis für das 1952 entstandene Konzept von Markowitz hin. In der letzten Ausgabe des „Monitor Versorgungsforschung“ haben der Leiter des IQWiG sowie zwei Mitarbeiter noch einmal ihre Beweggründe für die Ausgestaltung der vom IQWiG festgelegten Methoden dargestellt. Aus der Sicht des Verbands der Forschenden Arzneimittelhersteller stellen sich allerdings einige Punkte nicht ganz so einfach dar, wie sie vom IQWiG vertreten werden.
Die Rolle des IQWiG
Dem vom G-BA mit der Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses zu beauftragenden Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist nicht völlig freigestellt, nach welchen Methoden es die Bewertungen vornehmen soll. Stattdessen hat das IQWiG diese „auf der Grundlage der in den jeweiligen Fachkreisen anerkannten internationalen Standard(s)… der Gesundheitsökonomie“ durchzuführen. Gerade dieser Verweis in den §§35b sowie 139a Abs. 4 SGB V ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die breite und in Teilen kontrovers geführte Diskussion zu den bisher verwendeten Methoden des IQWiG auch den Gesetzgeber erreicht und irritiert hat. Mit dem Hinweis auf die Vereinbarkeit mit den in Fachkreisen international anerkannten Standards wird ein Kriterium eingeführt, welches zumindest eine Richtschnur für die einzusetzenden Methoden gibt. Gleichzeitig eröffnet es unter Umständen die Chance zu einer stärkeren internationalen Harmonisierung der verwendeten Methoden, so wie es z. B. durch verschiedene Initiativen der Europäischen Union angestrebt wird.
Das IQWiG hätte an dieser Stelle den aktuellen Stand der Wissenschaft heranziehen können und die in zahlreichen Publikationen dokumentierten Methoden zur inkrementellen Kosten-Effektivitäts-Analyse als Basis für ihre eigenen Methoden nehmen können. Diese sind in nationalen (Schulenburg et al. 2007a) und internationalen Fachkreisen (Hjelmgren et al. 2001) akzeptiert. Insbesondere die weltweite Fachgesellschaft für Gesundheitsökonomische Evaluationen, die ISPOR, stellt mit ihrer Methodensammlung den derzeit aktuellen Stand zur Methodik der Kosten-Nutzen-Bewertung dar (ISPOR 2009). Stellvertretend sei auf die umfassende Übersicht verwiesen, die vom Deutschen Institut für Medi­zi­nische Dokumentation und Infor­mation (DIMDI) zusammengestellt wurde (Zentner et al. 2005).
Das IQWiG hat sich aber im Gegenteil dazu entschieden, diese seit langem etablierten und in Fachkreisen anerkannten Methoden nicht anzuwenden, sondern einen internationalen Beirat damit zu beauftragen, eine eigene Methodik zu entwickeln. Interessant daran ist, dass dieser Beirat zwar mit ausgewiesenen Experten der Nutzenmessung, der Modellierung oder auch des Health-Technology-Assessments besetzt wurde, jedoch nur mit einem Fachökonomen, der zudem nach kurzer Zeit aus dem Beirat zurückgetreten ist.
Im letzten „Monitor Versorgungsforschung“ sind die Gründe für ein abweichendes deutsches Methodenmodell noch einmal durch das IQWiG dargelegt worden: (1) Standards, die auf Werturteilen beruhen, (2) fehlende auf nationaler Ebene vorgegebene Ausgabengrenzen im deutschen GKV-System, (3) fehlende Prioritätensetzung und fehlende Abwägung unterschiedlicher Alternativen.
Das IQWiG akzeptiert offensichtlich, dass es internationale Standards der Gesundheitsökonomie gibt, kritisiert aber, dass diese auf Werturteilen beruhten. Nur: Was hat sich der Gesetzgeber denn dann bei dem Halbsatz „in Fachkreisen anerkannt“ gedacht? Und gilt das nicht gleichermaßen für die Evidenz-basierte Medizin? Haben nicht die aktuellen Methodenentwicklungen der EbM - wie GRADE - erkannt, wie sehr die EbM auf Werturteilen beruht, die es deshalb transparent zu machen gilt? (Atkins 2004)
Ähnlich überraschend ist das Argument, dass die internationalen Standards für Deutschland nicht gelten könnten, da nur bei uns keine national festgelegte Grenze für Gesundheitsausgaben exisitiere und somit die Gesetze der Ökonomie außer Kraft gesetzt seien, da nicht unter begrenzten Ressourcen zu entscheiden sei, sondern unter unendlichen Ressourcen. Aber gibt es de facto nicht ein Gebot der Beitragsstabilität in der GKV und haben wir nicht seit dem 01.01.2009 den Gesundheitsfonds eingeführt? Der Beitragssatz wird ausschließlich durch eine Verordnung des Bundesministerium für Gesundheit per Rechtsverordnung festgelegt (§ 241 Abs. 2 SGB V). Zusätzlich bestimmen Bundestag und Bundesrat über die Steuerzuschüsse. Was soll sich daraus anderes ergeben als eine national vorgegebene Ausgabengrenze?
Zu guter Letzt führt das IQWiG die fehlende ökonomische Prioritätensetzung bzw. fehlende Abwägung unterschiedlicher Alternativen ins Feld. Tatsächlich lässt sich darüber streiten, ob wir in Deutschland eine an zentralen Prioritäten orientierte Leistungsbewertung im Gesundheitswesen haben. Warum dies aber Auswirkungen auf die Entscheidung für oder wider die Akzeptanz der internationalen Standards der Gesundheitsökonomie haben sollte, bleibt im Dunkeln.

Das Konzept der Effizienzgrenze
Nun hat also das IQWiG – wie es selbst auch bestätigt – die Vorgaben des Gesetzgebers beiseite geräumt, und das Gesetz nach Hausmacher-Art interpretiert. Herausgekommen ist das Konzept der Effizienzgrenze, welches der Vorsitzende des internationalen IQWiG-Beirats, ein Mediziner aus den USA, dem IQWiG empfohlen hat. Das Konzept fußt auf den Gedanken der modernen Portfoliotheorie nach Henry Markowitz, die bis vor kurzem für die Zusammenstellung und Bewertung von Wertpapierdepots oder Kreditportfolios eine wichtige Rolle spielte, deren problematische Interpretation derzeit die Wirtschaft weltweit erschüttert.
Zur Bestimmung der Effizienzgrenze des IQWiG werden sämtliche existierenden Behandlungsalternativen graphisch als Punkte in einem zweidimensionalen Koordinatensystem eingetragen. Der Nutzen (Ordinate) wird dabei indikationsspezifisch und die Kosten (Abszisse) aus Perspektive der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestimmt. Durch die lineare Verbindung der einzelnen Alternativen ergibt sich graphisch die Effizienzgrenze für ein bestehendes Behandlungsfeld innerhalb einer festgelegten Indikation. Wichtig ist nun, wie das IQWiG daraus Empfehlungen für neue Behandlungsoptionen ableiten möchte: Neue Interventionen müssen mindestens genau so effizient sein, wie (1) die älteste und unwirksamste Alternative im Verhältnis zum Nichtstun (2) eine hypothetische Durchschnittsalternative aller vorhandenen Therapien oder (3) die letzte Alternative im Verhältnis zur Vorletzten. Jeweils Effizienz vorausgesetzt.
Die Fortschreibung der bestehenden Marktsituation zur Ableitung von Handlungsgrundsätzen zur Ermittlung eines Höchsterstattungsbetrages folgt scheinbar den Regelungen zum Festbetrag. Hier wird auf der Basis des Marktgewichtes eine Preisregelung abgeleitet. Dies ist aber für Märkte mit patentgeschützten Innovationen von Anfang an falsch. Denn die Effizienzgrenze postuliert, dass in einer Indikation, in der ein generischer Wettbewerb besteht, selbst maximal möglicher Nutzen nur wenige Cent kosten darf und umgekehrt.
Unabhängig von dieser grundsätzlichen Problematik weist das Konzept der Effizienzgrenze weitere methodische Unzulänglichkeiten auf. So weisen alle Punkte auf der Effizienzgrenze im Vergleich zum letzten Punkt einen geringeren Nutzen auf. Selbst unter der Prämisse, dass eine vorgeschaltete separate Nutzenbewertung nicht methodisch fragwürdig wäre, ergibt sich doch daraus, dass eine neue Intervention entsprechend dieser Dogmatik den höchsten absoluten Nutzen aller zum Vergleich herangezogenen Alternativen ausweist. Da die vom IQWiG vorgeschlagene Handlungsempfehlung jedoch nur eine Fortschreibung der Marktsituation auf der Basis der letzten zur vorletzten Intervention vorsieht, ist ein Vergleich mit Alt- und Uralt-Alternativen, die einen noch geringeren absoluten Nutzen aufweisen, sinnlos. Faktisch wird im Methodenpapier 1.1. nur eine Gerade vom „vorletzten“ zum „letzten“ Produkt gezogen bzw. verlängert. Warum die Prolongation der Steigung nun geboten erscheint, obgleich sowohl in Theorie als auch Praxis eine konkave Form der Effizienzgrenze höchst wahrscheinlich erscheint (Prinzip des abnehmenden Grenznutzens), bleibt im Methodenpapier unbeantwortet. Es sei nebenbei angemerkt, dass die Steigung dieser Geraden im Effizienzgrenzenmodell einen expliziten Schwellenwert repräsentiert, also wie viel Nutzen (Leben) der Gesellschaft wie viel Kosten wert ist.
Das vom IQWiG vorgelegte Instrument der Effizienzgrenze ist in der praktischen Umsetzung problematisch und anfällig für strategisches Handeln. Bei Alttherapien wird sich das Problem ergeben, dass sich für diese (evtl. schon sehr lange auf dem Markt befindlichen) Interventionen kein ausreichender oder sogar überhaupt kein Nutzen evidenzbasiert belegen lässt, da ein solcher Nachweis bei Zulassung bzw. Markteintritt nicht notwendig war. Ferner ist fraglich, ob auch bei einer vorhandenen Evidenzlage diese mit neueren Therapieansätzen vergleichbar ist.
Neben des Problems der Vergleichbarkeit besteht die grundsätzliche Strategieanfälligkeit bei der Prolongation der Effizienzgrenze. Eine Änderung des Verhältnisses von Nutzen zu Kosten bei der vorletzten Intervention verändert die Steigung der Effizienzgrenze und ändert damit die Aufteilung des Entscheidungsraums bei kostenträchtigeren Interventionen. Damit wird dem Hersteller der vorletzten (bzw. dritt-neuesten) Alternative eine entscheidende Rolle zuteil, um die Markteintrittsbarrieren je nach eigener Überlegung höher oder niedriger zu gestalten. Dies wird in folgender Grafik 1 deutlich. Ein solches Verfahren bzw. eine solche Rollenverteilung wirft zumindest auch einige kartellrechtliche Fragen auf, die im Methodenpapier in keiner Weise aufgegriffen oder gewürdigt werden (Abb 1.)
Das QALY-Konzept und das IQWiG
Zusätzlich zum grundsätzlichen Konzept der Effizienzgrenze beinhalten die nun insgesamt vier methodischen Papiere des IQWiG zur Kosten-Nutzen-Bewertung (Methodenpapier sowie drei technische Anhänge) weitere Einzelvorgaben, die in großen Teilen entweder der ökonomischen Theorie widersprechen, den gesetzlichen Vorgaben nicht folgen oder aber eine Alternativmeinung zum Hauptpapier darstellen.
Ein Beispiel ist der Umgang des IQWiG mit aggregierten/generischen Nutzenmaßen, einem de-facto-Standard der Gesundheitsökonomie. Zwar schließt das IQWiG den Einsatz indikationsübergreifender Nutzenmaße grundsätzlich nicht aus, jedoch wird aus den Ausführungen zum QALY-Konzept im Methodenpapier und ergänzenden mündlichen Mitteilungen klar, dass krankheitsübergreifende Vergleiche faktisch nicht gewünscht werden. Die Ablehnung des QALY-Konzeptes wird mit den bekannten und seit 40 Jahren breit erforschten Limitationen des Konzeptes begründet. Das postulierte Vorgehen des IQWiG führt allerdings bereits innerhalb einer einzelnen Indikation zu dem Problem, dass für jeden Nutzenparameter eine eigenständige Effizienzgrenze aufgestellt werden müsste. Konsistente Entscheidungen bzw. Empfehlungen an die gemeinsame Selbstverwaltung sind auf diesem Wege nur schwer möglich.
Stattdessen wird im Methodenpapier zu Recht auf die Möglichkeit der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft hingewiesen. Allerdings wird an anderer Stelle auf die fehlende Rechtsgrundlage verwiesen (Präambel, S. v-vi). Vor diesem Hintergrund bleibt es mehr als fraglich, ob die Entscheidungsträger der gemeinsamen Selbstverwaltung durch die Methodik der Effizienzgrenze in die Lage versetzt werden, indikationsübergreifend zu konsistenten und damit gerechten Entscheidungen zu kommen. Tatsächlich ist zu befürchten, dass es stattdessen zu indikationsspezifischen Quasi-Schwellenwerten kommt, die einer rationalen Entscheidungsfindung entgegenstehen.
Da folglich die Einbeziehung der Zahlungsbereitschaft nicht möglich sei, ist der Rückgriff auf noch zu entwickelnde Summenscores aus IQWiG-Perspektive folgerichtig, da anderenfalls keine eindeutige Empfehlung über den Gesamtnutzen einer Intervention möglich ist. In der gesundheitsökonomischen Literatur gibt es dazu das gut belegte Fallbeispiel der Kosten-Effektivitäts-Bewertung der chronischen Nierenerkrankung. Im Jahr 1968 haben Klarman, O’Francis und Rosenthal eine der ersten Arbeiten zur Bildung eines Summenscores zum Zwecke der Einbindung in eine Kosten-Nutzen-Bewertung vorgelegt: das so genannte QALY-Konzept. Torrance hat später auf die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten hingewiesen, welches schließlich 1987 zur Bildung der EuroQol Gruppe führte.
Das QALY-Konzept ist seit über 40 Jahren wissenschaftlich erforscht und ständig weiterentwickelt worden. Seine Stärken und seine Limitationen sind bekannt. Wer nun ohne Not mit der Entwicklung eigenständiger nicht indikationsübergreifender Summenscores beginnt, dreht das Rad um 40 Jahre zurück. Das Ergebnis wird ein dem QALY sehr ähnliches Konzept sein; ein Quasi-QALY je nach Indikation, dessen methodische Limitation möglicherweise die nächsten 40 Jahre neu geprüft werden kann.
Weitere Nutzenparameter
Innerhalb der Nutzenbewertung des IQWiG werden als Ein- und Ausschlussgründe regelmäßig nur Nutzenparameter auf der Basis der besten Evidenz akzeptiert. Da die Kosten-Nutzen-Bewertung vor dem Hintergrund realistischer Ressourcenverbräuche sowie der Wirksamkeit im medizinischen Alltag durchgeführt werden soll, müssten hier auch Nutzenparameter einbezogen werden, welche auf der Basis eines geringeren, dafür aber angemessenen Evidenzniveaus erhoben worden sind. Wenn allerdings lediglich die Studienlage entsprechend der Nutzenbewertung für die Auswahl der Nutzenparameter relevant ist, so würde dieses zu nicht unerheblichen Verzerrungen führen. Wichtige ökonomische Nutzenparameter würden hier nicht erfasst, da sie selten primärer klinischer Endpunkt von klinischen Prüfungen sind (z. B. Zeitpunkt des Übergangs ambulant – stationär, Zeitpunkt der Verschlechterung des Schweregrades etc.). Obgleich im Methodenpapier angemerkt wurde, dass die ökonomische Perspektive auch Auswirkungen auf die Nutzenbewertung haben muss, ist dazu in den generellen Methoden 3.0 nichts zu finden.
Die Perspektive der Kostenberechnung
Das Methodenpapier ist inkonsistent in Bezug auf die einzunehmende Perspektive: Während im Hauptdokument die gesellschaftliche Perspektive klar abgelehnt wird, räumt man ihr im technischen Anhang zur Kostenberechnung einen vergleichbaren Stellenwert wie der Versichertenperspektive ein. Dieser Widerspruch wird im Hauptdokument weder gewürdigt noch ausgeräumt. Dass die indirekten Kosten in Form von Produktivitätsverlusten aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auf diesem Wege ebenfalls unberücksichtigt bleiben sollen, passt nicht zur eingenommenen Perspektive der Versichertengemeinschaft. Schließlich finanzieren die Arbeitgeber die Beiträge zur Krankenversicherung paritätisch mit und haben somit ebenfalls ein berechtigtes Interesse an der Berücksichtigung von Arbeitsunfähigkeitstagen. Nicht nur aus diesen Gründen kommen auch die Autoren eines vom BMG im Jahr 2007 durchgeführten Workshops zu dem Ergebnis, dass auch Ausgabenbereiche abseits der GKV-Perspektive zu berücksichtigen sind. Aus Sicht des VFA kann dieses nur durch eine gesellschaftliche Kostenperspektive sichergestellt werden. Diese würde einerseits sämtliche Ausgabenbereiche in den fünf bestehenden Sozialversicherungen berücksichtigen (Kranken-, Pflege-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) und andererseits auch die für Arbeitgeber relevanten Produktivitätsverluste durch das Fernbleiben vom Arbeitsplatz durch Krankheit umfassen.
Ein weiterer kritischer Punkt innerhalb des IQWiG-Konzeptes stellt der zu berücksichtigende Zeitraum der Kosten-Nutzen-Bewertung dar. Soweit je Intervention nur die Kosten für die gesamte Dauer einer Erkrankung berücksichtigt werden, der Nutzen jedoch auf den in der Nutzenbewertung festgestellten Evidenzzeitraum limitiert wird, ist mit massiven Verzerrungen bei der Konstruktion der Effizienzgrenze zu rechnen. Wenn beispielsweise ein Arzneimittel zu deutlich verbesserten Überlebensraten bei schwerer Sepsis in einer Studie über 28 Tagen führt, dann würden jetzt einerseits nur bis zu 28 Überlebenstage in die Bewertung einfließen und nicht der Rest des geretteten Lebens. Andererseits würden die lebenslangen Kosten der Überlebenden als Negativsaldo des Überlebens ausgewiesen. Modellierungen sollen diese Benachteiligung durch geeignete Methoden internalisieren. Genau zu dem Zweck der wissenschaftlich begründeten Extrapolation vorhandener Evidenz, wurden Modellierungen in die medizinische und gesundheitsökonomische Entscheidungsfindung eingeführt. Wissenschaftlicher Standard ist hier, dass Modellierungen sowohl für die Kosten als auch für den Nutzen über den identischen Zeitraum durchgeführt werden.
Transparenz und Beteiligung der (Fach)Öffentlichkeit
sowie der Hersteller
In seiner Selbstdarstellung hat das IQWiG, stets ein höchstes Maß an Transparenz und Beteiligung ermöglicht. Der VFA hat aus diesem Grund bereits im Jahr 2007 in einem Gutachten einen Vorschlag für einen transparenten Bewertungsprozess vorgelegt. Ein wesentliches Element stellte dabei der auch beim NICE bekannte Scoping-Workshop dar. Ziel des Scopings ist es, die zu behandelnden Fragestellungen, die Wahl der Vergleichstherapien, die Festlegung patientenrelevanter Zielstellungen und Outcomes sowie die dazu notwendigen methodischen Rahmenbedingungen konsensual festzulegen. Auch die Forderung nach einem Scoping-Workshop wurde bereits mehrfach durch die wissenschaftlichen Fachkreise in Deutschland eingefordert, aber vom IQWiG (bislang) nicht umgesetzt.
Im Methodenpapier finden sich aber weder Aussagen zum tatsächlichen Bearbeitungs­prozess der Kosten-Nutzen-Bewertung, noch zu einem aktiven Beteiligungsverfahren. Lediglich in den Allgemeinen Methoden 3.0 wird der Prozess der Nutzenbewertung sowie die Möglichkeit der Anhörung beschrieben. Eine breite Einbindung der interessierten Öffentlichkeit, insbesondere der wissenschaftlichen Fachverbände, der Patientenvertreter als auch der Hersteller, ist im Gesetz verankert. In anderen Ländern ist die Erkenntnis bereits soweit gereift, dass zu Beginn einer Bewertung im Konsens definierte Parameter die Diskussion am Ende deutlich verkürzen.
Bedeutung für die Versorgungsforschung
Der Ausgang dieser Methodendiskussion wird auch Auswirkungen auf die arzneimittelbezogene Versorgungsforschung haben. Die Weigerungshaltung des IQWiG, die gesamte Evidenz für Bewertungen zur Kenntnis zu nehmen, wird in einigen Fällen zu Empfehlungen führen, die von den Entscheidungsgremien nicht mitgetragen werden können. Außerdem ist dies für die Akzeptanz von Studien der Versorgungsforschung nicht förderlich. Wenn die Ergebnisse grundsätzlich keine Bewertungsrelevanz haben, macht die Durchführung wenig Sinn. Dabei gibt es in Deutschland großen Bedarf an Daten über den Versorgungsalltag, auf deren Basis dann gesundheitsökonomische Analysen durchgeführt werden können. Gerade in diesem Bereich können Ergebnisse der Versorgungsforschung nicht ohne Weiteres aus anderen Ländern übertragen werden.
Fazit
Das vom IQWiG am 09.10.2008 vorgelegte und leicht überarbeitete Methodenpapier 1.1 der „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“ steht zu Recht nach wie vor unter umfassender nationaler wie auch internationaler Kritik. Zwar hat das IQWiG im Vergleich zur Version 1.0 die aus der Effizienzgrenze abzuleitenden Entscheidungszonen leicht abgeändert, allerdings entsteht dadurch nicht mehr Klarheit über die zu erwartenden Empfehlungen, sondern ganz im Gegenteil, es entsteht ein höheres Maß an Beliebigkeit und Unsicherheit.
Die beiden Aspekte der methodischen Beliebigkeit und der daraus folgenden Unsicherheit bezüglich möglicher Empfehlungen an die Entscheidungsträger bezieht sich nicht nur auf die Effizienzgrenze, sondern zieht sich durch den gesamten Text des Methodenpapiers sowie durch die nun erstmals vorliegenden technischen Anhänge. Somit verfehlt das IQWiG die Anforderung, klare Handlungsempfehlungen in Form einer eindeutigen methodischen Guidance abzugeben. Nur wenn die Autoren von pharmakoökonomischen Studien wissen, welche Kriterien Einzelstudien erfüllen müssen, um eine Kosten-Nutzen-Bewertung einzugehen, können diese auch antizipiert werden. Da dieses verfehlt wird, bleibt es bei einer methodischen Beliebigkeit, welche zulasten transparenter Ein- und Ausschlusskriterien geht. Ferner bleibt der Stellenwert der technischen Anhänge unklar: Sollen diese die Aussagen im Methodenpapier (a) erläutern, (b) ergänzen, (c) ersetzen oder (d) als Referenzpunkte dienen? Aufgrund der Heterogenität der technischen Anhänge bleiben diese Fragen unbeantwortet und sorgen eher für Verwirrung.
Im März 2007 wurde von Schulenburg et. al. ein veritables, sofort umsetzbares Konzept zur Einführung der Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland vorgelegt. Im Herbst 2007 haben etwa 80 Fachökonomen und Experten der Leistungserbringer und –träger auf grundsätzliche Prinzipien zur Durchführung von gesundheitsökonomischen Studien in Deutschland einen Konsens erzielen. Beides wurde ignoriert. Zwei Jahre später befinden wir uns weiterhin in der Sackgasse einer Methodendiskussion ohne Aussicht auf Durchbruch. Deutschland war schon 2006 das letzte Land Westeuropas, das noch keine gesundheitsökonomischen Analysen zur Bewertung medizinischer Innovationen einsetzte. Bei den anderen Ländern Europas zeigen sich die Unterschiede in den Bewertungen eher in der Tiefe und nur marginal in der Methodik - hier wird Deutschland weitgehend abweichen. Allen Ländern ist gemein, dass die Bewertung zur Information eines Entscheidungsträgers dient, in der Regel eines Ministeriums oder eines Organs der Selbstverwaltung, das dann - seine politischen Werturteile einbringend - konkret handelt. Intellektuell unzulängliche und durchschaubar manipulative Bewertungen erschweren nicht nur die Arbeit des Entscheiders, sondern schwächen die Glaubwürdigkeit des Gesamtsystems. Von daher interpretiert der VFA die besagten „internationalen Standards“ im Gesetz als Aufforderung, den jetzt schon mehrjährigen Neuerfindungsprozess des ersten Rades zu stoppen und besser mit einer Maschine zu starten, die anderswo schon seit zehn Jahren läuft und diese intelligent auf Deutschland anzupassen. Bei der Einführung der DRG in Deutschland war dies ein Erfolgskonzept. <<