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Die medizinische Versorgung hochbetagter Menschen in stationärer Pflege

Mehr als 700.000 Menschen wohnen heute bereits in Pflegeheimen; die Inanspruchnahme stationärer Pflege nimmt weiter zu. Die wenigen Erhebungen über die medizinische Versorgung in den stationären Pflegeeinrichtungen zeigen ein einheitliches Bild. Wegen der eingeschränkten Mobilität der Heimbewohner ist die fachärztliche Versorgung sehr unbefriedigend; demzufolge gibt es Defizite in Diagnostik und Therapie. Dies gilt insbesondere für die Menschen mit Demenz. In den Pflegeheimen beträgt die Quote der an Demenz erkrankten Menschen ca. 65 %. Trotzdem wird nur eine Minderheit neurologisch/psychiatrisch versorgt. Die Versorgung mit Antidementiva ist unzureichend. Das niedrige medizinische Leistungsniveau hat mehrere Ursachen und entspricht nicht dem Altersbild der Gesellschaft; es ist darüberhinaus gesundheitsökonomisch fragwürdig. Mehrere Erhebungen und Studien zeigen z.B. den reduzierten Betreuungs- und Pflegeaufwand bei gleichzeitiger Therapie mit Antidementiva („Memantine”).

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.11.2009

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Abstrakt: Die medizinische Versorgung hochbetagter Menschen in stationärer Pflege

Mehr als 700.000 Menschen wohnen heute bereits in Pflegeheimen; die Inanspruchnahme stationärer Pflege nimmt weiter zu. Die wenigen Erhebungen über die medizinische Versorgung in den stationären Pflegeeinrichtungen zeigen ein einheitliches Bild. Wegen der eingeschränkten Mobilität der Heimbewohner ist die fachärztliche Versorgung sehr unbefriedigend; demzufolge gibt es Defizite in Diagnostik und Therapie. Dies gilt insbesondere für die Menschen mit Demenz. In den Pflegeheimen beträgt die Quote der an Demenz erkrankten Menschen ca. 65 %. Trotzdem wird nur eine Minderheit neurologisch/psychiatrisch versorgt. Die Versorgung mit Antidementiva ist unzureichend. Das niedrige medizinische Leistungsniveau hat mehrere Ursachen und entspricht nicht dem Altersbild der Gesellschaft; es ist darüberhinaus gesundheitsökonomisch fragwürdig. Mehrere Erhebungen und Studien zeigen z.B. den reduzierten Betreuungs- und Pflegeaufwand bei gleichzeitiger Therapie mit Antidementiva („Memantine”).

Abstract: Medical Care of elder people with dementia in nursing homes

More than 700,000 people already live in nursing homes; ever more are availing themselves of inpatient care. The few surveys that have been carried out in inpatient care institutions show a homogeneous picture: due to the limited mobility of home residents medical care from specialists is most unsatisfactory, with resulting deficits in diagnosis and therapy. This applies particularly to people with dementia. About 65% of people in nursing homes suffer from dementia. But only a minority receive neurological/psychiatric care. Medication with anti-dementia agents is inadequate. The low level of medical services provided has a number of causes and does not correspond to the age spread in society. It is also dubious in terms of health economics; for example, several surveys and studies have shown reduced expenditure on care and nursing, and concomitant therapy with anti-dementia agents (memantine).

Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen (Vierter Altenbericht), Berlin 2002 GEK- Pflegereport 2008, Schwäbisch-Gmünd von der Schulenburg, J. M.: Vortrag „Ökonomische Aspekte der Demenztherapie“; Workshop „Die Arzneimittelversorgung Dementer unter den Bedingungen der aktuellen Gesetzgebung“ des Zukunftsforums Demenz, Oberursel, 16. März 2002 Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflegeweiterentwicklungsgesetz), Bundesanzeiger Nr. 20 vom 30. Mai 2008 Hay, J. WQ. (1997): Archives of Neurology, 54 (6), S. 687 - 693 Hallauer, J.; Bienstein, C; Lehr, U; Rönsch, H.: SÄVIP- Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen, Hannover 2005 Kotek, H.: Acht Jahre „Berliner Projekt“ in der stationären Pflege – hohe Qualität, weniger Kosten, in: Demenzbehandlung in Pflegeheimen – Wirklichkeit, Chancen und Grenzen; Dokumentationsband 16 des Zukunftsforum Demenz, Hrsg.: Füsgen, I; Hallauer, J.F., Wiesbaden 2006 Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V.: 2. Bericht des MDS nach § 118 Abs. 4 SGB XI, Qualität in der ambulanten und stationären Pflege, Essen 2007 Oberender, P. (2000): Demenz – eine gesellschaftliche Herausforderung, Pharm. Ind. 2000 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Hrsg.) (2005): Sachverständigen-Gutachten „Koordination und Qualität im Gesundheitswesen“, Kapitel V Sauerbrey, G.: Pflege und medizinische Versorgung alter Menschen in Pflegeheimen – Verantwortung in mehreren Händen, in: Gesellschaftspolitische Kommentare, Bonn, 46, 6/2005 Wimo. A. et al.: resource utilization and cost analysis of Memantine in patients with moderate to severe Alzheimer’s Disease. Pharmacoeconomics 21 (5): 327 – 340, 2003

Zusätzliches

Plain-Text

Die medizinische Versorgung hochbetagter Menschen in stationärer Pflege

Neben der systembedingten Schnittstellen-Problematik zwischen der gesetzlichen Kranken- und der gesetzlichen Pflegeversicherung (Vollkasko-Versicherung versus Teilkasko-Versicherung) gibt es auch am jeweiligen Ort der Leistungserbringung konkrete Effizienzreserven zwischen Medizin und Pflege. Dies gilt insbesondere für die Hochbetagten und die Menschen mit Demenz, die in Pflegeheimen wohnen. Mehrere Erhebungen und Analysen zeigen, dass die fachärztliche Versorgung im Bereich der stationären Pflege völlig unzureichend ist und entweder die Allgemeinmediziner mit den Versorgungsproblemen alleine gelassen werden oder die Fachärzte nur selten von den Hausärzten angefordert werden. Die Defizite in der Strukturqualität haben direkte Auswirkungen auf die Prozessqualität. Dies führt auch dazu, dass bestehende Wirtschaftlichkeitsreserven in diesem Sektor nicht mobilisiert werden.

>> Der Gesetzgeber hat versucht, mit dem GKV-WSG die Problematik abzubauen (Pflegeeinrichtungen können in die integrierte Versorgung einbezogen werden, geriatrische Rehabilitation wird zur Pflichtleistung), jedoch wurde mit diesen Initiativen das strukturelle Problem nicht beseitigt. Ökonomische Anreize reichen nicht aus, damit eine gute ambulante, auch fachärztliche Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen erbracht wird.
Die Heimträger müssen motiviert werden, mit lokalen Ärztenetzen zu kooperieren, um Krankenhauseinweisungen und Fahrtkosten zu vermeiden. Die beiden sozialen Sicherungssysteme – gesetzliche Kranken- und gesetzliche Pflegeversicherung – stellen für die hochaltrigen Patienten, insbesondere die Patienten mit Demenz, eine besondere Herausforderung dar. Inzwischen beziehen ca. 2 Mio. Menschen Leistungen aus der 1995 gegründeten Pflegeversicherung – davon 1,4 Mio. Menschen für ambulante Pflege und 600.000 Menschen für stationäre Pflege.
Formal sind die beiden Säulen – Krankenversicherung/Pflegeversicherung – getrennt; nicht jedoch faktisch. Jede Krankenkasse muss auch eine Pflegekasse einrichten – die gesetzliche Krankenkasse gestaltet ihre Leistungen nach dem Bedarfsprinzip (wie eine Vollkasko-Versicherung), die Pflegekasse nach dem Budgetprinzip (Teilkasko-Versicherung).
Für die Krankenkasse ist der Beitragssatz immer ein entscheidender Wettbewerbsparameter gewesen, das gilt auch nach Einführung des Gesundheitsfonds: Die gesetzliche Krankenkasse will die Zusatzprämie verhindern, deshalb sind trotz Morbi-RSA keine wesentlichen Anreize gegeben, Pflegekosten zu vermeiden, denn Defizite in der Pflegekasse werden kassen- und kassenartenübergreifend ausgeglichen.
Deshalb hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Mai 2005) empfohlen, auch die Pflegeversicherung wettbewerblich auszugestalten, um Wirtschaftlichkeitspotenziale zu mobilisieren. Wörtlich kommt der Sachverständigenrat zu diesem Urteil:
„Die Krankenkassen handeln entsprechend ihrem Anreizsystem rational, wenn sie alle Kosten und Leistungen, die in den Grenzbereich zwischen Krankheit und Pflegebedürftigkeit fallen, in die Pflegeversicherung verschieben.“
Dieser abstrakte System-Konflikt stellt sich im Versorgungsalltag bei den Menschen dar, die sich im Graubereich zwischen Medizin und Pflege befinden – dies betrifft Menschen mit Demenz, insbesondere soweit sie in Pflegeheimen wohnen.

Medizinische Versorgung im Bereich der stationären Pflege
Die Zahl der Heimplätze für vollstationäre Pflege ist in der Zeit zwischen 1999 und 2005 von ca. 630.000 auf fast 740.000 gestiegen. Die Plätze werden in ca. 10.500 Heimen vorgehalten. Diese Dynamik wäre ohne die Eigenständigkeit der Pflegeversicherung nie denkbar gewesen; umso wichtiger ist es, den Schnittstellenbereich zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung zu beleuchten.
Insbesondere die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflegeweiterentwicklungsgesetz) hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass Themenbereiche wie Pflegequalität, Pflegekosten und Pflegenotstand im Fokus standen. Die medizinische Versorgung in den Pflegeeinrichtungen war dabei weitgehend ausgeblendet – zu Unrecht.
Zwei Erhebungen/Reports haben die Thematik der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen beleuchtet:
SÄVIP-Studie

Die SÄVIP-Studie (Hallauer, J. et al.[2005]) basiert auf einer Fragebogen-Erhebung, mit der Angaben zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen bei den Pflegedienstleitungen ermittelt wurden. 800 Pflegeheime haben sich an dieser Befragung beteiligt, auf die insgesamt 65.000 Pflegeplätze entfallen (10,6 % der Grundgesamtheit).
GEK-Pflegereport 2008
Die Datenbasis des GEK-Pflegereports fußt auf den Routinedaten der Jahre 2004 und 2005 der Gmünder Ersatzkasse; einbezogen in den Report waren alle GEK-Versicherten, die am 31. Dezember 2005 60 Jahre und älter waren und mindestens eine Episode mit einer stationären Pflege hatten.
Die methodische Besonderheit des Reports liegt darin begründet, dass die erbrachte medizinische Leistung getrennt gemessen wird, je nachdem, ob der Versicherte in einer stationären Pflegeeinrichtung oder durch häusliche Pflege versorgt wird bzw. noch ohne Leistungen aus der Pflegeversicherung auskommt.
Diese methodische Vorgehensweise ermöglicht neue Erkenntnisse insofern, als auf diese Weise Interdependenzbeziehungen zwischen medizinischer und pflegerischer Leistung offengelegt werden, je nachdem, wo und ob eine Pflegeleistung erbracht wird.
Mobilität der Heimbewohner
Ein zentraler Untersuchungsgegenstand der SÄVIP-Studie ist die Mobilität der Heimbewohner; die verschiedenen Mobilitätsgrade wurden wie folgt festgestellt (Abb.1):
Damit sind fast 30 Prozent der Heimbewohner so mobil, dass sie auch Versorgungsangebote außerhalb des Heimes wahrnehmen könnten. Allerdings reduziert sich die Möglichkeit, Ärzte außerhalb des Heimes aufzusuchen, durch weitere Einschränkungen, z.B. durch Inkontinenz.
Arztbesuche außerhalb des Pflegeheims: Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass nur ca. 19 Prozent der Heimbewohner Ärzte außerhalb des Heimes aufgesucht haben (s. Abb. 2).
Auch bei gegebener Mobiliät muss der Arztbesuch begleitet werden – die Begleitung erfolgt in der Regel durch das Personal des Heimes.
Arztbesuche im Heim: Bei über 80 Prozent der Bewohner in Pflegeheimen muss der Arztbesuch im Heim veranlasst werden. Die SÄVIP- Studie untersucht, wer und in welchem Umfang die Arztbesuche im Heim veranlasst.
Die Befragung zeigte mehr als deutlich, dass die Arztbesuche fast ausschließlich vom Heimpersonal ausgelöst werden – zu fast 99 Prozent, fast nie vom Angehörigen bzw. Betreuer (siehe Abb. 3).
Die faktische Steuerung der medizinischen Versorgung durch das Pflegeheim ist nicht unproblematisch, denn die Übernahme dieser Aufgabe ist rechtlich ungeregelt und unterliegt auch keiner Qualitätskontrolle. Andererseits ist zu hinterfragen, welche Verantwortung die Betreuer angesichts dieser Zahlen übernehmen, von denen 70 Prozent Familienangehörige und ca. 30 Prozent anderweitig bestellte Betreuer sind.

Träger der ärztlichen Versorgung im Heim: Der Sicherstellungsauftrag der KVen in der ambulanten ärztlichen Versorgung, zu denen auch die Pflegeheime gehören, spiegelt sich in der sehr hohen Beteiligung niedergelassener Ärzte an der Pflegeheimversorgung wieder; angestellte Heimärzte oder mitversorgende Krankenhäuser spielen in der Versorgung nur eine Rolle zwischen 5 und 10 Prozent (siehe Abb. 4).
Besuchshäufigkeiten verschiedener Arztgruppen im Heim: Ein Untersuchungsgegenstand beider Studien war die Frage, in welchem Umfang welche Facharztgruppen an der Heimversorgung beteiligt sind; hier zeigt sich ein sehr differenziertes Bild; vereinfachend hält die SÄVIP-Studie fest: Die Allgemeinmediziner tragen die Hauptlast der medizinischen Versorgung in Pflegeheimen und leisten dies mit einer hohen Besuchsfrequenz, während sehr relevante Facharztgruppen wie z.B. Gynäkologen, HNO-Ärzte, Psychiater (siehe Abb. 5) und Orthopäden teilweise nur sehr unzureichend in den Häusern vertreten sind.
Die Abb. 5 zeigt beispielhaft: ca. 23 Prozent der Heime erfahren während eines ganzen Jahres keinen einzigen Besuch eines Psychiaters (ein Heim hat im Durchschnitt 80 Betten). Die Quote dürfte noch wesentlich höher liegen, da bei 20 % der Heime keinerlei Angaben gemacht wurden.
Der GEK-Pflegereport analysiert insbesondere die Zahl der Arztkontakte in den Pflegeheimen und vergleicht diese mit den Patienten, die ambulante Pflege in Anspruch nehmen bzw. ohne Pflegeleistungen auskommen; hierbei wird unterschieden zwischen der allgemeinärztlichen und der fachärztlichen Versorgung; zwei Aspekte sind generell auffallend:
• Die Zahl der Arztkontakte ist bei den in Pflegeheimen versorgten Patienten deutlich höher, und dies gilt für sämtliche Arztkontakte.
• Mit zunehmendem Alter nehmen die Arztkontakte sowohl der ambulant als auch der stationär versorgten Patienten ab.
SÄVIP-Studie und GEK-Report bestätigen, dass die allgemeinärztliche Versorgung ausreichend ist; der GEK-Report hat 3,6 bis 4 Arztkontakte bei den Frauen pro Jahr und 3,9 bis 4,6 Arztkontakte bei den Männern pro Jahr festgestellt, differenziert nach der jeweiligen Altersgruppe. Diese Kontaktfrequenz stellt alles andere als den Ausdruck einer Überversorgung dar, aber dahinter verbirgt sich letztlich wenigstens ein Arztkontakt pro Quartal.
Angesichts der erdrückenden Demenzproblematik in den Pflegeheimen ist die Zahl der Arztkontakte bzw. der Behandlungsfälle aus den entsprechenden Facharztbereichen von besonderem Interesse. Auch die Zahl der Facharztkontakte/Behandlungsfälle (Neurologie/Psychiatrie) liegt in den Heimen über dem Niveau mit ambulanter Pflege versorgten Patienten, aber die absolute Zahl der Kontakte ist unbefriedigend.
Mit zunehmendem Lebensalter der Heimbewohner nimmt auch die Zahl der Behandlungsfälle aus dem Bereich der Neurologie/Psychiatrie deutlich ab, obwohl das dominierende Krankheitsbild (demenzielle Erkrankung) mit dem Lebensalter korreliert und das bei einer Demenzprävalenz von rund 70 Prozent in den höheren Altersgruppen unter den Pflegeheimbewohnern.
So reduziert sich über die steigenden Alterskategorien der Patienten die Frequenz der Behandlungsfälle mit Facharztkontakt (Neurologie/Psychiatrie) in stationärer Pflege von 1,9 auf 1,1 pro Versichertenjahr (siehe Abb. 6).
Im GEK-Pflegereport wird die Zahl der Arztkontakte wie folgt bewertet: „Während das Ausmaß der allgemeinärztlichen Versorgung noch als knapp ausreichend gewertet werden kann, gibt es bei einigen Facharztgruppen Anlass, eine Unterversorgung zu vermuten; bei Internisten und Neurologen/Psychiatern wird das definierte absolute Sollmaß nicht erreicht“ (siehe Abb. 7) – und die neurologisch/psychiatrische Versorgung als problematisch angesehen.
Die Versorgung mit Antidementiva
In der Erhebung der SÄVIP-Studie werden die demenziellen Erkrankungen mit einer Prävalenz von 53,4 % angegeben; empirische Studien zur Häufigkeit der Demenz in Heimen, bei denen die Heimpopulationen entsprechend untersucht wurden, weisen für Deutschland höhrere Prävalenzwerte aus (60 - 65 %); die geringere Einschätzung durch die Pflegedienstleitungen ist ein Hinweis auf die oft fehlende Diagnose der Demenz als Krankheit im Heim.
Trotz der in der SÄVIP-Studie angegebenen Demenz-Prävalenz von nur 53,4 % liegt der Bewohner-Anteil mit Demenzmedikation bei nur 19,5 %; in 36 % der Heime erhalten weniger als 10 % der Bewohner Antidementiva; in 50 % der Heime werden weniger als 15 % der Bewohner spezifisch medikamentös versorgt (siehe Abb. 8 aus SÄVIP).
Der GEK-Pflegereport kommt zu dem Ergebnis, dass häuslich gepflegte Personen „bedeutend“ mehr Antiparkinsonmittel und Antidementiva erhalten: „Bei Kontrolle der Erkrankungen erhalten Pflegebedürftige in stationärer Pflege allerdings signifikant weniger Antidementiva als Pflegebedürftige in häuslicher Pflege und als nicht Pflegebedürftige.“ (siehe Abb. 9).
Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss: „Die – auch bei Kontrolle des Krankheitsspektrums und hier insbesondere der Demenz – geringere Menge an verordneten Antidementiva in Pflegeheimen können dagegen als Unterversorgung interpretiert werden. Die im Vergleich zu nicht Pflegebedürftigen geringeren Verordnungen sind umso auffälliger, als die Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege signifikant mehr Antidementiva erhalten als nicht Pflegebedürftige.“
GEK-Report und SÄVIP-Studie unterscheiden sich zwar in ihrer Erhebungsmethodik, kommen aber zu demselben Ergebnis: Es muss vermutet werden, dass vielerorts die medizinische Versorgung in Heimen nicht ausreichend ist. Auf der einen Seite sind insbesondere Bewohner von Pflegeheimen in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, Ärzte in ihren Praxen aufzusuchen oder den „Hausbesuch“ im Heim anzufordern, andererseits glauben die Angehörigen vielfach, dass die Verantwortung für die ärztliche Versorgung dem Heim obliegt, das die freie Arztwahl der Bewohner zu beachten hat.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung, zu denen auch die Pflegeheime zählen – aber ein Arzt oder auch Facharzt, der nicht gerufen wird, kann auch nicht kommen, und der MDK prüft primär die Qualität der Pflege und ob die Institution Pflege die ärztliche Anweisung umgesetzt hat, er prüft aber nicht, ob die relevanten Arztgruppen in der notwendigen Frequenz die Heimbewohner versorgt haben. Diese komplizierte Versorgungsverantwortung ist hinderlich bei einem Fortschritt im Bereich der medizinischen Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen.
Qualität in der stationären Pflege
– zweiter Bericht des MDS
2007 erschien der zweite MDS-Qualitätsbericht, der die Qualitätsberichte der einzelnen Medizinischen Dienste der Krankenkassen zusammenfasst.
Da das Vorläuferpapier – der erste Qualitätsbericht – in 2004 erschienen ist, ermöglichen die Analysen, eine Qualitätsentwicklung auf breiter Basis zu beurteilen.
Analysiert man die wesentlichen „Problemzonen“ in stationären Pflegeeinrichtungen, so ergaben sich folgende Veränderungen zwischen dem ersten und dem zweiten Qualitätsbericht:
Verbesserung bei Dekubitus-Prophylaxe, Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme sowie bei der Inkontinenz-Versorgung, keine Verbesserung hingegen bei der Versorgung der gerontopsychiatrischen Patienten (siehe Abb. 10)
Auffallend ist, dass es nur bei dem Pflegeproblem der gerontopsy.chiatrischen Erkrankungen keinen Fortschritt im Bereich der stationären Pflege gegeben hat; übrigens im Gegensatz zur ambulanten Pflege, bei der eine angemessene Versorgung bei Personen mit gerontopsychiatrischen Beeinträchtigungen zu 73,9 Prozent im Jahre 2006 gegenüber 67,3 Prozent im Jahre 2003 gezeigt wurde.
Es überrascht nicht, dass insbesondere bei den gerontopsychiatrischen Beeinträchtigungen die Verbesserung der Pflegequalität ausbleibt, insbesondere nicht, wenn wichtige fachärztliche Disziplinen in den Pflegeheimen nicht präsent sind; dieses Defizit kann nicht durch die „Pflegesäule“ kompensiert werden, die durch ein Verhältnis von 52 % Fachkräften und 48 % Hilfskräften geprägt ist.

Berliner Projekt – eine Alternative mit
gesundheitsökonomischer Perspektive
Ausgangspunkt des „Berliner Projektes“ war eine Westberliner Besonderheit vor über 30 Jahren: Seit Mitte der 70er Jahre gab es dort Krankenheime und Krankenhäuser mit Abteilungen für chronisch Kranke. Mit Einführung der Pflegeversicherung sollten diese Häuser und Abteilungen in stationäre Pflegeeinrichtungen umgewandelt werden – ohne Ärzte und Therapeuten.
Damit drohten damals für ca. 7.500 Patienten in 67 Einrichtungen Versorgungsdefizite. Denn die Mehrheit der niedergelassenen Vertragsärzte sah sich außerstande, die medizinische Versorgung durchgehend zu übernehmen.
Das „Berliner Projekt“ war die gefundene Antwort und eine bis heute währende Übergangslösung, an der ca. 40 stationäre Pflegeeinrichtungen mit 5.000 Patienten (von insgesamt 284 stationären Pflegeeinrichtungen in Berlin) teilnehmen.
Dies sind die Eckpunkte des Berliner Projektes:

Die Pflegeheime können mit angestellten oder mit niedergelassenen Ärzten die medizinische Versorgung sicherstellen, dafür gelten folgende Grundsätze:
• Die Ärzte stellen eine „Rund-um-die-Uhr-Versorgung“ sicher.
• Einmal wöchentlich finden ärztliche Regelvisiten statt.
• Fallbesprechungen in interdiszipl. Teams gibt es 1 x im Quartal.
• Verpflichtung zur Teilnahme an Qualitätszirkeln.

Die Finanzierung erfolgt über Pauschalen pro Bewohner:
• 818 Euro für die ärztliche Grundversorgung pro Patient u. Jahr
• zusätzlich eine fiktive morbiditätsorientierte Pauschale für
veranlasste Leistungen
• 385 Euro für die therapeutische Betreuung (Heilmittel)
• 684 Euro (ausgewählte Heilmittel)

Die Pauschalen fließen bei angestellten Ärzten an das Pflegeheim, bei niedergelassenen Ärzten an die KV.
Die behandelnden Ärzte profitieren von dem Projekt durch eine doppelt so hohe Honorar-Kopfpauschale. Für die morbiditätsorientierte Pauschale für veranlasste Leistungen (Arzneimittel, KH, Fahrtkosten) wird ein Zielwert definiert, flankiert mit einem Bonus-Malus-Konzept.
Ökonomisch imponiert das Berliner Modell insofern, als insbesondere Krankenhaus-Einweisungen in den nicht beteiligten Einrichtungen ca. 2,5 mal so häufig sind (siehe Abb. 11).
Dass in den Projekteinrichtungen mit deutlich weniger Krankenhaus-einweisungen dies die Lebensqualität der Heimbewohner erheblich begünstigt, ist offenkundig.
Die erhebliche Reduzierung der Krankenhauseinweisungen sowie der Fahrtkosten hat wesentlich zu dem guten ökonomischen Ergebnis des Berliner Modells beigetragen (siehe Abb. 12).

Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz

Der Gesetzgeber hat die Problematik in den Heimen erkannt, aber die Maßnahmen greifen nur in engen Grenzen:
• So werden Pflegeheime zur vertragsärztlichen Versorgung dann ermächtigt, wenn eine ausreichende ärztliche Versorgung der Pflegeheimbewohner nicht durch einen
• angestellten Heimarzt, der geriatrisch fortgebildet sein muss,
• oder durch niedergelasssene Ärzte im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V, nach § 73 c SGB V oder nach § 140a SGB V sichergestellt ist.
In der Begründung zu dem Artikel 5 des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes heißt es folgerichtig: „Die Pflegekassen sollen darauf hinwirken, dass stationäre Pflegeeinrichtungen Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten eingehen oder eigene Heimärzte einstellen.“ Diese Vorstellung ist unrealistisch, die vergleichsweise kleinen Pflegekassen sind überfordert, die deutlich größeren Krankenkassen zu steuern.
Die Umsetzung dürfte sehr schwierig sein, weil für einen Heimarzt (durchschnittliche Heimgröße 50 – 100 Betten) die ökonomische Basis zu schmal ist und die speziellen Versorgungsverträge nach § 73 b und c SGB V und nach § 140a SGB V der jeweiligen Zustimmung des Versicherten bedürfen, und dies dürfte bei Hochaltrigen problematisch sein.
Pharmaökonomische Bedeutung antidementiver Therapie
Zwei gesundheitsökonomische Aspekte fallen in der Versorgung der Menschen mit Demenz auf:
• der hohe Anteil von Pflege- und Betreuungskosten an den Gesamtkosten. Im fortgeschrittenen Alzheimer-Stadium - also im MMSE- Bereich von 0 bis 10 – ist der Pflegeaufwand so hoch, dass alle anderen Leistungsbereiche absolut und relativ kaum noch von Bedeutung sind, wie z.B. Diagnosekosten, ambulante Therapiekosten, Medikationskosten, stationäre Kosten; Graf von der Schulenburg beziffert den Kostenanteil, der durch diese übrigen Leistungserbringer verursacht wird, mit ca. 5 %.
• die ausgeprägte Linearität zwischen dem Schweregrad der Erkrankung und den Pflegekosten; so hat Hay gezeigt, dass bei einem MMSE- Ausgangswert von 7 ein Rückgang um einen Punkt mit zusätzlichen Pflegekosten von $ 1.846 pro Patient und Jahr verbunden ist.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass die wenigen medizinischen/therapeutischen Möglichkeiten nicht genutzt werden, die heute mit den modernen Antidementiva zur Verfügung stehen. So konnte z. B. durch eine prospektive pharmakoökonomische Studie (Wimo et al. 2003) gezeigt werden, dass bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz unter Memantine-Therapie (20 mg/p.d.; 28 Wochen) der Pflegebedarf pro Monat gegenüber Placebo um 51,5 Stunden reduziert wird und sich Kosteneinsparungen der Gesellschaft von 1.090 USD pro Monat ergeben.
Das Schnittstellenproblem zwischen gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung verhindert die Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven.
Zusammenfassung
Die Bewohner in Pflegeheimen werden älter, und ihre Multimorbidität nimmt zu. Die Prävalenz demenzieller Erkrankungen liegt inzwischen bei über 65 %. Der GEK-Pflegereport 2008 und die SÄVIP-Studie legen nahe, dass die unzureichende fachärztliche Versorgung in den Pflegeheimen die medizinische Versorgung beeinträchtigt und auch die gemessene Pflegequalität limitiert (siehe zweiter MDS-Qualitätsbericht).
Die wenigen pharmakoökonomischen Möglichkeiten werden nicht ausgeschöpft. Das „Berliner Projekt“ weist in die richtige Richtung, bei dem entweder Heimärzte die Versorgung übernehmen oder niedergelassene Ärzte eng mit dem Pflegeheim zusammenarbeiten. Das Honorarvolumen ist für die im Berliner Projekt ambulant erbrachten ärztlichen Leistungen allerdings deutlich höher als im Bundesdurchschnitt. Das scheint vernünftig zu sein, denn es erübrigen sich häufige Krankenhausaufenthalte und hohe Transportkosten. Mit dem PfWG sollte eine verbesserte vertragsärztliche Versorgung erreicht werden; aber die im § 129 b SGB V umgesetzten Regelungen sind sehr restriktiv. Entscheidend wird sein, auch die Organisation der medizinischen Versorgung eines Pflegeheimes – und deren Transparenz – zu einem Qualitätskriterium zu entwickeln, damit auch die Heimträger motiviert sind, die faktisch von ihnen durchgeführte medizinische Steuerung als Qualitätskriterium zu gestalten. <<