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Erfahrungen aus den Vertragsverhandlungen und Schiedsverfahren zur hausarztzentrierten Versorgung

Erstveröffentlichungsdatum: 17.08.2010

Abstract: GP-centered care: experiences from the first wave of the contract nego-tiations and arbitration procedures

The German health care system is powerful and highly adaptive. The primary intent of new health care models is to achieve a higher quality of medical care for the patients. In the course of implementing new health care models, e.g. DMP or GP-centered care, it turned out, that the element of voluntariness in the participation of the patients plays a key role. Only in this way, a high participation rate and respective motivation of the patients and thus the success of new health care models can be attained. Another central point in the implementation of new health care models is the involvement of the (medical) care providers at an early stage. Their knowledge of the concrete (health care) situation and their assessment regarding what is possible in medical care guarantees feasibility. The experience of the Deutsche Hausärzteverband (German doctors’ association) in the negotiation with the cost carriers confirms these conclusions.

Literatur

http://www.aok-gesundheitspartner.de/bundesverband/dmp/evaluation/elsid/ (zugegriffen am 05. Mai 2010) http://www.aok-gesundheitspartner.de/bw/arztundpraxis/facharztprogramm/ (zugegriffen am 05. Mai 2010) http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=41092 (zugegriffen am 06. Mai 2010) Weiß, Ivo: „Bereinigung von arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen“, in: Monitor Versorgungsforschung 01/2010, S. 30-32

Plain-Text

Erfahrungen aus den Vertragsverhandlungen und Schiedsverfahren zur hausarztzentrierten Versorgung

Zum 01.01.2009 trat das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVOrgWG) in Kraft, das unter anderem auch eine Änderung des § 73b SGB V umfasste. Nach dieser Neuregelung wurden alle gesetzlichen Krankenversicherungen verpflichtet, ihren Versicherten bis zum 30. Juni 2009 eine besondere hausärztliche Versorgung („hausarztzentrierte Versorgung“) anzubieten.
Vorrangiger Vertragspartner der Krankenkassen sind nach dem Gesetzeswortlaut „Gemeinschaften, die mindestens die Hälfte der an der hausärztlichen Versorgung teilnehmenden Allgemeinärzte des Bezirks der Kassenärztlichen Vereinigung vertreten“. Vor diesem Hintergrund haben in nahezu allen KV-Bezirken die dort niedergelassenen Hausärzte die Landesverbände des Deutschen Hausärzteverbandes mandatiert. Mit Unterstützung der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft (HÄVG), der Dienstleistungsgesellschaft der Landesverbände, und des Bundesverbandes wurden zahlreiche Verhandlungen über Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung (HzV) geführt.

>> Überall dort, wo keine Einigung erzielt werden konnte, haben die Landesverbände als mandatierte Gemeinschaften die für diesen Fall nach dem Gesetz vorgesehenen Schiedsverfahren eingeleitet. Im Rahmen dieser Schiedsverfahren wurden die „Verhandlungen“ zwischen den Parteien unter Leitung eines Schiedsvorsitzenden geführt, der immer dann, wenn die Parteien sich nicht einigen konnten, an deren Stelle eine Entscheidung traf. Zum jetzigen Zeitpunkt, Ende April 2010, haben die Landesverbände des Deutschen Hausärzteverbandes und der Bundesverband gemeinsam mit der HÄVG über 250 Verträge erfolgreich verhandelt, weitere rund 100 wurden durch Schiedssprüche festgesetzt. Es ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels die rund 1.600 eingeleiteten Schiedsverfahren größtenteils abgeschlossen sein werden – sei es durch einen Schiedsspruch, sei es auf dem Verhandlungswege.
Primäres Ziel der Hausarztzentrierten Versorgung - wie auch der besonderen ambulanten ärztlichen Versorgung und auch der Integrierten Versorgung - ist eine qualitativ bessere Versorgung der Versicherten. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die tatsächliche Versorgung der Versicherten durch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte und andere Leistungserbringer in den Praxen vor Ort erfolgt – nicht durch die Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Berufsverbände oder Unternehmensberatungen. Deshalb dürfen nachhaltige Modelle zur Verbesserung der Versorgung nicht „am Flipchart“ entworfen werden, sondern sollten unbedingt auf einem soliden - und vor allem praxisnahen - Fundament basieren, nämlich:
• einer genauen Kenntnis der tatsächlichen (Versorgungs-) Verhält-
nisse,
• einer realistischen Einschätzung darüber, was in der Versorgung
möglich ist sowie
• einer breiten Akzeptanz auf Seiten der Versicherten und der
Leistungserbringer
Der letzte Punkt der Akzeptanz auf Seiten der Versicherten ist vielleicht der wichtigste: Denn eine „Verbesserung der Versorgung“ muss nicht zwingend für jeden Versicherten das gleiche bedeuten. Deshalb ist es dringend geboten, die Patienten selbst darüber entscheiden zu lassen, ob Sie ein bestimmtes Angebot annehmen möchten oder nicht. Anderenfalls lassen sich aufgrund der geringen Patienten-„Compliance“ gewünschte Versorgungsverbesserungen und Wirtschaftlichkeits-reserven kaum erreichen.
Zentrales Element der Teilnahme: „Freiwilligkeit“
Das Prinzip der freiwilligen Teilnahme der Versicherten ist auch von großer Bedeutung dafür, dass die Interessen der Versicherten in einer Verhandlung zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen nicht nur von den Krankenkassen, sondern von Anfang an auch von Seiten der ärztlichen Leistungserbringer berücksichtigt und vertreten werden. Ein ausschließlich für die Ärzte attraktives Versorgungskonzept, das für die Versicherten aber womöglich sogar nachteilig wäre, würde von den Versicherten nicht angenommen werden und somit ins Leere laufen. Die Tatsache, dass bei den Schiedsverfahren zur hausarztzentrierten Versorgung die Kassenseite zwar sehr zahlreich, häufig aber ohne ärztlichen Sachverstand auftrat, dafür mit umso mehr Juristen, Haushalts- und Verwaltungsfachleuten, wirft die Frage auf, ob sich die Krankenkassen der Verantwortung gegenüber ihren Versicherten in dieser Hinsicht bewusst sind.
Die Bedeutung des Prinzips der Freiwilligkeit lässt sich auch anhand der Disease-Management-Programme (DMP) belegen, wo dieses Prinzip seit Beginn der strukturierten Behandlungsprogramme bis heute sowohl auf Seiten der Versicherten als auch der Ärzteschaft zugrunde liegt. Nach anfänglicher Skepsis den DMP gegenüber werden diese heute, nach mehrjähriger Erfahrung, überwiegend positiv beurteilt. Eindeutige Hinweise für die Verbesserung der Versorgung der teilnehmenden Versicherten liefern beispielsweise die von der AOK im Internet veröffentlichten Ergebnisse der ELSID-Studie:
Zentrale Ergebnisse der ELSID-Studie
Unter den Diabetikern im DMP ist die Sterblichkeitsrate deutlich niedriger als bei Patienten, die nicht in ein solches Programm eingeschrieben sind.
Vor allem Patienten mit mehreren Erkankungen können von der Teilnahme an einem DMP profitieren. Die mehrfach erkrankten Patienten im DMP erzielten bei einer Befragung zu ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität deutlich bessere Werte als die Patienten in der Regelversorgung. Frauen profitieren in Bezug auf Lebensqualität mehr vom DMP als Männer.
Die Kosten für die Versorgung der Patienten im DMP sind insgesamt etwas niedriger als die Kosten für die Versorgung der Diabetiker in der Regelversorgung.
Die Teilnehmer des DMP Diabetes fühlen sich von ihrem Arzt besser versorgt als Nicht-DMP-Teilnehmer. Eine Patientenbefragung im Rahmen der Studie ergab, dass die DMP-Teilnehmer mit dem Ablauf und der Organisation ihrer Behandlung deutlich zufriedener sind als Patienten in der Regelversorgung. Sie werden zum Beispiel häufiger nach ihren Vorstellungen bei der Gestaltung des Behandlungsplans gefragt.
DMP wurden erstmals mit dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der Gesetzlichen Krankenversicherung mit Wirkung zum 1. Januar 2002 gesetzlich etabliert (§137f –g SGB V) und sukzessive für aktuell sieben weit verbreitete chronische Erkrankungen, nämlich
- Diabetes mellitus Typ 1 und 2,
- Brustkrebs,
- Koronare Herzkrankheit (KHK),
- Asthma,
- Chronisch obstruktive Lungenerkrankungen COPD und
- Modul Herzinsuffizienz zum DMP KHK (seit Juli 2009)
eingeführt. Wie bereits gesagt, erfolgt die Teilnahme des Patienten an DMP freiwillig. Dabei ist seine Mitarbeit ein wesentlicher Erfolgsfaktor der DMP: Hierzu werden individuelle Therapieziele sowie die Teilnahme an intensivierter Patienteninformation und Beratung, z.B. Schulungen und Präventionsangeboten, sowie an regelmäßigen Verlaufskontrollen vereinbart.
Die nachgewiesen sinnvollen Maßnahmen der DMP hätten sicher nicht den gleichen Erfolg gebracht, wären sie z.B. allen Versicherten mit Diabetes einfach vorgeschrieben worden. Vielmehr hat sich gezeigt, dass eine individuelle Anleitung einschließlich der Vereinbarung konkreter Therapieziele verbunden mit positiven Anreizen Mittel der Wahl sind, weil nur sie den Behandlungserfolg nachhaltig befördern können. Die Androhung von Sanktionen gegenüber den Versicherten bei möglichen „Fehlverhalten“ ist nach der bisherigen Erfahrung demgegenüber wirkungslos.
Die „Abstimmung mit den Füßen“ ist im Normalfall ein wirksames Instrument, um seine eigenen Interessen zu vertreten. Leider steht diese Möglichkeit den in Deutschland niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten durch das System der Zwangskörperschaften nur in sehr beschränktem Umfang zur Verfügung. Wer als Arzt zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung Versicherte behandeln möchte, muss Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung sein. Regelungen, die die gesamte Ärzteschaft betreffen, werden im KV-System verabschiedet, ohne dass sich jemals eine Mehrheit der niedergelassenen Ärzte dafür ausgesprochen hätte. Wir verweisen hierzu beispielhaft auf die der letzten Honorarreform folgenden Diskussionen, insbesondere auch systemintern, nachdem die massiven regionalen Unterschiede in der Honorarverteilung deutlich wurden. Im Gegensatz zu den Selektivverträgen mit freiwilliger Teilnahme der Ärzte fehlt somit im Kollektivvertrag ein wesentliches Instrument zur Kontrolle des Systems durch die Mitglieder.
Frühzeitige Einbindung der Leistungserbringer
Die hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V, die besondere ambulante ärztliche Versorgung nach § 73c SGB V und auch die integrierte Versorgung nach § 140a SGB V folgen dem Prinzip der freiwilligen Teilnahme. Eine bessere Basis für eine Akzeptanz auf Seiten der Versicherten wie auch der Ärzte kann es nicht geben. In den Wirtschaftswissenschaften wird häufig, wenn bestimmte Vorhersagen aus Modellen abgeleitet werden sollen, der sog. homo oeconomicus als rational handelndes Individuum unterstellt. Auch wenn Entscheidungen häufig nicht allein aus rein rationalen Gründen getroffen werden, so gibt es jedenfalls keine Hinweise darauf, dass sich Versicherte und Ärzte (in großer Zahl) freiwillig für die Teilnahme an einer Versorgungsform entscheiden würden, die ihnen keine Vorteile bringt. Allein in Bayern und Baden-Württemberg nehmen mehr als 10.000 Hausärzte und weit über 3 Mio. Versicherte an der HzV teil, Tendenz steigend. Auch die Empirie spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache: Nach den Ergebnissen einer aktuellen Prognos-Befragung zur „Patientenzufriedenheit in der HzV“ der AOK Baden-Württemberg (veröffentlicht auf www.aerztezeitung.de) zeigten sich 97 % der Teilnehmer zufrieden oder sehr zufrieden mit dieser Versorgung. Weiteres signifikantes Ergebnis dieser Umfrage ist, dass der Hausarzt als erster Ansprechpartner in Gesundheitsfragen akzeptiert wird: 93 % der Befragten haben zu ihrem Hausarzt vollstes Vertrauen. 94 % der Befragten würden eine Teilnahme an der HzV weiterempfehlen. Diese Ergebnisse zeigen, mit den Hausarztverträgen auf dem richtigen Weg zu sein und den Patienten eine neue Qualität in der ärztlichen Versorgung anzubieten.
Die Einbindung der Leistungserbringer bereits in der Phase der Vertragskonzeption sorgt dafür, dass ein in den Praxen tatsächlich umsetzungsfähiger Vertrag entwickelt wird. Die oben genannten Verträge enthalten neben medizinischen Aspekten auch zunehmend organisatorische Anforderungen. Die Kenntnis des realen Praxisalltags, das Wissen über das Zusammenspiel zwischen Ärztin/Arzt und Praxispersonal oder in Berufsausübungsgemeinschaften auch zwischen mehreren Ärztinnen und Ärzten ist im Hinblick auf die spätere Praxis-tauglichkeit unverzichtbar. Hierbei ist es nicht ausreichend, sich auf die Erfahrungen einzelner zu verlassen. Stattdessen muss es das Ziel sein, die Erfahrungen möglichst vieler aktiv tätiger Leistungserbringer einfließen zu lassen.
Speziell für die Phase der Vertragsverhandlungen und der Schiedsverfahren hat der Deutsche Hausärzteverband daher eine Projektstruktur etabliert, die genau diesem Umstand Rechnung trägt.
Die Verhandlungsteams setzen sich aus insgesamt ca. 30 niedergelassen Hausärzten sowie ca. 10 hauptamtlichen Mitarbeitern des Bundesverbandes, der HÄVG sowie externer Unterstützung zusammen. Abgesehen von gelegentlichen Terminüberschneidungen konnte durch diese Organisationsform in sehr kurzer Zeit ohne Probleme ein breiter Erfahrungsschatz aufgebaut werden, der unmittelbar in jede Verhandlung eingebracht werden konnte. Dies hat mit dazu beitragen, dass der von Kritikern befürchtete „Flickenteppich in der Versorgungslandschaft“ bzw. das „Vertrags-Chaos“ ausgeblieben ist. Ganz im Gegenteil: Die Verträge sind zwar unterschiedlich, folgen aber einer einheitlichen Philosophie und Struktur. Diese Unterschiede in den Verträgen belegen auch eindeutig, dass dem Hausärzteverband durch die Änderung des § 73b SGB V kein faktisches Vertragsmonopol zugesprochen wurde, wodurch er „allen Kassen einen Einheitsvertrag aufzwingen könne“. Vielmehr zeigt sich, dass individuelle Versorgungsinhalte bei einheitlicher Struktur keine Gegensätze darstellen.
Die Bereicherung der Diskussion auch um organisatorische Abläufe durch unmittelbare Einbeziehung der Leistungserbringer kann an folgendem Beispiel verdeutlicht werden:
Die hausarztzentrierte Versorgung sieht vor, dass der Patient, so er denn teilnehmen möchte, einen betreuenden Hausarzt wählt und sich dort einschreibt. Im Rahmen der Verhandlungsteam-Runde (V-Team Runde) wurde die Frage aufgeworfen, ob die Wahl einer betreuenden Praxis nicht der bessere Ansatz wäre.
Selbst im Fall einer Einzelpraxis ist der Unterschied gewaltig. Im Moment der Einschreibung gibt es zwar noch keinen Unterschied zwischen Dr. Müller und der Praxis Dr. Müller, dieser kann aber im zeitlichen Verlauf entstehen. Beispielsweise dann, wenn Dr. Müller die Praxis an eine Nachfolgerin/einen Nachfolger übergibt. In diesem Fall führt die Wahl eines betreuenden Hausarztes – also die Einschreibung bei Dr. Müller - dazu, dass der Versicherte zunächst für ein Quartal aus der HzV ausscheiden und sich dann erneut einschreiben muss.
Ein „Arztwechsel“ innerhalb der HZV funktioniert gerade dann nicht, wenn es sich bei der Nachfolgerin/dem Nachfolger - aufgrund der zeitlich aufwändigen administrativen Vorgänge im Zusammenhang mit der erstmaligen Niederlassung - um einen neu zugelassenen Vertragsarzt handelt. Dieser Umstand ist insoweit zu kritisieren, da der Deutsche Hausärzteverband durch die hausarztzentrierte Versorgung dazu beitragen will, die Attraktivität des Berufsbildes des niedergelassenen Hausarztes wieder zu erhöhen, um dadurch auch wieder mehr Nachwuchs für die hausärztliche Versorgung gewinnen zu können.
Nun kann man einerseits argumentieren, dass die Versicherten sich zwar für Dr. Müller als ihren betreuenden Hausarzt entschieden haben, diese Entscheidung aber nicht ohne weiteres auf die oder den Praxisnachfolger(in) übertragen werden kann. Genauso gut könnte es aber auch sein, dass die Versicherten von den Vorteilen der hausarztzentrierten Versorgung überzeugt sind, es aber möglicherweise keine weitere hausärztliche Praxis in der näheren Umgebung gibt, die Nachfolgerin/der Nachfolger bereits bekannt ist und ebenfalls das Vertrauen der Patienten genießt, was alles für einen Verbleib der Versicherten in der HzV sprechen würde.
Bei Berufsausübungsgemeinschaften (Gemeinschaftspraxen) stellt sich die Frage erst recht. Es gibt sowohl Patienten, die innerhalb einer BAG immer dieselbe Ärztin/denselben Arzt aufsuchen, als auch solche, die zwar immer dieselbe BAG aufsuchen, dort aber von verschiedenen Ärztinnen/Ärzten behandelt werden. Dies ist vor allem eine Frage der inneren Organisation der BAG und natürlich der persönlichen Präferenzen der Versicherten.
Letztlich kann die Frage, ob die Einschreibung bei einem bestimmten Arzt oder einer bestimmten Praxis erfolgen sollte, hier nicht abschließend beantwortet werden.
Dieses Beispiel zeigt jedoch, wie wichtig es ist, diese Frage mit denjenigen zu diskutieren, die einerseits von den Versicherten als betreuender Arzt/betreuende Praxis gewählt werden sollen, andererseits bereits über Erfahrung darüber verfügen, wie sich Patienten bei Praxisübernahmen oder in Gemeinschaftspraxen verhalten.
Eine konsequente Schlussfolgerung aus dem oben Dargestellten wäre, die Patienten autonom darüber entscheiden zu lassen, ob Sie im Falle der Teilnahme an der HzV einen betreuenden Arzt oder eine betreuende Praxis wählen möchten. Sollte sich hierbei eine klare Präferenz der Versicherten zeigen, so könnte man diese - aufgrund der dann vorliegenden Erfahrungswerte - immer noch zur Norm machen.
Beispiele aus den Vertragsverhandlungen /
Schiedsverfahren
Eine realistische Einschätzung dessen, was in den Praxen/Krankenhäusern/Pflege-Einrichtungen überhaupt umzusetzen ist, baut auf einer detaillierten Kenntnis der aktuellen Verhältnisse auf und kann deshalb nicht ohne Beteiligung der dort arbeitenden Leistungserbringer vorgenommen werden.
Diese zwingende Voraussetzung zeigt sich auch an einem wenig umsetzungsfähigen Vorschlag der Krankenkassenseite in einem Schiedsverfahren: Vorgeschlagen wurde, die Beratung über und Einschreibung des Versicherten in die HzV in den Arztpraxen und (nicht oder) den Filialen der Krankenkassen durchzuführen. Die Versicherten sollten sich also in der Arztpraxis (vorläufig) für die Teilnahme und für ihren betreuenden Hausarzt entscheiden, anschließend mit den Unterlagen eine Filiale ihrer Krankenkasse aufsuchen, und dort nach einem Gespräch mit einem Mitarbeiter endgültig entscheiden, ob sie denn tatsächlich teilnehmen möchten.
Dem geneigten Leser erschließt sich schnell, dass ein solcher Vorschlag schlichtweg nicht praktikabel ist: Zwar gibt es große Unterschiede im Hinblick auf die „Filialdichte“ einzelner Krankenkasse, jedoch dürfte mit ziemlicher Sicherheit in den allermeisten Fällen der Weg zur nächsten Filiale der Krankenkasse weiter als der Weg zur nächsten Hausarztpraxis sein. Wie würde sich ein solches System der „doppelten Einschreibung“ wohl auswirken?
Grundsätzlich lässt sich festhalten: Patienten gehen nicht in die Arztpraxis, um sich einzuschreiben, sondern um behandelt zu werden. Für Patienten mit eingeschränkter Mobilität würde dies einen erheblichen zusätzlichen Aufwand bedeuten. Berufstätige haben im Normalfall keine Zeit, nach Feierabend die nächste Filiale ihrer Krankenkasse aufzusuchen. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass die kassenseitige Forderung nach einer Abend-Sprechstunde für Berufstätige bzw. einer Sprechstunde am Samstag beim behandelnden Hausarzt keine Entsprechung nach einer Anpassung der Öffnungszeiten der Kundencenter/Geschäftsstellen der Krankenkassen gefunden hat.
Die Frage, wie viele Beratungen in den Geschäftsstellen in welcher Zeit geführt werden könnten, stellt sich angesichts der beiden zuerst genannten Punkte schon fast nicht mehr.
Sicherlich hat es auch für diesen Vorschlag seriöse Beweggründe gegeben. Festzuhalten bleibt aber, dass die Frage, wie dies denn in der Praxis funktionieren solle, zu einseitig diskutiert worden war bzw. das „Verhandlungsteam“ der Krankenkassenseite in dieser Frage unausgeglichen besetzt war, und sie daher auch nicht beantwortet werden konnte.
Um dem Eindruck vorzubeugen, die Ärzteseite hätte in den Verhandlungen jederzeit alles besser gewusst, möchten wir auch einen Vorschlag der Ärzteseite nicht unerwähnt lassen, der von den Krankenkassen aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt wurde. Es ging um die Frage, ob und wie die Teilnahme der Versicherten an der HzV in irgendeiner Form kenntlich gemacht werden könnte.
Um die Teilnahme an der HzV auch nach außen, z.B. gegenüber anderen (Haus-) Ärzten zu dokumentieren, wurde arztseitig vorgeschlagen, diesen Versicherten eine neue spezielle Krankenversichertenkarte (KVK) auszustellen. Allerdings waren die mit einem Kartenaustausch einhergehenden Kosten und Prozesse nicht bekannt. Insbesondere die nicht unerheblichen Kosten waren vor dem Hintergrund, dass die Teilnahme an besonderen Versorgungsformen als Merkmal auf der geplanten elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gespeichert werden kann, ein klares Argument gegen einen solchen (vorschnellen) Kartenaustausch. Die Tatsache, dass die (Einführung der) eGK auch für die Selektivverträge eine gewisse Relevanz hat, zeigt einmal mehr, dass man bei der Konzeption und Diskussion neuer Versorgungsformen versuchen sollte, diese solange wie möglich so offen wie möglich zu gestalten.
Beispiele für theoretisch sinnvolle, aber praktisch häufig nicht umsetzungsfähige Vorschläge sind die Begrenzung der Wartezeit bei vorab vereinbarten Terminen auf 30 Minuten sowie die zeitnahe Vermittlung von Facharztterminen.
Eine Begrenzung der Wartezeit ist zweifellos im Interesse des Versicherten und auch des Arztes, allerdings muss gerade in der Organisation der hausärztlichen Praxis eine Öffnung dahingehend erfolgen, dass Notfälle jederzeit bevorzugt behandelt werden.
Der Hausarzt kann sich auch um eine zeitnahe Vermittlung von Facharztterminen bemühen, hat aber hierauf - wenn überhaupt - nur mittelbaren Einfluss. Daher kann eine Verpflichtung der an der HzV teilnehmenden Hausärzte zur zeitnahen Vermittlung von Facharztterminen nicht erfolgen. Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzten, zu der dann neben einer verbesserten Abstimmung von Terminen vor allem der optimierte Austausch von (medizinischen) Informationen zwischen den beteiligten Ärzten gehören sollte, setzt voraus, dass die Krankenkassen neben der hausarztzentrierten Versorgung Verträge nach § 73c SGB V mit den entsprechenden Fachärzten schließen. Derartige Modelle der Koppelung von Verträgen zur hausarztzentrierten Verträgen mit Verträgen nach § 73c SGB V sind in Baden-Württemberg bereits Realität geworden. Im Internetnetauftritt der AOK Baden-Württemberg steht hierzu unter anderem:
„Um die Versorgung AOK-versicherter Herz-Kreislauf-Patienten zu verbessern, hat die AOK Baden-Württemberg am Donnerstag (10.12.2009) ihren ersten Vertrag direkt mit einer Facharztgruppe geschlossen. Er soll die Zusammenarbeit zwischen den Hausärzten, die am AOK-HausarztProgramm teilnehmen und den Herzfachärzten (Kardiologen) im Lande optimieren.“
Ein weiterer Punkt, der erfahrungsgemäß nicht ohne arztseitige Beteiligung seriös diskutiert werden kann, ist die Verordnung von Arzneimitteln. Unzweifelhaft sind Ärzte diejenigen Personen, die Rezepte ausstellen. Ohne zuvor eine intensive Diskussion mit Ärzten geführt zu haben, aber darüber entscheiden zu wollen, ob eine Verordnung von Präparaten oder eine Verordnung von Wirkstoffen erfolgen sollte, ist mehr als unvernünftig. Die bestehende Aut-idem-Regelung erlaubt bereits eine wirkstoffgleiche Substitution, solange der verordnende Arzt eine solche nicht explizit ausschließt. Die Frage nach den Vorteilen einer verpflichtenden Wirkstoff-Verordnung gegenüber der aktuellen Regelung konnte bisher nicht überzeugend beantwortet werden. Die interne Diskussion hingegen hat gezeigt, dass sich zumindest Haus-ärzte gegen eine verpflichtende Regelung zur ausschließlichen Verordnung von Wirkstoffen aussprechen. Als Kompromiss, der heute bereits möglich ist, bietet sich allenfalls an, sowohl die Verordnung von Präparaten als auch die von Wirkstoffen zuzulassen. Eine Auswertung darüber, welcher Anteil der von (Haus-) Ärzten ausgestellten Rezepte auf ein Präparat und welcher Anteil auf einen Wirkstoff lautet, könnte als Grundlage für die weitere Diskussion dienen.
Fazit
Die obigen Ausführungen machen zwei zentrale Punkte bei Direktverträgen deutlich: Zunächst ist die Freiwilligkeit als Kernelement in Bezug auf die Teilnahme an neuen Versorgungsformen und wesentlicher Erfolgsfaktor herauszustellen. Dies hat sich bereits in den seit 2002 etablierten DMP gezeigt und manifestiert sich aktuell in den neu geschlossenen Hausarztverträgen. Denn eine hohe Beteiligung der Versicherten, ihre hohe Motivation zur Teilnahme sowie zur Erreichung der individuellen Therapieziele lässt sich nicht durch Zwang, sondern nur durch Freiwilligkeit befördern, wie die bisherige Erfahrung zeigt. Dieses zentrale Element gilt es dauerhaft zu sichern, um den Erfolg neuer Versorgungsformen wie hausarztzentrierter Versorgung nachhaltig, mit hoher Patienten-Compliance und
-Adherence sowie im Sinne einer wirtschaftlichen Versorgung zu gewährleisten. Spiegelbildlich ist diese Freiwilligkeit auch als hoher Motivations- und Leistungsfaktor auf Seiten der (Haus-)Ärzte anzusehen.
Ein weitere Erkenntnis aus den zahlreichen Vertragsverhandlungen und Schiedsverfahren zur hausarztzentrierten Versorgung ist, dass sich durch eine frühzeitige Einbindung der ärztlichen Leistungserbringer in die konkrete Gestaltung des Versorgungskonzeptes viele Fehler vermeiden lassen. Denn um die Versorgung tatsächlich verbessern zu können, bedarf es einer genauen Kenntnis des aktuellen „Versorgungs- bzw. Praxisalltages“. Eine Verbesserung der Versorgung kann vor diesem Hintergrund nur schrittweise ausgehend vom status quo erfolgen: Jeder Versuch, den Praxisalltag von heute auf morgen radikal zu verändern, wird am (berechtigten) Widerstand der Praxen scheitern. So wird die Bereitschaft einer Praxis, an einem Vertrag teilzunehmen, der sie für einen Teil der Patienten zu einer kompletten Umstellung ihrer internen Abläufe verpflichtet, naturgemäß gering sein. In der Folge würde dieses Angebot auch den Versicherten kaum zur Verfügung stehen. Ein praxistaugliches Konzept für eine bessere Versorgung (der Versicherten durch Ärzte) setzt voraus, dass die Interessen beider Seiten, der Leistungsempfänger wie auch der Leistungserbringer, angemessen berücksichtigt werden. Nur so kann eine adäquate Umsetzung und echte Verbesserung der Versorgung erreicht werden.
Absolut verheerend wäre es hingegen, wenn durch Unwissenheit und gezielte Fehlinformation (des)interessierter Kreise die Gestaltungsräume für neue Versorgungsformen so stark eingeschränkt werden, dass diese von Anfang zum Scheitern verurteilt sind. Nicht nur, dass die bereits niedergelassen Hausärzte an solchen „Versorgungsmodellen“ freiwillig nicht teilnehmen werden. Angesichts der zunehmend kürzeren Halbwertzeiten von gesetzlichen Regeln, sich ständig ändernden Rahmenbedingungen und der damit verbundenen zunehmenden Unsicherheit für die Praxisinhaber und ihre Mitarbeiter stellt sich ernsthaft die Frage, ob sich in Zukunft überhaupt noch jemand freiwillig als Hausarzt in Deutschland niederlassen wird. Wer Investitionen in den Erhalt der wohnortnahen hausärztlichen Versorgung fördern will, der muss den beteiligten Akteuren eine langfristige Perspektive bieten und vor allem müssen – im Gegensatz zum derzeitigen Regierungshandeln - politische Zusagen und Gesetze eingehalten werden.
Beim Hausärztemangel handelt es sich um ein ernsthaftes Problem, das frühzeitig bekämpft werden muss und nicht um eine Entwicklung die es weiter zu beschleunigen gilt. Leider steht genau dies zu befürchten, sollten die kürzlich bekanntgewordenen Eckpunkte der nächsten Gesundheitsreform tatsächlich so umgesetzt werden. <<