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„Es gibt kein weiter so“

Viele Hunderte von Originalarbeiten, Übersichtsarbeiten, Buchbeiträge und Editorials prägen die wissenschaftliche Arbeit von Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, der zu den Urgesteinen der Versorgungsforschung als auch der Qualitätssicherung in Deutschland gehört, indes immer mit einem Bezug auf den, der allzu oft vergessen wird: den Patienten. Seit 2002 hat er den Lehrauftrag für Patientensicherheit und Risikomanagement im Studium der Gesundheitsökonomie der Wirtschaftswissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln (Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie), seit 2006 im gleichnamigen Masterstudium, inne; von 2009 bis 2011 war er Direktor des Institutes für Patientensicherheit der Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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Erstveröffentlichungsdatum: 16.10.2014

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Viele Hunderte von Originalarbeiten, Übersichtsarbeiten, Buchbeiträge und Editorials prägen die wissenschaftliche Arbeit von Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, der zu den Urgesteinen der Versorgungsforschung als auch der Qualitätssicherung in Deutschland gehört, indes immer mit einem Bezug auf den, der allzu oft vergessen wird: den Patienten. Seit 2002 hat er den Lehrauftrag für Patientensicherheit und Risikomanagement im Studium der Gesundheitsökonomie der Wirtschaftswissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln (Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie), seit 2006 im gleichnamigen Masterstudium, inne; von 2009 bis 2011 war er Direktor des Institutes für Patientensicherheit der Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

 

>> Prof. Dr. Dr. Serban-Dan Costa, Direktor der Universitäts-Frauenklinik Otto-von-Guericke an der Universität Magdeburg, hat unlängst im „Ärzteblatt“ frei nach dem Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman postuliert, dass Qualitätsmanagement – Feynman zielte in seinem Originalzitat übrigens auf die Wissenschaftsphilosophie – „für die Wissenschaftler ähnlich nützlich wie die Ornithologie für die Vögel“ ist. Was halten Sie von einem solchen Satz nach Ihren jahrzehntelangen Bemühungen für mehr Qualität, vor allem im Bereich der Patientensicherheit?
In dem von Ihnen zitierten Artikel kommt ein seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts überwunden geglaubtes Verständnis der Gesundheitsversorgung zum Ausdruck. Dieses Verständnis beruht auf einem impliziten und paternalistischen Qualitätsverständnis und spricht den Patienten, der Gesellschaft und den finanzierenden Einrichtungen das Recht und die Befähigung ab, über die Abläufe der Behandlung und die Behandlungsergebnisse etwas in Erfahrung zu bringen und darüber kritisch zu befinden. Es ist vielleicht kein Wunder, dass nach 25 Jahren solche Positionen jetzt vereinzelt wieder vertreten werden, denn natürlich machen Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement Arbeit. Dieser Aufwand wird eingefordert – von der Medizin und dem Gesundheitswesen. Allerdings wird dieser Wunsch von denjenigen geäußert, für die die Gesundheitsversorgung da ist – diese existiert nämlich nicht für sich allein, sondern steht im Dienst der Patienten und der Gesellschaft. Verwunderlich ist aber schon, dass ein solches Statement ausgerechnet von einem Vertreter der Frauenheilkunde kommt, denn besonders dieses Fach hat außerordentlich von qualitätssichernden und -verbessernden Maßnahmen der Vergangenheit profitiert, wie die Perinatalerhebung und die nachfolgenden Bemühungen ja deutlich zeigen.

Aber reflektiert diese derzeitige Kritik nicht doch reale Probleme in der Qualitätssicherung?
Ja doch. Irritationen sind derzeit nicht zu übersehen, gerade in einer Zeit, in der von politischer Seite von der Thematik Qualität ja geradezu Wunderdinge erwartet werden. Die wirklich beunruhigenden Irritationen stammen dabei von denjenigen, die sich der Umsetzung des Quality-Improvement-Gedankens, kurz QI, explizit verschrieben haben, also von den Institutionen und Einzelpersonen, die hier besonders offen und aktiv sind.

Demnach von eigentlich dem Qualitätsanspruch sehr positiv gegenüberstehenden Personen.
Umso ernster ist dieser Umstand zu nehmen. Es muss die Frage dringend gestellt werden, ob wir unsere derzeitigen Anstrengungen auf der Basis der richtigen Grundannahmen und unter einer Perspektive unternehmen, die zielorientiert die richtigen Probleme thematisiert und auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu Lösungen führt. Es ist nicht sinnvoll, einen sowieso schon hoch drehenden Motor noch weiter in den roten Bereich zu treiben, ohne dass der Kurs und das Ziel klar ist. Wie sagt der Insitute of Medicine-Bericht „Quality Chasm“ es so schön: „Trying harder will not work.“

Prof. Dr. Jochen Schmitt, MPH, Direktor des Zentrums für evidenzbasierte Gesundheitsforschung am Universitätsklinikum Dresden, erklärte auf der Qualitätssicherungskonferenz des G-BA in seinem Vortrag „Evidenzbasierte Qualitätsmessung als Voraussetzung für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung“, dass Qualitätsindikatoren Instrumente zur Messung der Versorgungsqualität seien und daher mindestens den hohen Anforderungen entsprechen müssten, die an Endpunkte in klinischen Studien gestellt würden. In der Realität fehle aber bei den derzeit über 2.000 in Deutschland verwendeten Qualitätsindikatoren „bisher weitestgehend wissenschaftliche Evidenz zu deren Güte und Performance“. Auch spiegele nur ein geringer Anteil der aktuell eingesetzten Qualitätsindikatoren die Patientenperspektive wider, was ein Hindernis für die Umsetzung des politischen Willens einer Qualitätsmedizin sei. Und darauf soll sich dann ein Arzt wie Costa verlassen?
Der Bezugnahme auf die Patientenperspektive ist voll zuzustimmen. Das gängige Verständnis des Begriffs Qualität, das auf der Formulierung von Anforderungen basiert, muss auch in Deutschland zumindest ergänzt werden, und zwar hinsichtlich einer klareren Bezugnahme auf das Erkenntnisinteresse, das sich hinter dem Begriff Qualität verbirgt. An dieser Stelle ist es besonders wichtig, dass die Interessen der Patienten deutlicher zum Ausdruck kommen.

Und die Frage der Evidenz der Indikatoren?
Gerade von ärztlicher Seite wird immer wieder die Qualitätsmessung mit einem diagnostischen Verfahren verwechselt, als könne man „die Qualität“ an einem Messstab ablesen wie die Temperatur an einem Thermometer. Diese Annahme ist unzutreffend. Ein diagnostisches Kriterium muss spezifisch eingestellt werden, denn die abgeleitete Therapieentscheidung darf nicht auf einem falsch-positiven Ergebnis basieren, darum spricht man hier von hoher Spezifität bzw. hohem Vorhersagewert. Die Qualitätsmessung dient also der Vorhersage von unerwünschten Ereignissen mit möglichst hoher Sensitivität, d.h. man möchte keine negative Situation übersehen, dafür tolerieren wir ein „fälschliches“ Ansprechen der Indikatoren. Damit kommt im wirklichen Sinne Patientenorientierung zum Ausdruck, denn Patienten wollen in erster Linie vor negativen Ergebnissen geschützt sein. Dagegen drückt sich die bei uns übliche Anbieterorientierung dadurch aus, dass wir vor allem bestrebt sind, keine Einrichtungen fälschlicherweise als auffällig zu beschreiben, soweit sie gute Qualität liefern.

Die dann in vielen Bewertungsportalen fröhliche Urstände feiern.
Weil man vergessen hat zu definieren, wie mit diesen Indikatoren umzugehen ist. Gute Indikatoren sind oft „instrinsisch ungerecht“ – doch meist nur aus Anbieterperspektive. Daher ist bei der Validierung von Indikatoren zunächst die Frage zu klären, was eigentlich die wichtigste Eigenschaft sein soll, die dem Validierungsprozess zugrunde liegt. Die Kontroverse um die nächste Frage, warum manche Indikatoren – beispielsweise eine Blutkultur vor der ersten Antibiotikagabe – im klinischen Versuch hochgradig evidenz-basiert erscheinen, aber dennoch im Alltag, also in der „QM-Situation“, nur einen geringen Einfluss auf die Ergebnisse aufweisen, ist international seit Jahrzehnten im Gange. Letztlich dürfte die Lösung in der Tatsache begründet liegen, dass Effektstärken eben unter Alltagsbedingungen geringer ausfallen als im klassischen klinischen Versuch – hier kommt das Paradigma der Versorgungsforschung zum Tragen.

Würden Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir das Beispiel der Wundinfektionsrate – hier kommt es immer darauf an, warum ich zähle. Wir haben drei unterschiedliche Vorgehensweisen: Betrachte ich eine Wundinfektion unter dem Gesichtspunkt einer klinischen Diagnose z.B. hinsichtlich einer Inzision, gehe ich anders vor, als wenn ich eine quantitative, epidemiologische Auskunft über die diesbezügliche Situation in einem Krankenhaus erhalten möchte. Doch: Handelt es sich beispielsweise wirklich um eine Wundinfektion oder um eine Rötung? Das ist hier die Frage.

Was ist jenseits des medizinischen der große Unterschied in Sachen Indikator?
Wenn die Wundinfektionsrate ein Indikator ist, der zum Beispiel die Qualität des gesamten Krankenhauses vorhersagt, ist es ausschlaggebend, ob ich mit dem Grenzwert, den ich zwischen „auffällig“ und „nicht auffällig“ ziehe, alle Krankenhäuser erkennen kann, die validiert an einem externen Standard ein Qualitätsproblem haben. Das hat große Konsequenzen für die Patienten, denn sie wollen doch gerne wissen, in welches Haus sie gehen sollen. Solche Indikatoren aufzubauen, ist alles andere als trivial, denn man muss, wenn man sich nach solchen Indikatoren richtet, ausschließen, dass der Indikator falsch-negative Ergebnisse erbringt, denn so würde man Qualitätsprobleme übersehen.

Wenn nicht zudem das Problem der kleinen Zahl bestünde.
Das Problem der kleinen Zahl betrifft vor allem Ergebnis- und Outcome-Indikatoren. Kleinere und kleine Einrichtungen können Einzelereignisse nicht durch eine höhere Zahl nicht-auffälliger Ereignisse ausgleichen; und auch eine „perfekte“ Risikoadjustierung ändert daran nichts. Dies ist der Nachteil der „Qualitätsmessung“ durch Ergebnisindikatoren, die auf den ersten Blick so eingängig erscheint. Natürlich gibt es Indikatoren, die direkt Qualität abzubilden scheinen – wie beispielsweise die adjustierte Sterblichkeit. Die Problematik liegt aber nun darin, dass es außer der Qualität der betreffenden Institution noch zahlreiche andere Faktoren gibt, die für die Erklärung der Qualitätsunterschiede verantwortlich gemacht werden können; und da es insofern große Probleme mit der Zurechenbarkeit gibt.

Nützen diese Indikatoren denn überhaupt etwas?
Einrichtungen können damit ihr Vorgehen und ihr Verhalten ändern. Das gilt dann, wenn sie aus Indikatoren sinnvoll lernen können. Genau dafür muss der Indikator aber verhaltenssensibel sein. Genauso ist es mit den Patienten: Natürlich sind sie sehr an Ergebnisqualität interessiert, aber sie – um einen Vergleich zu gebrauchen – vor die Entscheidung zu stellen, ob sie eine Autowerkstatt präferieren, in dem das Risiko nicht festangezogener Radmuttern bei drei, fünf oder acht Prozent liegt, ist verhaltenspsychologisch nicht sehr sinnvoll. Daher richten sich Patienten auch nicht danach. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sich in Deutschland wieder mehr mit Prozessindikatoren zu beschäftigen, wie es auch international üblich ist.

Warum?
Hier ist keine Risikoadjustierung notwendig, und die Verantwortlichkeit ist klar.

Sie stellen die Hypothese auf, dass Ergebnisindikatoren außerdem zu einer Mengenausweitung führen können?
Dazu gibt es klare Hinweise aus den Studien zu Pay-for-Performance. Dieses Problem betrifft vor allem die Situation, wenn man wenig sensitive Indikatoren einsetzt, so wie es bei Indikatoren auf der Basis von Routinedaten der Fall ist, die in Deutschland leider so hoch im Kurs stehen. Solche Indikatoren haben über alle Studien hinweg eine Sensitivität von nicht über 50 Prozent. Das heißt nichts anderes, als dass sie die Hälfte der unerwünschten Verläufe übersehen. Wenn sie administrative, vor allem auf Abrechnungsdaten beruhende Indikatoren auf Erkrankungen anwenden, die die Option einer Mengenausweitung aufweisen wie zum Beispiel bei der Endoprothetik, dann kommt es zur Attraktion leichterer Fälle, einer Fallaufwertung durch die zusätzlich fließenden Qualitäts-orientierten Zahlungen. Besonders große und gut vernetzte Anbieter können aufgrund ihrer Kenntnis der Risikoadjustierungsdaten die Risikoselektion optimieren. Letztlich kann man – siehe Koalitionsvertrag mit seiner Kopplung an die Mehrerlösausgleiche – gegenüber den Kostenträgern sogar noch die Mengenausweitung in den Budgetverhandlungen durchsetzen. Ein perfektes Geschäftsmodell.

Ist mit den genannten Fragen auch die Beobachtung zu erklären, dass Qualität und Qualitätssicherung in der Medizin bisher keinen großen Einfluss hatten? Zwar gibt es allerlei Onlineportale, in denen Qualitätsindikatoren verwandt werden, um eine Art von Transparenz zu schaffen, doch beachtet wurden die bislang kaum. Nun will die Politik auf Basis des vorhandenen Qualitätsindikatorensets auf einmal Bedarfs- und Vergütungsplanung machen.
Für einzelne Bereiche, zum Beispiel für Infection Control-Maßnahmen wie Antibiotika-Beratung oder Händedesinfektion, lassen sich durchaus deutliche Effekte nachweisen. Aber Sie haben recht, die Studienlage zur Effektivität von „Qualitätsmanagement im Allgemeinen“ ist wirklich nicht sehr beeindruckend. Positive Einflüsse sind nachweisbar, aber wiederum bleiben sie hinter der erwarteten Größenordnung zurück.

Wäre hier nicht endlich die Diskussion zu führen, ob wir überhaupt von den richtigen Voraussetzungen ausgehen?
Exakt. Eine Kernfrage lautet: Ist Qualitätsmanagement zu sehen wie eine medikamentöse Behandlung? Meine verkürzte Antwort: Das ist sie nicht, aber sie ist eine sehr komplexe Intervention in einem enorm komplexen Umfeld. Auf die Qualität der Gesundheitsversorgung wirkt lange nicht nur die Diskussion über Qualitätssicherung oder Qualitätsanreize ein, sondern auch die Anreize des Vergütungssystems, professionelle Faktoren, die institutionelle Veränderungsfähigkeit, die Richtungsweisung durch die Politik etc. Das Gesundheitssystem ist darum auch so ein perfekter Gegenstand für Koordinationsbemühungen jedweder Art. Lange hat man vom sogenannten Qualitätswettbewerb erwartet, dass über größtmögliche Transparenz die qualitativ Besseren überleben, und die anderen nicht so guten nach und nach vom Markt verschwinden. Im Gesundheitsmarkt ist das anders. Ein Lichtblick ist es aber, dass in der Ökonomie derzeit ganz allgemein umgesteuert wird.

Detailregelungen haben wir doch vor allem im Akutsektor mehr als genug.
Die Gesetzgebung zum Thema Qualität und Patientensicherheit in den letzten 15 Jahren ist wirklich von beeindruckender Intensität. Dies gilt besonders für die institutionellen Regelungen wie zum Beispiel die Einführung des internen QM und das Public Reporting durch die Qualitätsberichte. Einzelfälle wie beispielsweise im Bereich der Krankenhaus-Hygiene haben zu zahlreichen Detailregelungen geführt. Aber was doch zunehmend zu fehlen scheint, ist die Überschrift. Man könnte auch sagen: Noch fehlt die verbindende Melodie. Dieses Defizit tritt derzeit stärker in den Vordergrund, auch weil wir über die komplexesten Interventionen diskutieren, die auf Systemebene überhaupt denkbar sind: die qualitätsorientierte Krankenhausplanung und die qualitätsorientierte Vergütung.

Worauf bezieht sich Ihre Skepsis?
Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich unterstütze die Einführung von Elementen einer qualitätsorientiertern und regional angepassten Versorgungsplanung; und ich bin auch für die Integration von Elementen der qualitätsorientierten Vergütung in die bestehenden Finanzierungssysteme, so wie wir es bereits im Gutachten des Sachverständigenrates 2007 empfohlen haben. Aber meine Befürchtungen beziehen sich auf ein Scheitern dieser beiden Ansätze dadurch, dass wir falsche Ziele verfolgen und dabei auch noch insuffiziente Instrumente einsetzen. Die Folgen eines Scheiterns für den Qualitätsgedanken wären nämlich unübersehbar, Qualität wäre als Thema für alle Zeiten verbrannt.

Sie kritisieren am deutschen Gesundheitswesen, dass es überwiegend auf die operative, akute Versorgung ausgerichtet ist, aber eben nicht auf chronische Erkrankungen, das zudem einen Erkrankungs-, aber überhaupt keinen Präventionsbezug hat.
Sie sprechen die fehlende Zielorientierung an. Es ist völlig klar, dass es unser Gesundheitswesen aufgrund der Alterung der Gesellschaft in Zukunft vor allem mit mehrfach und chronisch erkrankten Patienten zu tun hat, die langfristig begleitet werden müssen und bei denen Exazerbationen verhindert werden sollen. Unsere Qualitätssicherung haben wir aber in den Jahren 1992/3 anlässlich der Einführung der Fallpauschalen und Sonderentgelte eingeführt, die ausschließlich einige operative Erkrankungen bzw. Eingriffe betrafen – damals wurde das Qualitätssicherung der Sonderentgelte und Fallpauschalen genannt. Dann kamen zehn Jahre später die DRG, und auch diese sind operativ und prozedural betont. Was nichts anderes heißt, als dass konservative Erkrankungen in DRG-Systemen immer schlecht abgebildet sind. Auch die Qualitätssicherung nach §137 SGB V wurde ohne weitere Diskussionen weitergeführt, es blieb auch hier bei ihrer operativ-prozeduralen, akutmedizinischen Orientierung. Das System ist nun einmal bisher erkrankungsbezogen statt auf Prävention ausgerichtet, sektoral statt integrativ denkend.

Zu Pay-for-Performance: Die Erkenntnisse aus den Evaluationsstudien waren doch lehrreich. Kann man sich darauf nicht stützen?
Sicher. Grob kann man die Studien in drei Phasen einteilen. Die kurzfristigen Evaluationen bis zu drei Jahren zeigten recht positive Ergebnisse. Der Sachverständigenrat nahm sie damals auch als Grundlage für seine vorsichtig-positive Empfehlung. Die langfristigen Ergebnisse danach waren eher ernüchternd: Man hat zum Beispiel nicht nachweisen können, dass Erkrankungen, die nicht angereizt, sprich gesondert honoriert wurden, auch profitiert hätten. Zudem waren die Verbesserungen nicht anhaltend, sondern gingen nach Beendigung der P4P-Programme wieder zurück. Auch haben besonders die Poor-Performer, also die schlechteren Einrichtungen, nicht profitiert. In der dritten Phase befinden wir uns jetzt: In den USA und in Großbritannien wurden die Evaluationen analysiert und in die Ausdehnung der P4P-Programme auf das gesamte Gesundheitssystem integriert; in den USA sogar mit einem „Value-based Purchasing“-Ansatz, indem man die Effizienz, das Verhältnis von Qualität und Kosten zum Gegenstand macht.
Welche Konsequenzen wurden aus den Langfrist-Evaluationen gezogen?
Die wichtigste Konsequenz war: Keine schon verwendeten Indikatoren einsetzen, diese sind ausgereizt. Keine Kombination mit Public Reporting, anders als man erst dachte: Beide Systeme wirken unterschiedlich und nicht additiv, vor allem schwächen sich die Indikatoren gegenseitig in ihrem Verbesserungspotenzial. Die verwendeten Indikatoren sind regelmäßig zu wechseln. Ebenso muss man Prozessindikatoren einsetzen, weil hier die Verantwortung eindeutig ist. Dies ist die größte Gefahr für das deutsche Gesundheitssystem: einfach weiter so, man verquickt den Qualitätsbericht mit ein paar Euro und dann wird alles schon besser laufen. Der wichtigste Punkt besteht darin, das System zur Qualitätsmessung mit dem Vergütungssystem richtig zu koppeln.

Was ist hier zu beachten?
Zum Beispiel müssen die Qualitätsziele auch für die Poor-Performer erreichbar sein. Wenn nur die oberen 5 Prozent „belohnt“ werden, dann steigen die letzten 50 Prozent aus, weil sie diese Etage nie erreichen können. Stattdessen müssen auch relative Verbesserungen honoriert werden. Auch müssen die Opportunitätskosten beachtet werden, denn unter Umständen ist es naheliegender, heute drei Fälle mehr zu machen, als in zwei Jahren vielleicht eine qualitätsbezogene Vergütung zu bekommen, von der man noch nicht mal genau weiß, ob sie dann wirklich gezahlt wird, weil ich die Ranking-Liste heute ja noch gar nicht kenne. Zusätzlich müssen die qualitätsorientierten Erträge diskontiert werden, wenn sie erst in Zukunft anfallen. Auch spielt die Risikoaversion eine Rolle usw.

Die Kernfrage lautet demnach?
Kann die qualitätsorientierte Planung und/oder eine qualitätsorientierte Vergütung die Anreize des dominanten Vergütungssystems konterkarieren bzw. neutralisieren? Kann zum Beispiel durch P4P der Mengenanreiz und die sektorale Optimierung des DRG-Systems ausgeglichen werden? Mein Rat: Hier ist äußerste Vorsicht angezeigt.

Sie haben auf die operative Ausrichtung und akutmedizinische Orientierung Bezug genommen. Welche Aspekte müssen außerdem berücksichtigt werden?
Die Qualitätssicherung muss neben der Morbidität auch den Nutzen abbilden. Es kommt nicht allein darauf an, etwas richtig zu tun, sondern es muss auch das Richtige getan werden, das heißt, die Behandlungsmethoden mit nachgewiesenem Nutzen müssen zur Anwendung kommen. Ganz entscheidend ist außerdem die Strukturdimension: Die Qualitätssicherung darf der strukturellen Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens nicht im Wege stehen, sondern muss sie aktiv fördern.

Sie sprechen die transsektorale Qualitätssicherung nach §137a an.
Ja, wenngleich ich den Begriff der „transsektoralen Qualitätssicherung“ eigentlich aus der Diskussion verbannen möchte, denn er transportiert die sektorale Perspektive dadurch, dass sie auch noch mit „trans“ aufgewertet wird. Das Beste, was einem dazu einfällt, ist die Metapher der transsektoralen Tunnel: Wir bohren für jedes Krankheitsbild einen kleinen Tunnel zwischen den Sektoren, so wie wir es jetzt für die Konisation und das kolorektale Karzinom getan haben. Nur leider ist es unmöglich, in endlichen Zeiträumen für alle Krankheitsbilder zu solchen transsektoralen Vereinbarungen zu kommen.
Was wäre denn zu tun?
Wir brauchen stattdessen regional angelegte Indikatoren und eine Qualitätssicherung einer regionalen, integrierten Gesundheitsversorgung. Solche Indikatoren bezeichnet man gemeinhin als Area-Indikatoren: Beispiele sind nächtliche Notfalleinweisungen für Asthma-kranke Kinder oder Einweisungen wegen Exsikkose von älteren Menschen in den Sommermonaten. Diese Indikatoren spiegeln die Integration der verschiedenen regionalen Partner wider.

Damit sprechen Sie indirekt auch das Thema der qualitätsorientierten Krankenhausplanung an.
Auch hier ist zunächst eine Auseinandersetzung mit der Nomenklatur notwendig, weil sonst die Richtung nicht stimmt. Der Begriff der Krankenhausplanung ist eigentlich nicht mehr aktuell, denn wir brauchen regionale Versorgungskonzepte. Sinnvoller wäre es daher, über eine qualitätsorientierte Versorgungsplanung zu sprechen. Allerdings sollten wir es den Politikern auch nicht allzu schwer machen und gemeinsam schauen, wie wir da hinkommen. Dies erfordert aber ein optimales Zusammenspiel der Bundes- und der Länderebene.

Können Sie die unterschiedlichen Aufgaben dieser beiden Ebenen genauer spezifizieren?
Die Entwicklung regionaler Versorgungskonzepte liegt bekanntlich, ausgehend von der Krankenhausplanung, in den Händen der Bundesländer. Allerdings können die Länder aus politischen Gründen ihre Krankenhäuser oft nicht schließen, denn das überlebt keine Landesregierung. Von Seiten der Bundesebene müssen daher Qualitätsindikatoren entwickelt werden, die zu einer sinnvollen Zentralisierung führen. Die Bundesländer müssen dann definieren, wie der Zugang zu den einzelnen Einrichtungen der regionalen Versorgung aussehen soll, sozusagen als Gegengewicht zur Zentralisierung, die ja auch nicht zu weit führen darf. Die Entfernung wäre hier ein probates Surrogat für den Zugang, optimalerweise unter Einbeziehung infrastruktureller Aspekte.

Wird es auch ein Optimum geben, zum Beispiel für einen Indikator wie Entfernung?
Zwischen Zugang und Zentralisierung besteht ein wechselseitiger trade off: je mehr Zentralisierung, um so weiter entfernt ist die Einrichtung, und umgekehrt. Es geht darum, hier für jede Erkrankungsgruppe einen optimalen Kompromiss zu finden, der aber für die unfallchirurgische Versorgung oder die Geburtshilfe in einem anderen Bereich liegen wird als für die Herzchirurgie. Weiterhin hängt das Optimum von der Region ab: Dicht besiedelte Regionen müssen anders bewertet werden als dünn besiedelte Regionen. In der zweiten Linie kann man dann an weiteren Qualitätsindikatoren arbeiten, eben den schon genannten Area-Indikatoren. Auf diese Weise ist eine qualitätsorientierte Versorgungsplanung durchaus zu erreichen.

Was verstehen Sie unter Indikatoren mit dem Ziel der Zentralisierung?
Der wichtigste Indikator besteht in den Erkrankungs- und Prozeduren-bezogenen Mindestmengen. Leider ist hier die Entwicklung zum Stehen gekommen. Auch die bestehenden Mindestmengen haben zu keiner Veränderung der Versorgungsstrukturen geführt. Dabei sind Mindestmengen recht gute Qualitätsindikatoren, sie sagen also Qualität voraus. Allerdings gibt die umfangreiche wissenschaftliche Literatur keinen Hinweis auf eindeutige Grenzwerte, was den Indikator gerichtlich greifbar macht, zumindest soweit er nicht gesetzgeberisch festgelegt wird.

Wie sieht es denn mit der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern aus?
Ich möchte explizit betonen, dass eine qualitätsorientierte, regional bezogene Versorgungsplanung die optimale Kooperation zwischen Bundes- und Landesebene voraussetzt. Anders geht es nicht.

Wer muss beginnen?
Der Bund. Die Bundesebene und hiermit der G-BA muss zuerst die Zentralisierungstendenzen stärken, ohne das wird es nicht gehen. Im Endeffekt wird eine gesetzgeberische Initiative nicht zu umgehen sein.

Ihr Fazit?
Das Ganze ist nur möglich, wenn man ein Rahmenkonzept zugrundelegt, so wie es in den USA und in Großbritannien der Fall ist. In der allerersten Linie hat dieses Rahmenkonzept die Aufgabe, die Ziele von Qualitäts-verbessernden Maßnahmen auf Systemebene zu spezifizieren, vor allem unter Einbeziehung der strukturellen Entwicklungsnotwendigkeiten. Wo wollen wir mit unserer Qualitätssicherung, mit den Qualitätsberichten, mit Pay-for-Performance und einer Qualitäts-orientierten Versorgungsplanung hin? Ohne eine solche Zielbestimmung hat noch kein Qualitätsprojekt funktioniert, im institutionellen Rahmen genauso wenig wie auf Systemebene. Weiterhin sollte ein solches Rahmenkonzept Annahmen darüber enthalten, wie institutionelle, professionelle, ökonomische und Systemfaktoren ineinandergreifen. Insbesondere ist auf die Abstimmung mit den ökonomischen Anreizen von größter Wichtigkeit, denn vor einer Annahme kann ich nur warnen: zu versuchen, mit Qualitätssicherung auf Dauer die negativen Anreize von Vergütungssystemen zu neutralisieren. Da kann Qualität nicht allein helfen, es muss auch die Vergütungslogik weiterentwickelt werden.

Aber es wird doch in Fachdiskussionen immer ein Gegensatz zwischen Qualität und Ökonomie postuliert, siehe der Disput um die „Ökonomisierung der Medizin“?
Diese Diskussion basiert auf der Annahme, dass auf der einen Seite die „gute Qualität“ den ökonomischen Zwängen auf der anderen Seite gegenüber steht. Man verliert dabei leicht aus den Augen, dass die Vergütungssystematik schon immer und in jedem Gesundheitssystem einen Einfluss auf die Qualität der Versorgung hatte; und umgekehrt, dass die Qualität der Versorgung, soweit gesellschaftlich oder professionell/institutionell konsentiert, immer auch auf den Vergütungsrahmen gewirkt hat. Allerdings ist in Deutschland die Qualitätsfrage in den letzten Jahrzehnten oft in eine defensive Funktion gedrängt worden, erst in der Abmilderung etwaiger Auswirkungen der Fallpauschalen, jetzt der DRG usw. Es ist nun an der Zeit, ausgehend von nachvollziehbaren Zielvorstellungen, Qualitätsüberlegungen prospektiv in die Gestaltung eines zukünftigen Gesundheitssystems einzubinden, und nicht erst ex post zur Verhinderung der schlimmsten Auswirkungen ins Feld zu führen.

Das klingt alles relativ skeptisch und besorgt.
Skeptisch und besorgt bin ich nur dann, wenn man mit der bisherigen „Qualitätspoltitik“ weitermachen sollte, ohne die zukünftigen Entwicklungsnotwendigkeiten zu reflektieren. Wir brauchen kein Mehr an akutmedizinischer, Prozeduren-bezogener, sektoral orientierter Qualitätssicherung. Unser Gesundheitssystem steht an einer entscheidenden Stelle, die sektoralen Zentrifugalkräfte nehmen derzeit sogar noch zu und jeder Sektor läuft im Versuch der weiteren Optimierung auf Hochtouren. Auch steht der Übergang in eine regionale, wirklich integrierte Versorgung unmittelbar bevor. Darum bin ich optimistisch, dass die Qualitätsfrage einen entscheidenden Beitrag leisten kann, den nächsten Entwicklungsschritt zu gehen. Daher möchte ich meine Ausführungen auch nicht als Kritik an den zahlreichen Personen verstanden wissen, die sich wirklich in aufopferungsvoller Arbeit um Qualitätssicherung bemühen und die sich vor Ort und in den Gremien dafür eingesetzt haben, damit Qualität bei uns nach vorne kommt. Es ist wirklich viel erreicht worden, aber trotzdem: Es gibt kein weiter so.

Sie haben kürzlich im Auftrag der Gesundheitsstadt Berlin e.V., ein Gutachten (s. dazu auch S. 16) mit dem Namen „Qualität 2030“ vorgestellt, will auch heißen: So lange wird es noch dauern mit der Qualität?
Das Gutachten geht von der Annahme aus, dass Qualität und Qualitätssicherung nur sinnvoll im Rahmen eines Weiterentwicklungskonzeptes des Gesundheitswesens eingesetzt werden kann - und nicht als defensives „Notpflaster“, um die Fehlanreize des Vergütungssystems zu neutralisieren. Wenn man beispielsweise Fragen der regionalen Koordinierung der Behandlung von älteren, mehrfach-chronisch erkrankten Patienten herausgreift, dann wird die Schaffung einer integrierten (statt sektorierten) Versorgung wohl einige Zeit in Anspruch nehmen. Früher wäre besser; in jedem Fall müssen wir aber heute beginnen, Qualitätsindikatoren für solche netzförmigen Strukturen zu entwickeln, denn sonst sind sie plötzlich da, und wir stehen in der Beschreibung der Qualität mit leeren Händen da.

In diesem Gutachten stellen Sie die Forderung auf, dass der Gesetzgeber ein Rahmenkonzept „Qualität 2030“ vorlegen solle, welches umfassend die bis 2030 umzusetzenden Qualitätsinstrumente beschreibt. Ist das Prinzip Hoffnung ohne jede Evidenz?
Nein, ich denke nicht. Die Bewältigung der enormen Qualitätsdefizite, die wir trotz der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems – das ist ja gerade der Punkt – zu vergegenwärtigen haben, und die Weiterentwicklung der Qualitätsindikatoren erfordert vonseiten der Politik klare Richtungsweisungen. Die im G-BA zusammengefasste Selbstverwaltung kann das selbst nicht schaffen. In den USA, Großbritannien und anderen Ländern hat man daher sehr weitgehende Rahmenkonzepte für die Frage von Qualtiät und Sicherheit entwickelt, die eine solche „Wegweiser-Funktion“ aufweisen. Wir brauchen ein deutsches „Crossing the Quality Chasm“, so wie es das Institute of Medicine in den USA als Nachfolgewerk von „To Err Is Human“ vorgelegt hat. Das Gutachten empfiehlt auch, dass das BMG ein jährliches Gutachten zu Qualität und Patientensicherheit vorlegt, um die Fortschritte darzulegen und klarzustellen, dass diesem zentralen Thema der gleiche Stellenwert zukommt wie z.B. die Berichterstattung zur Umwelt oder zur wirtschaftlichen Entwicklung.

Herr Prof. Schrappe, vielen Dank für das Gespräch. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.