Vor zwei Ausgaben kritisierte Prof. Dr. Gerd Glaeske eine Versorgungsforschungsstudie, nun wirkt der Leiter des Zentrums für Sozialpolitik, Co-Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung der Universität Bremen, selbst an einer mit: dem „Versorgungsatlas Schmerz“. Glaeske erklärt den Unterschied.
>> Herr Prof. Dr. Glaeske, kann Versorgungsforschung im Auftrag der Pharmaindustrie überhaupt über alle Zweifel erhaben sein?
Wir haben im Memorandum des Deutschen Netzwerkes für Versorgung deutlich gemacht, dass es seit langem aus der Epidemiologie ein methodisches Instrumentarium gibt, das je nach Fragestellung begründet und kompetent angewendet werden sollte. Daher geht es immer nur um die Fragestellung und die adäquate Auswahl des methodischen Designs für die Versorgungsforschung, nicht um den Auftraggeber.
Wie sind Sie bei dem Projekt „Versorgungsatlas Schmerz“ vorgegangen, das im Auftrag der Kooperanten Grünenthal und der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) durchgeführt wurde, um neue Erkenntnisse zur Behandlungssituation von Rückenschmerzpatienten zu bekommen, was nun wieder originäres Betätigungsgebiet der Pharmafirma ist.
In dem hier zur Diskussion stehenden Projekt wurden Typologien von Schmerzpatienten auf der Basis von GKV-Routinedaten gebildet, um die Versorgung dieser Patientinnen und Patienten besser beschreiben zu können. Dazu wurden Daten der DAK genutzt. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung in der Auswertung von Sekundärdaten und des Wissens um die Möglichkeiten, aber auch Grenzen ihrer Aussagekraft, bin ich als externer Berater in dieses Projekt eingebunden worden, das unter der wissenschaftlichen Leitung des IGES-Instituts durchgeführt wird. Natürlich müssen alle, die an solchen Studien beteiligt sind, über mögliche Interessenskollisionen Auskunft geben. Bei mir gibt es weder im Hinblick auf die DAK noch auf die Firma Grünenthal einen solchen Konflikt anzumelden, der die Ergebnisse beeinflussen würde. Zudem gibt es in der vorliegenden Studie keinerlei Hinweise auf einzelne Arzneimittel oder Hersteller, schon gar keine Empfehlungen. Diese Studie zeigt vielmehr, welche Möglichkeiten eine Kasse durch eine kontinuierliche Auswertung von Versorgungsdaten für ihre Schmerzpatienten hat, dem Risiko einer Chronifizierung vorzubeugen, die zum einen die Lebensqualität der Betroffenen erheblich einschränkt und zudem auch noch unnötig teuer ist.
Sie warfen in der Ausgabe 05/09 von „Monitor Versorgungsforschung“ in einem Kommentar Herrn Prof. Rychlik vor, für das Pharmaunternehmen Merz eine Versorgungsforschungsstudie mit „Marketingcharakter“ erstellt zu haben. Was haben Sie beim „Versorgungsatlas Schmerz“ getan oder eben auch vermieden, um diesen Vorwurf – der mit dieser Frage nicht impliziert werden soll – erst gar nicht aufkommen zu lassen?
Die Studie von Herrn Rychlik hat sich in einer meiner Erachtens unzulässig eingeschränkter Weise mit einem einzigen Wirkstoff beschäftigt, der bei Menschen mit Demenz eingesetzt wird, um Auswirkungen z. B. auf den Umfang der Pflegeleistungen zu bewerten. Es wurde kein Vergleich zu anderen, oftmals besser bewerteten Antidementiva aus dem Bereich der Cholinesterasehemmer gezogen, um auch ein relatives Bild von einem möglichen Nutzen zeigen zu können. Diese Herangehensweise stimmt eben nicht mit den Voraussetzungen für Versorgungsforschung überein, wie wir sie auch im Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung fördern.
Weil eben Versorgungsforschung generalistischer zu verstehen ist.
In der Versorgung geht es eben nicht um absolute Darstellungen, sondern um den Vergleich unterschiedlicher Optionen, die für die jeweiligen Patientinnen und Patienten in Frage kommen. Und dann sollte entschieden werden, welche Maßnahmen für welche Patientengruppen Vor- oder Nachteile haben. Absolute Aussagen über die Auswirkungen nur eines einzigen untersuchten Arzneimittels zur Behandlung von Menschen mit Demenz mit zudem noch positiven Ergebnissen kann aber nicht anders bewertet werden als eine Marketingstudie zugunsten dieses einen Arzneimittels. Im „Versorgungsatlas Schmerz“ sind zwar alle Gruppen von Schmerzmitteln genannt, es wird aber zunächst eine deskriptive Darstellung der Versorgungssituation angeboten, einzelne Präparate stehen in dieser Studie genau so wenig zur Diskussion wie die Propagierung bestimmter Schmerzmittelgruppen.
Es gibt nun die Forderung des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, dem Sie auch angehören, dass 0,1 % der GKV-Ausgaben seitens der Kassen in Versorgungsforschung investiert werden sollten, damit genau solche Untersuchungen durchgeführt werden können. Die Pharmaindustrie wird doch Versorgungsforschungsstudien selten bis nie durchführen können oder wollen, bei denen ihr Produkt einen Nachteil haben könnte. Welcher Finanzierungsansatz für Versorgungsforschung wäre denn überhaupt möglich bzw. adäquat?
Ich bin im Hinblick auf eine solche Forschungsfinanzierung für eine Pool-Lösung. Eine der wenigen positiven Passagen des CDU/CSU/FDP-Koalitionsvertrages weist ja auch darauf hin, dass die Versorgungsforschung gestärkt und ausgebaut werden soll. Insofern sollten neben der GKV auch die PKV und andere Sozialversicherungssysteme an der Finanzierung der Versorgungsforschung beteiligt werden, die allesamt einen Vorteil von den Ergebnissen haben können. Dabei geht es vor allem um Fragestellungen, die, warum auch immer, von interessierten Herstellern nicht finanziert werden, z. B. weil ein direkter Vergleich bestimmter therapeutischer Ansätze vermieden wird – man könnte ja zu den Verlierern gehören. Es geht aber auch um Fragestellungen, die nichts mit Produkten, sondern mit persönlich erbrachten Leistungen zu tun haben, denken Sie an Physiotherapie oder Psychotherapie. Hier benötigen wir dringend Studien, um den Nutzen der jeweiligen Angebote besser beurteilen zu können. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.