Pharmazeutische Innovationen: Sind GKV-Versicherte bereit, für neuartige Insuline zu bezahlen? – Ermittlung der Präferenzen durch ein Marktexperiment
Im Jahre 2005 empfahl das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), gewisse Arten von Insulin (sog. kurzwirksame Insulinanaloga) aus dem Leistungskatalog der GKV auszuschließen. Die Begründung lautete, es gebe für die Patienten keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber der Behandlung mit Humaninsulin. Dieser Entscheid führte zu einer intensiven Debatte darüber, welche medikamentösen Fortschritte von der GKV vergütet werden sollen.
>> Aus gesundheitsökonomischer Perspektive sind stets die Präferenzen der Versicherten und Patienten entscheidend: Werten sie die Unterschiede in den Produkteigenschaften von „Insulindetemir“ gegenüber Humaninsulin positiv? Dieser ökonomische Nutzen lässt sich in einer Zahlungsbereitschaft für die Produkteigenschaften sowie das Arzneimittel als Ganzes ausdrücken. Die Kosten-Nutzen-Analyse legt dazu das folgende Kriterium nahe: Wenn die Zahlungsbereitschaft auch jener Menschen, die nicht auf Insulin angewiesen sind, die Zusatzkosten des neuen Präparats übersteigt, spricht nichts dagegen, es durch die GKV zu vergüten. Ist die Zahlungsbereitschaft der nicht auf Insulin angewiesenen Menschen niedriger als die Zusatzkosten, kann immer noch die Zahlungsbereitschaft der Diabetespatienten in Form einer Zuzahlung genügen, um die Kosten zu decken.
Die Kosten des neuen Präparates belaufen sich durchschnittlich auf jährlich 226 Euro je Diabetiker. Nicht quantifiziert ist der Zusatznutzen. Um diesen für das Präparat „Insulindetemir“ gegenüber Humaninsulin zu messen, wurde 2007 ein sog. Marktexperiment durchgeführt. Die Befragten wurden gebeten, sich wiederholt zwischen einem Status quo (Humaninsulin) und einer Alternative mit wechselnden Eigenschaften zu entscheiden. Die betrachteten Eigenschaften waren die folgenden:
• Risiko einer Unterzuckerung: Während bei Humaninsulin die Zahl der Unterzuckerungen auf durchschnittlich 1 bis 2 pro Woche geschätzt wird, ist dieses Risiko mit „Insulindetemir“ um durchschnittlich 30 Prozent geringer (siehe z.B. Hermansen 2004, Home 2004 oder Russel 2002).
• Gewichtszunahme während der ersten sechs Monate der Therapie: Gemäß der UK Prospective Diabetes Study Group (UKPDSG 1998) findet die größte Gewichtszunahme zu Beginn der Therapie statt. Während der ersten sechs Monate beträgt sie durchschnittlich 2.5 kg beim Humaninsulin. Mit „Insulindetemir“ lässt sie sich in der Regel vermeiden (siehe z.B. Hermansen 2007, Haak 2003 oder Russel 2004).
• Flexibilität des Injektionszeitpunktes: Beim Humaninsulin hat sich für die abendliche Injektion der Zeitpunkt 22 Uhr etabliert, um auch den Insulinbedarf in den frühen Morgenstunden decken zu können. „Insulindetemir“ weist ein späteres Wirkmaximum auf (siehe z.B. Kurtzhals 2007). Dies erlaubt es dem Patienten, den Injektionszeitpunkt flexibler zu wählen und das Insulin abends bereits vor 22 Uhr zu injizieren.
• Aufbereitung des Präparats: Bei der Anwendung von langwirksamem Humaninsulin muss das Präparat vor der Injektion ausreichend geschwenkt werden, um eine gleichmäßige Verteilung des Wirkstoffes in der Lösung zu erreichen. „Insulindetemir“ benötigt keine Aufbereitung, es kann unmittelbar injiziert werden.
• Finanzierung durch Zuzahlung: Während für Humaninsulin keine Zuzahlung der Patienten verlangt wird, sind Zuzahlungen von jährlich 50, 150 und 300 Euro Teil der Alternative.
• Finanzierung durch erhöhten GKV-Beitrag: Im Status quo bleibt der (Arbeitnehmer-)Beitrag zur GKV unverändert; in der Alternative kommt es zu Zuschlägen von 0,5, 1 und 2 Prozent.
Die Eigenschaften des neuen Präparates entsprechen dabei nicht immer den Eigenschaften von „Insulindetemir“. Durch Variation der Ausprägungen (welche nicht unbedingt realistisch zu sein brauchen, sondern die Befragten zum Wechsel zwischen Status quo und Alternative veranlassen sollen), lassen sich Eigenschaften ermitteln, die den Befragten einen Nutzen stiften. Da sich jedes Mal auch der „Preis“ (Zuzahlung, GKV-Beitrag) des neuen Präparats ändert, können Zahlungsbereitschaften in Euro und Cent für die Produkteigenschaften und für das Präparat als Ganzes ermittelt werden.
Abbildung 1 zeigt ein Beispiel einer Entscheidung, die von 1.100 Versicherten der GKV acht Mal gefällt werden musste. 500 von ihnen litten an Diabetes (200 Typ 1, 150 Typ 2 mit Insulin behandelt und 150 Typ 2 nicht auf Insulin angewiesen).
Ergebnisse des Marktexperiments:
Finanzierung über Zuzahlung
Die Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse des Marktexperiments bei einer Finanzierung durch die Patienten selbst in Form einer Zuzahlung (siehe auch Abbildung 2). Es ist jeweils die Zahlungsbereitschaft für die Eigenschaften von „Insulindetemir“ gegenüber Humaninsulin in Euro pro Jahr angegeben. Diese sind eine Senkung des Unterzuckerungsrisikos um 30 Prozent, Stabilität des Gewichts, erhöhte Flexibilität beim Zeitpunkt der abendlichen Injektion und die Möglichkeit, das Insulin ohne Aufbereitung zu injizieren.
Alle Zahlungsbereitschaften sind positiv und signifikant von Null verschieden, mit wenigen Ausnahmen (in der Abbildung 2 gekennzeichnet durch nicht ausgefüllte Balken). In der Tabelle 1 werden vier Gruppen unterschieden: Nicht-Diabetiker, Diabetiker vom Typ 1, Insulin-naïve Diabetiker vom Typ 2 und mit Insulin behandelte Typ 2 Diabetiker.1 Mit Ausnahme der mit Insulin behandelten Typ 2 Diabetiker ist es die Vermeidung der Gewichtszunahme, die an „Insulindetemir“ am meisten geschätzt wird.
Zwischen den vier Gruppen zeichnen sich erhebliche Präferenzunterschiede ab. So bewegt sich die Zahlungsbereitschaft für eine Senkung des Unterzuckerungsrisikos um 30 Prozent zwischen 28 (Diabetiker vom Typ 1) und 44 Euro (Diabetiker vom Typ 2 ohne Insulin) pro Jahr, falls die Finanzierung mit Zuzahlung erfolgt. Für eine Vermeidung der Gewichtszunahme sind Nicht-Diabetiker und die beiden Gruppen der Diabetiker vom Typ 2 bereit, deutlich mehr zu bezahlen als die Patienten vom Typ 1. Dies macht intuitiv Sinn. Nach Russell-Jones 2007 sind 80 Prozent der Diabetiker vom Typ 2 übergewichtig, und nach Häussler et al. 2005 ist ihr BMI signifikant höher als im Durchschnitt Deutschlands. Hingegen sind Diabetiker vom Typ 1 häufiger untergewichtig und würden daher wohl eher eine Gewichtszunahme begrüßen.
Die Zahlungsbereitschaft für mehr Flexibilität beim Injektionszeitpunkt ist für Patienten vom Typ 1 nicht signifikant von Null verschieden. Sie haben anscheinend gelernt, ihren Tagesablauf zu planen und sehen in dieser Produkteigenschaft keinen zusätzlichen Nutzen. Die Zahlungsbereitschaft der übrigen Gruppen bewegt sich zwischen 25 und 50 Euro pro Jahr. Was schließlich die Aufbereitung mit Schwenken betrifft, so weisen nicht auf Insulin angewiesene Diabetiker dafür keine signifikante Zahlungsbereitschaft auf, im Gegensatz zu den auf Insulin angewiesenen Patienten vom Typ 2.
Zusätzlich weist die Tabelle 1 auch einen „Hang zur Alternative“ aus. Er bildet jene unberücksichtige Faktoren ab, die zur Entscheidung für oder gegen ein Präparat beitragen. Der gezeigte Wert gibt an, wie viel die Befragten bereit sind zu bezahlen, um vom Status quo (Humaninsulin) wegzukommen. Die direkt betroffenen Typ 1 und Typ 2 Patienten sind bereit, 245 bzw. 318 Euro pro Jahr für „Insulindetemir“ aus eigener Tasche zu bezahlen. Besonders interessiert die Zahlungsbereitschaft der nicht direkt Betroffenen. Die Werte betragen hier 790 und 453 Euro jährlich. Offenbar sehen auch die Nicht-Diabetiker einen Vorteil in den Produkteigenschaften von „Insulindetemir“, für den Fall, dass sie selbst im Verlauf ihres Lebens an Diabetes erkranken.
Bei der Interpretation der Schätzungen ist jedoch Vorsicht geboten; die 790 Euro pro Jahr bei den Nicht-Diabetikern und 453 Euro bei den Patienten vom Typ 2, die nicht auf Insulin angewiesen sind, würden sich bei einer realen Kaufentscheidung wohl nicht bestätigen. Diese Überschätzung geht auf den Hang zur Alternative (597 Euro bzw. 287 Euro) zurück, welcher über 75 bzw. 63 Prozent des gesamten Betrags ausmacht.
Ergebnisse des Marktexperiments: GKV-Finanzierung
Die Tabelle 2 (vgl. auch Abbildung 3) zeigt die Ergebnisse des Markt-experiments bei einer Finanzierung über den GKV-Beitrag. In diesem Falle muss bei Krankheit wie auch bei Gesundheit für das Präparat bezahlt werden. Die Zahlungsbereitschaft der nicht mit Insulin behandelten Befragten wurden deshalb mit ihrer eigenen, subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit gewichtet, in ihrem späteren Leben an Diabetes zu erkranken.2
Aus der Abbildung 3 geht hervor, dass (mit Ausnahme der Diabetiker vom Typ 1) wiederum die Vermeidung einer Gewichtszunahme die größte Zahlungsbereitschaft hervorruft. Dies sowie die Verwendung ohne Aufbereitung werden von den mit Insulin behandelten Patienten vom Typ 2 an sich besonders hoch geschätzt. Doch sind die Standardfehler dieser Schätzwerte so groß, dass sie nicht signifikant von Null verschieden sind (gekennzeichnet durch nicht ausgefüllte Balken). Ein Grund für diese (in der Abbildung 2 bei dieser Gruppe nicht beobachtete) Streuung könnte sein, dass manche Betroffene vielleicht nicht sicher waren, ob sie bei einer Finanzierung durch die GKV tatsächlich Zugang zu einem neuen Diabetespräparat haben würden. Die drei übrigen Gruppen weisen systematische Präferenzunterschiede auf, indem die Diabetiker vom Typ 1 die vier Produktattribute am höchsten werten. Ihre Zahlungsbereitschaft für die Senkung des Unterzuckerungsrisikos um 30 Prozent erreicht 34, diejenige der Nicht-Diabetiker dagegen nur 11 Euro pro Jahr.
Erstaunlicherweise haben sie auch für die Vermeidung einer Gewichtszunahme die höchste Zahlungsbereitschaft über den GKV-Beitrag, obschon sie eher unter- als übergewichtig sind. Für die größere Flexibilität beim Injektionszeitpunkt weisen die nicht direkt Betroffenen immerhin Zahlungsbereitschaften von 7 bzw. 19 Euro pro Jahr auf. Ähnliche Beträge gelten auch für die Verwendung ohne Aufbereitung. Schließlich haben auch die Nicht-Diabetiker einen ausgeprägten Hang zur Alternative, der (auch ohne Gewichtung mit der subjektiven Erkrankungswahrscheinlichkeit) mit 176 Euro sogar die 130 Euro der Diabetiker vom Typ 1 übertrifft.
Die Zahlungsbereitschaft für das Präparat „Insulindetemir“ als Ganzes liegt zwischen 182 (Typ 2 ohne Insulin) und 299 Euro pro Jahr (Typ 1); der Wert von 1.089 Euro der Gruppe „Typ 2 mit Insulin“, lässt sich von Null nicht mit Sicherheit unterscheiden. Generell sind die geschätzten Zahlungsbereitschaften etwas hoch und dürften sich in realen Kaufentscheidungen nicht immer bewahrheiten.
Vergleich der beiden Finanzierungsformen
Es ist zu erwarten, dass die geschätzten Zahlungsbereitschaften der vier Gruppen von der Finanzierungsform abhängen. Die Nichtbetroffenen (Nicht-Diabetiker und insulin-naïve Diabetiker vom Typ 2) dürften eine Präferenz für die Variante „Bezahlung durch die Patienten selbst“ haben. Bei den Betroffenen (Diabetiker vom Typ 1 und auf Insulin angewiesene Diabetiker vom Typ 2) müsste es genau umgekehrt sein: Sie sollten der Finanzierung durch erhöhte Beiträge zur GKV den Vorzug geben, welche die Last auf alle Mitglieder der Solidargemeinschaft verteilt.
Diese Erwartungen werden durch die in Tabellen 1 und 2 eingetragenen Gesamtwerte bestätigt. Im Falle der Finanzierung durch Zuzahlung beträgt die Zahlungsbereitschaft der Nicht-Diabetiker 790 Euro und diejenige der insulin-naïven Diabetiker vom Typ 2 (die damit rechnen müssen, in Zukunft auf Insulin angewiesen zu sein) noch 453 Euro pro Jahr. Bei einer Finanzierung über erhöhte GKV-Beträge gehen diese Werte auf 232 und 182 Euro zurück. Bei den Diabetikern vom Typ 1 und vom Typ 2 mit Insulinbehandlung dagegen ist die Zahlungsbereitschaft mit 248 und 318 Euro pro Jahr niedrig, wenn sie selbst für das Arzneimittel aufkommen sollen. Sie steigt auf 299 und (nicht signifikante) 1.089 Euro, falls die Finanzierung über erhöhte Beiträge erfolgt. Entscheidend ist jedoch die Feststellung, dass auch die Nicht-Diabetiker bereit sind, für das Präparat „Insulindetemir“ einen höheren GKV-Beitrag zu leisten, der die Zusatzkosten von rd. 226 Euro pro Jahr deckt. Dies ist auf Grund des geschätzten Betrags von 232 Euro der Fall.
Die Gründe dafür können verschiedener Natur sein. Einerseits ist denkbar, dass auch Nicht-Diabetiker bereit sind, einen Teil ihres Einkommens zu opfern, damit Diabetiker weniger an ihrer Krankheit leiden müssen und eine etwas höhere Lebensqualität genießen können. Zum anderen haben auch Nicht-Diabetiker das Risiko, im Laufe ihres Lebens an Diabetes zu erkranken. Um sich in diesem Falle eine möglichst gute Behandlung zu sichern, sind sie bereit, bereits heute etwas dafür zu bezahlen.
Fazit
Für den Entscheid, welche medikamentösen Produktinnovationen durch die GKV abgegolten werden sollen, sind aus gesundheitsökonomischer Perspektive die Präferenzen der Versicherten und Patienten entscheidend. Im Falle des langwirksamen Insulinanalogon „Insulindetemir“ stellt sich die Frage: Werten die Versicherten und Patienten die Unterschiede in den Produkteigenschaften von „Insulindetemir“ gegenüber Humaninsulin positiv?
Dieser ökonomische Nutzen lässt sich in einer Zahlungsbereitschaft für die Produkteigenschaften sowie das Arzneimittel als Ganzes ausdrücken. Die Kosten-Nutzen-Analyse legt dazu das folgende Kriterium nahe: Wenn die Zahlungsbereitschaft auch jener Menschen, die nicht auf Insulin angewiesen sind, die Zusatzkosten des neuen Präparats übersteigt, spricht nichts dagegen, es durch die GKV zu vergüten. Andernfalls könnte die Zahlungsbereitschaft der Patienten selbst hoch genug sein, um die zusätzlichen Kosten zu decken.
Mit einem sog. Marktexperiment wurden die Präferenzen durch Befragung von 1.100 GKV Versicherten (davon 500 Diabetiker) im Jahre 2007 ermittelt. Nicht nur mit Insulin behandelte Diabetiker, sondern auch solche, die nur ein orales Arzneimittel benötigen sowie Nicht-Diabetiker ziehen den Ergebnissen zufolge aus „Insulindetemir“ einen zusätzlichen Nutzen gegenüber Humaninsulin. Zwar geben besonders die Nicht-Diabetiker einer Finanzierung durch Zuzahlung den Vorzug, doch ist ihre Zahlungsbereitschaft über einen erhöhten GKV-Beitrag so hoch, dass sie die zusätzlichen Kosten gegenüber einer Behandlung mit Humaninsulin übersteigt. Somit steht auf Grund dieser Kosten-Nutzen-Analyse einer Finanzierung des Arzneimittels „Insulindetemir“ durch die GKV nichts entgegen. <<