Univ.-Prof. Dr. med. Matthias Schrappe ist Direktor des Instituts für Patientensicherheit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Mitbegründer des Zentrums für Versorgungsforschung Köln (ZVFK) sowie des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF). Er leitet als Tagungspräsident den 9. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung und zugleich die 5. Jahrestagung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit in Bonn.
>> Herr Professor Schrappe, Sie sind Tagungspräsident des 9. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung, der zugleich die 5. Jahrestagung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit ist und auch vom Institut für Patientensicherheit ausgerichtet wird, das Sie leiten. Sie blicken auf acht bzw. neun Kongresse zurück und damit auf fast eine Dekade Versorgungsforschung in Deutschland. Sind Sie zufrieden mit der Entwicklung, die dieses Forschungsfeld genommen hat?
Sagen wir es so: Ich bin nicht unzufrieden mit dem Erfolg der Versorgungsforschung in Deutschland, aber es könnte noch mehr passieren. Wenn ich zurückdenke an die Anfangsjahre, so 2000 oder 2001, als wir immer wieder erklären mussten, dass Versorgungsforschung nun rein gar nichts mit dem Versorgungszentrum Köln - das die Cafeteria und die Mensa der Uniklinik betreibt - zu tun hat, dann haben wir schon Fortschritte vorzuweisen.
Immerhin hat der Begriff Versorgungsforschung gleich zweimal Einzug in die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP gefunden, was eine absolute Premiere war.
Da hat die Politik einmal ein offensichtliches Zeichen der Zeit erkannt. Denn Versorgungsforschung kommt immer dann zum Zuge, wenn die evidenzbasierte Medizin ihren Siegeszug bereits angetreten hat – und das ist nun einmal in Deutschland wie auch in den meisten anderen entwickelten Gesundheitssystemen der Welt der Fall.
Warum ist das so?
Weil wir durch die evidenzbasierte Medizin sehr viele Erkenntnisse gewinnen, die wissenschaftlich gut belegt sind und demgemäß auch eingesetzt werden müssten. Wenn man aber die Realität der Gesundheitsversorgung im Blick hat, kommt ebenso sicher die Frage auf, warum bestimmte, durch EBM verfügbare Erkenntnisse in die Versorgungsrealität keinen oder nur marginalen Einzug finden.
Weil?
... die evidenzbasierte Medizin durch kontrollierte Studien oder in einem systematischen Review zwar die Validität des Wissens sehr gut beschreiben und auch integriert darstellen kann, aber es nun einmal immer eine gewisse Lücke zwischen dem kognitiv vorhandenen Wissen und der tatsächlichen Umsetzung in der Praxis gibt. Diese Lücke bezeichnet man auch als den „Effectiveness Gap“.
Und in die stößt dann die Versorgungsforschung. Aber: Warum erst so spät? Warum erst seit wenigen Jahren?
Man kann erst sinnvoll über Versorgungsforschung diskutieren oder sie anwenden, wenn man die evidenzbasierte Medizin kennen und auch schätzen gelernt hat. Das war auch für mich persönlich gesprochen einer der wichtigsten Schritte in meiner beruflichen und wissenschaftlichen Entwicklung. Wenn ich an die Zeiten – und die sind noch gar nicht so lange her - zurückdenke, in denen wir noch über die Sinnhaftigkeit von randomisierten Studien gesprochen haben und es fast eine Majestätsbeleidigung war, wenn man nachfragte, ob das, was Ärzte jeden Tag machten, eigentlich irgendwo wissenschaftlich bewiesen ist, dann war das der Nährboden, auf dem Versorgungsforschung heute aufsetzt.
Vielleicht auch, weil erst nach genügender Evidenz die Frage auftauchen kann, was mit der Umsetzung des generierten Wissens in die Wirklichkeit passiert. Das hieße im Umkehrschluss aber auch, dass erst die Stufe der Evidenz erklommen werden muss, bevor man die nächste Erkenntnisstufe angehen kann.
Das ist – in Abstufungen - in allen entwickelten Gesundheitssystemen zu beobachten. Zuerst kommt evidenzbasierte Medizin, dann Leitlinien und danach erst die Qualitätsfrage, die immer eine Exemplifizierung des vorhandenen Wissens ist. Und dabei merkt man ziemlich schnell, dass wir zum einen insgesamt recht wenig wissen, zum anderen aber auch, dass Wissen in der Realität oft nicht angewandt wird. Auf der „letzten Meile“ in die Alltagsversorgung geht eine Menge verloren.
Muss diesen Weg jede Gesellschaft alleine gehen oder kann man von einander lernen?
Wir werden keine großen Unterschiede in den grundlegenden Entwicklungszyklen beobachten, ob wir nun ein rein marktwirtschaftliches, ein sozialpartnerschaftliches oder ein staatliches Gesundheitssystem betrachten.
Also könnten die Learnings aus dem Ausland doch größer sein als man tatsächlich aufgrund der doch großen Unterschiedlichkeit der Systeme zur Zeit glaubt?
Unbedingt! Die Diskussion, die wir heute noch führen, wurde in den USA in den Jahren 2000 bis 2002 in ähnlicher Form geführt. Man könnte also sehr viel lernen.
Doch wenn man mit Politikern spricht, herrscht eher die Meinung vor, dass man eigentlich recht wenig lernen kann, weil die Endstufe, eben die letzte Meile, zu unterschiedlich ausgeprägt ist.
Diese systemübergreifenden Gemeinsamkeiten gelten für das grundsätzliche Konzept der Versorgungsforschung, das im Endeffekt auf den Effectiveness-Gap fokussiert – eben die Frage adressiert, was tatsächlich auf dieser letzten Meile, übrigens ein Begriff, den Holger Pfaff geprägt hat, passiert. Dieses grundsätzliche Konzept muss man jedoch strikt von dem abgrenzen, was Versorgungsforschung an tatsächlichen Ergebnissen generiert.
Das heißt: Die Struktur, das Konzept ist ähnlich, indes die Ergebnisse nach Gesellschaften und nach Strukturen der Systeme recht unterschiedlich, weshalb die Ergebnisse der Versorgungsforschung auch immer auf den jeweiligen nationalen oder gesellschaftlichen Rahmen bezogen sein müssen.
Das liegt nicht nur am Gesundheitssystem, sondern auch an der Verfasstheit der Institutionen des Gesundheitssystems, der Ausbildung und Kultur der Gesundheitsberufe und auch an den Patienten bzw. Versicherten. Die Einstellungen der Patienten und deren soziale und ethnische Hintergründe sind maßgeblich an der Umsetzung des vorhandenen Wissens beteiligt. Das fängt an bei der Geschlechterfrage und geht bis zu ethnischen Unterschieden, sozial-kulturellen Prägungen und Präferenzen.
Nun stellen Sie das Thema Sicherheit ins Zentrum des kommenden Versorgungsforschungs-Kongresses. Warum?
In den vergangenen Jahren ging es in den Kongressen hauptsächlich um den Effectiveness-Gap und den Innovationstransfer als zentrale Aufgabe der Versorgungsforschung, davor waren die Rahmenbedingungen für Disease Management oder auch Prävention und soziale Gerechtigkeit im Fokus. Jetzt aber nähern wir uns in der inhaltlichen Arbeit im Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung der Qualitäts- und Sicherheitsfrage. Darum werden wir uns im Kongressthema genau mit dieser Frage beschäftigen.
Die Definitionsarbeit auch in Form von Memoranden scheint geleistet zu sein, nun geht es an die Details?
Die Memoranden haben sich zunächst mit dem Begriff der Versorgungsforschung und den strukturellen Grundlagen beschäftigt. Das sogenannte Memorandum III umfasst methodische Aspekte der Versorgungsforschung. Entsprechende Texte, zum Beispiel zu Registerstudien und zur Gesundheitsökonomie, sind jetzt verabschiedet, und nun geht es beispielsweise mit der Qualitäts- und Sicherheitsforschung weiter. So habe ich im Netzwerk Versorgungsforschung die Aufgabe übernommen, eine Arbeitsgruppe für ein Memorandum zur Methodik der Qualitätsforschung, speziell der Patientensicherheitsforschung, zu etablieren, was ein recht komplexes wie kompliziertes Gebiet ist.
Weil wir es gerade bei der Sicherheitsforschung charakteristischerweise mit schweren, aber eben recht seltenen Ereignissen zu tun haben?
Exakt. Patientenverwechslungen zum Beispiel passieren nun glücklicherweise nicht jeden Tag. Denn wenn so etwas geschieht, ist es meist dramatisch.
Und wie wollen Sie dann das Thema erforschen?
Wenn man die Wirksamkeit von Interventionen zur Verhinderung einer Verwechslung untersucht, dann müsste man eigentlich warten, bis in einer Kontrollgruppe ein bestimmtes Ereignis auftritt, während es in der Interventionsgruppe dagegen seltener auftritt. Um eine genügende Fallzahl zu bekommen, müsste man bei diesen seltenen und schweren Ereignissen wahrscheinlich Studienzeiten von zehn Jahren einplanen, um irgendwie einen Unterschied beobachten zu können.
Mit all den sicher zu erwartenden ethischen Implikationen.
Genau. Man müsste die Kontrollgruppe sozusagen unberührt laufen lassen, was völlig unmöglich ist, weil sich dies bei Patienten- wie Seitenverwechslung oder „nur“ bei vergessenen Bauchtüchern, einem weiteren „Klassiker“ in der Patientensicherheit, verbietet.
Welche mögliche Lösung gäbe es?
Bei einer aktuellen Studie zur Patientenverwechslung arbeiten wir beispielsweise mit Surrogatmarkern.
Wobei man in der klinischen Forschung inzwischen recht froh ist, dass man endlich von meist umstrittenen Surrogatmarkern wegkommt.
Was ja auch richtig ist. Denn zum Beispiel ist es in der Onkologie nun einmal eine berechtigte Frage, ob es entscheidend ist, ob ein Tumor nun um zwei Zentimeter kleiner geworden ist, oder ob man nicht doch die Überlebenszeit als Endpunkt verwenden muss. Es kommt immer darauf an, ob Surrogatmarker für den Patienten, für dessen Lebensqualität, das Gesamtüberleben oder andere „harte klinische Endpunkte“ ein relevantes Ergebnis sind oder nicht. In der Versorgungsforschung muss man sich dennoch bei solchen Fragestellungen sehr wohl kritisch und wohl wissend, was man tut, mit solchen Surrogaten beschäftigen.
Mit welchen zum Beispiel bei der Frage der Patientenverwechslung?
Ein Endpunkt ist beispielsweise, ob die Patienten, bevor sie das Patientenarmband angelegt bekommen, nach ihrem Ausweis gefragt worden sind oder nicht. Denn was nützt das beste Patientenarmband, wenn der falsche Name draufsteht oder wenn er falsch geschrieben ist? Das mag nun marginal klingen, aber es ist gibt Untersuchungen, dass bis zu 20 Prozent der Patientenarmbänder Fehler aufweisen – ob nun in der Anwendung oder in dem, was draufsteht. Ein weiterer Surrogatparameter wäre die Frage, ob in den Papierkrankenakten falsch abgeheftete Befunde abgelegt sind, was leider immer noch recht häufig der Fall ist.
Wobei bei letzterem Fall wohl nichts Großes passieren wird.
Aber es ist ein Anzeichen für ein grundlegendes Sicherheitssproblem. Wir wissen aus der Analyse von solchen Fällen, dass genau das ein Frühmarker ist. Solche Frühmarker können wir nun messen und annehmen, dass - wenn diese Beobachtungs-Endpunkte in der Interventionsgruppe seltener werden - auch das Risiko für eine tatsächliche Patientenverwechslung abnimmt.
Dann sind diese Frühmarker quasi Surrogatmarker für eine Art Sicherheitskultur.
Das kann man so sagen. Moderne Fehlerkonzepte basieren auf dem Begriff der Fehlerkette, weil meist die Verkettung unglücklicher Umstände zu tatsächlichen Fehler führt. Auch das ist ein Punkt, warum Patientensicherheitsforschung so schwierig ist.
Ist das auch ein Grund, warum Sicherheitsforschung erst jetzt so richtig angegangen wird?
In allen entwickelten Gesundheitssystemen werden - wissenschaftstheoretisch gesprochen – Themen in einer gewissen Reihenfolge diskutiert. Nach Varianz der Versorgung bzw. den Leitlinien folgt die Problematik der Qualität der Versorgung. Und nach der Einführung pauschalierter Entgeltsysteme (z.B. DRG) im stationären Leistungsgeschehen kommt regelhaft die Thematik der Sicherheit auf. Auch das ist in allen Ländern gleich.
Sicher auch, weil das Versorgungsgeschehen transparenter wird. Doch meist wird diese Diskussion aus der Ökonomie heraus geführt, weniger aus dem Themenumfeld Qualität oder Patientensicherheit.
Safety-Probleme sind da eine Ausnahme. Denn Sicherheit hat eine immense ökonomische wie auch ethisch-professionelle Bedeutung. Wenn man sagt, man arbeitet als Arzt, oder bietet als Krankenhaus, als einzelne Arztpraxis, als Arztnetz oder als MVZ eine Leistung an, dann gibt es eigentlich keine andere Möglichkeit, als dass man das auf einem optimalen Sicherheitslevel macht. Wer das verneint, müsste sich eigentlich letztendlich aus dem System verabschieden.
Das ist eine ethische Forderung, die Sie in den Raum stellen. Aber ist das Realität, wenn man beispielsweise an die sich formierenden MVZ denkt, die im Zweifel eher nach ökonomischeren Grundmustern funktionieren als eine ärztliche Einzelpraxis?
Gerade wenn wir über Versorgungsforschung sprechen, reden wir ja auch darüber, dass ethische Werturteile a priori gesetzt sind - ob bei den Patienten, bei den Politikern oder den Ärzten und anderen Angehörigen der vielen Gesundheitsberufe. Bei allen gibt es ethische Grundeinstellungen und Werte. Wer aber beginnt, aus ökonomischen Gründen wissentlich Safety-Standards zu verletzen, der muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob er diese Leistung überhaupt anbieten sollte oder darf.
Aber woran liegt es denn nun, dass allseits an ethische Werte und Grundeinstellungen appelliert wird, aber dass beispielsweise bekannte Leitlinien in der Regel noch ziemlich mangelhaft umgesetzt werden?
Das ist ein typisches Versorgungsforschungsthema. Die Leitlinien sind auf Basis der EBM erstellt. Und glücklicherweise haben wir dabei in Deutschland ein recht hohes Niveau erreicht. Aber nun stellen wir erstaunt fest, dass diese Leitlinien, in denen oft das ganze Wissen eines Berufsstandes integriert ist, in der Wirklichkeit nicht oder zu wenig angewandt werden.
Liegt es an den Ärzten?
Sicher, sie sind ja für die Behandlung verantwortlich. Doch das ist kein Wissensproblem, sondern ein Problem von Haltungen und von Einstellungen, wie wir sie im Wissens- und vor allem Innovationstransfer oft beobachten.
Oder wäre da auch die zunehmende Ökonomisierung als Faktor zu nennen?
Die These der Ökonomisierung beschreibt ja das Fortschreiten des unternehmerischen Prinzips im Gesundheitswesen und gilt traditionell am ehesten im ambulanten Bereich. Im stationären Bereich besteht für das Handeln des Arztes ja weiterhin, im Rahmen der zum Beispiel durch interne Leitlinien gegebenen Bedingungen, eine große Freiheit des Handelns. Die Frage, ob die mangelnde Leitlinien-Adhärenz mit der Ökonomisierung der Medizin zusammenhängt, würde ich insofern negativ beantworten. Ich würde sogar eher das Gegenteil behaupten, weil zumindest die Chance besteht, dass diese Entwicklung die Leitlinienanwendung fördert.
Wie das?
Als ich vor bald zwanzig Jahren anfing, Leitlinien mitzugestalten, habe ich schon damals immer argumentiert, dass die Leitlinie für den Patienten, der sich nach Lehrbuch verhält und der keinen ungewöhnlichen Krankheitsverlauf hat, den Ärzten die Zeit und geistige Kapazität gibt, sich dem außerordentlichen Patienten zuzuwenden. Darum sollte jeder Arzt Leitlinien verwenden für das, was nach Standard läuft; und wissen, wann er sie verlassen muss.
Wobei sich hinter diesem Themenkreis auch die viel beschworene „ärztliche Kunst“ verbirgt.
Ärztliche Kunst ist gerade in der Fehlerdiskussion ein extrem schwieriger Begriff, weil wir vom Begriff des Kunstfehlers wegkommen müssen. Der Begriff des Kunstfehlers impliziert nämlich, dass jemand eine Kunst ausübt. Doch die ärztliche Tätigkeit ist im Vergleich zu der eines Künstlers nun einmal regelgebunden, und zwar sowohl aus sozialrechtlicher, haftungsrechtlicher und wissenschaftlicher Sicht. Deswegen ist der Begriff der ärztlichen Kunst eher ein Begriff aus der Vergangenheit.
Sehr wohl reflektiert dieser Begriff aber das unmittelbare Erleben einer Arzt-Patienten- oder Patient-Arzt-Beziehung.
Der ärztliche Beruf ist ein sehr intimer Beruf, gerade die Arzt-Patienten-Beziehung hat immer etwas Unfassbares und immer sehr Individuelles - aber hat deswegen noch lange nichts mit Kunst zu tun. Der Begriff „Kunst“ ist einfach der falsche Begriff für diese hoch komplexe und ebenso höchst individuelle persönliche Interaktion zweier Partner in einem therapeutischen Prozess.
Die wiederum auf das Thema Patienten- und Struktursicherheit reflektiert. Oder auch auf die Frage: Wie reagiert ein Arzt, wenn wirklich etwas passiert?
Der Arzt-Patienten-Interaktion kommt eine ganz besondere Bedeutung zu, gerade wenn sich eine Komplikation ereignet hat.
Aber wie geht denn ein Arzt mit seinem Patienten oder dessen Angehörigen um, der vielleicht einen schweren Schaden durch ihn erlitten hat?
Da ist wirkliche Kommunikation und tatsächliche persönliche Interaktion gefragt. Doch das lernen die meisten Ärzte in ihrem Studium gar nicht. Deswegen versuchen wir hier in der Universität Bonn derartiges zu lehren: Wie entschuldige ich mich? Was tue ich, wenn ein solches ungewünschtes Ereignis passiert ist, für das man die Verantwortung übernehmen muss?
Und das in einer Situation, in der sich Scham und Entsetzen mischen.
Sich dann zu entschuldigen, ist bestimmt nicht das Einfachste auf der Welt. Aber es zeigt sich, dass ein Patient einem Arzt auch verzeihen kann, weil der Patient weiß, dass auch ein Arzt nicht fehlerfrei ist.
Wenn Ärzte bereit wären, eine andere Rolle einzunehmen als früher.
Es handelt sich mehr um eine Klärung im Rollenverständnis. Von Ärzten wird heute mehr denn je verlangt, dass sie Verantwortung übernehmen. Verantwortung ist der zentrale Begriff: Verantwortung für Qualität, Verantwortung für Sicherheit und vor allem auch Verantwortung für das eigene Verhalten.
Was nicht so einfach ist, wenn man sich in dem Tabu gefangen fühlt, über Fehler nicht reden zu dürfen.
Früher hat man gesagt: Ärzte machen keine Fehler, weil wir nicht darüber reden; und wir reden nicht darüber, weil wir keine machen. Der Aufwand, dieses Tabu aufrechtzuerhalten, obwohl Fehler täglich passieren, ist immens. Doch dieses Verhalten ist nicht mehr aktuell: Heute bringen wir der nachwachsenden Ärzte-Generation bei, über Fehler zu sprechen, was für deren Autonomie im Beruf und für deren persönliche Selbstständigkeit eine immens erleichternde Bedeutung hat.
Kann man sagen, dank zunehmender Standardisierung und vielleicht auch Ökonomisierung gibt es so etwas wie eine Realorientierung?
Jedes ökonomische Prinzip übt Zwänge aus, die negativ wie positiv sein können. Doch gerade in der Quality-Safety-Diskussion sind es eher positive.
Kommt dieses Thema in ähnlicher Form in Ihrem Kongress vor?
In Teilbereichen sicher. Wir sprechen zum Beispiel über die so genannte „Second Victim“-Problematik. Hier kommt auch das Thema „Entschuldigung“ zur Sprache, aber ebenso mögliche Reaktionen und Folgen bei den Mitarbeitern. Man vergisst ja oft, welches Entsetzen solche Fehler bei den Verursachern oder auch Mitschuldigen auslösen, das reicht von schweren Verkehrsunfällen auf dem Nachhauseweg bis hin zu Selbstmorden. Und meist ist eben keiner da, mit dem man vertrauensvoll sprechen kann. Daher versucht man heute ein verantwortungsvolles Fehler-Management aufzubauen, was beispielsweise auch die Installation eines Ombudsmanns beinhaltet.
Wie würden Sie das Ziel des Kongresses beschreiben?
Der Kongress hat für die Versorgungsforschung eine wirklich zentrale Bedeutung, weil man an kaum einem Thema Versorgungsforschung so gut exemplifizieren kann wie am Thema der Sicherheit.
Warum ist das so?
Bei der Patientensicherheit ist es eben fast nie so, dass man eine reale Wissenslücke hätte oder ein Umstand nicht bereits wissenschaftlich bewiesen wäre. Im Gegenteil: Es ist fast immer so, dass man im Prinzip ganz genau weiß, wie eine Behandlung ablaufen sollte. Und es ist eben auch kein kognitives Problem, wenn man dann trotzdem Patienten verwechselt oder sich vor dem Verbandswechsel nicht die Hände desinfiziert - trotzdem passiert es in der Hektik des Alltags, eben meist durch eine Aneinanderkettung von kleineren Fehlern.
Wir haben es eben mit einem Umsetzungsproblem zu tun.
Genau das ist die Stärke der Versorgungsforschung und genau deshalb ist die Safety-Thematik ein klassisches Thema für sie: Safety ist absolut outcome-relevant und hat stark mit der adäquaten Umsetzung von Wissen zu tun.
Und dennoch ist das Aktionsbündnis Patientensicherheit, das Sie bis Mai 2009 leiteten, erst im April 2005 gegründet worden – man könnte auch sagen: ziemlich spät.
Was aber logisch ist, wenn man bedenkt, dass bei uns die Qualitätsdiskussion später begann als in anderen Ländern. Aber dafür erfahren wir auch eine große professionelle Unterstützung von allen Seiten. Denn Sicherheit ist so ziemlich das einzige Thema, unter dem sich das gesamte Gesundheitswesen ohne Wenn und Aber zusammengefunden hat.
Und irgendwann wird das Thema Sicherheit auch unter Evidenzgesichtspunkten beleuchtet werden müssen.
Dies wird dann der Fall sein, wenn ein schwerer Zwischenfall in einem Krankenhaus auftritt, das alle gängigen Empfehlungen zur Verbesserung der Patientensicherheit einsetzt. Genau dann wird in vorhersehbarer Weise die Diskussion losbrechen, was für eine modische Geschichte Patientensicherheit doch ist, aber was sie denn wirklich genützt hätte. Und damit wird die Safety-Szene wie in anderen Ländern auch unter der unbedingten Notwendigkeit stehen, Zahlen, eben Evidenz auf den Tisch zu legen. Hierdurch begründet sich auch die Existenz unseres Instituts.
Wie viel Evidenz haben wir in der Sicherheitsdiskussion zur Zeit?
Das ein echtes Problem. In Deutschland haben wir zwar sinnvolle Projekte mit einer durchwegs hohen Augenscheinvalidität durchgeführt. Aber es existiert zur Zeit zum Beispiel keine einzige Studie in Deutschland, die den Nutzen eines Patientenarmbands wirklich aufzeigt.
Man kann es sicher annehmen, aber das reicht künftig ebenso sicher nicht mehr. Aus diesem Grund haben Sie beispielsweise kürzlich eine große bundesweite Krankenhausbefragung gestartet - mit dem Ziel, den Einführungsstand des klinischem Risikomanagements zu eruieren.
Deren Ergebnisse werden erstmals auf dem Kongress vorgestellt. Bei diesem Thema hatten wir eine gute Unterstützung durch Bundes-ärztekammer, Pflegerat, Deutsche Krankenhausgesellschaft und die AOK, für die wir diese Studie sozusagen als Auftragsarbeit durchgeführt haben.
Wird der Kongress für die Safety-Szene eine Art Fünfjahresbilanz?
Ja, nachdem die Amerikaner ihre Fünfjahresbilanz bereits 2005 gezogen haben, sind wir eben erst jetzt im Jahre 2010 so weit. Dafür kommen gleich zwei Dinge zusammen: Für die Safety-Szene ist die Zeit der Evidenz angebrochen, und für die Versorgungsforschung jene der realen Aufgaben, nachdem das Definitorische so ziemlich abgeschlossen ist. Deswegen heißt der Titel des Kongresses „Patientensicherheit im Fokus der Versorgungsforschung“. <<
Das Gespräch führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.