Schuster bleib‘ bei deinen Leisten: Das IQWiG und die Gesundheitsökonomie
Das GKV-WSG hat dem IQWiG eine zusätzliche Aufgabe gegeben: Es soll Kosten-Nutzen-Analysen für Arzneimittel erstellen, auf deren Grundlage der Spitzenverband Bund der Krankenkassen Höchsterstattungsbeträge festlegt. Dabei will der Gesetzgeber, dass diese Analysen „nach den in den jeweiligen Fachkreisen anerkannten internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitsökonomie“ (§ 35 b SGB V) erstellt werden sollen. Immer deutlicher wird, dass das IQWiG weder willens noch in der Lage ist, diesen Auftrag zu erfüllen. Neuester Beleg ist ein Aufsatz des IQWiG-Leiters Peter Sawicki zusammen mit dem leitenden IQWiG-Redakteur und einem beim IQWiG beschäftigten Apotheker mit ökonomischer Zusatzausbildung (Dintsios et al. 2009).
>> In dem Aufsatz wird noch einmal ausgebreitet, warum das IQWiG-Methodenpapier zur Kosten-Nutzen-Analyse (IQWiG 2008) weitgehend von gesundheitsökonomischen Standards abweicht und ein Konzept präsentiert, das nicht in Einklang mit allen bisherigen Vorgehensweisen bei ökonomischen Bewertungen von Gesundheitsleistungen steht. Wieder wird mit Unverständnis quittiert, dass „viele Stellungnahmen, gerade von deutschen Gesundheitsökonomen, besonders kritisch ausfielen“ (Dintsios et al. 2009: 32). Unerwähnt bleibt, dass sich ausländische Ökonomen ausnahmslos kritisch zu dem Methodenpapier geäußert haben und selbst der Wissenschaftliche Beirat des IQWiG sich dieser Kritik angeschlossen hat, obwohl in ihm kaum Fachökonomen sitzen. Zudem verhöhnen die Autoren den Gesetzgeber: Die gesetzliche Forderung der „Verknüpfung von „international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin (ebM)“ und „maßgeblichen internationalen Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie“ stellt an die zukünftigen gesundheitsökonomischen Methoden besondere Anforderungen“ (Dintsios et al. 2009: 34). Und dies bedeutet, folgern die Autoren, dass das IQWiG die Standards der gesundheitsökonomischen Evaluation selbst festlegen muss, unter weitgehender Ausschaltung der gesundheitsökonomischen Fachkreise und deren Erkenntnisse.
Dies ist nach Meinung der IQWiG-Autoren, die diesen Fachkreisen nicht angehören, vor allem auf drei Dinge zurückzuführen: Erstens sind die „Standards der evidenzbasierten Medizin … seit 50 Jahren in der Entwicklung und mittlerweile so weit gereift, dass sie international nicht mehr ernsthaft umstritten sind“ (Dintsios et al. 2009: 34), während dies für die seit 40 Jahren in der Entwicklung befindlichen gesundheitsökonomischen Evaluationsmethoden offenbar nicht gilt. Zweitens ist das deutsche Gesundheitssystem völlig anders als der Rest der Welt, da „es keiner festgesetzten nationalen Budgetierung unterliegt“ (Dintsios et al. 2009: 33); ein Trugschluss, der seit Einführung des § 71 SGB V (Grundsatz der Beitragssatzstabilität) und spätestens seit der Etablierung des Gesundheitsfonds und des einheitlichen Krankenkassenbeitrages deutlich wird. Drittens „ist der Vorschlag des IQWiG der Versuch, das … Solidaritätsprinzip zu bewahren“ (Dintsios et al. 2009: 32). „Gesundheitsökonomie soll also letztlich ein Lebensumfeld mit erschaffen, das einer solidarischen Gesellschaft wichtig ist“ (Dintsios et al. 2009: 34). Und dem genügen nach Meinung des IQWiG international anerkannte gesundheitsökonomische Standards nicht.
Hat das der offenbar völlig naive Gesetzgeber nicht gesehen, als er die §§ 35b und 139a formuliert hat? Und brauchen die Krankenkassen und die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen das IQWiG um „das im deutschen Sozialgesetz verankerte Solidaritätsprinzip zu bewahren“ (Dintsios et al. 2009: 32) und festzustellen, „was eine Gesellschaft als ‚gerecht‘ ansieht“ (Dintsios et al. 2009: 34)? Um doch noch der gesetzlichen Vorgabe gerecht zu werden und die Integrität unseres Wohlfahrtsstaates aufrecht zu erhalten, „hat das Institut ein Gremium internationaler Experten der Gesundheitsökonomie und benachbarter Themengebiete damit beauftragt, solche Standards zu benennen“ (Dintsios et al. 2009: 34). Was die IQWiG Autoren verschweigen, ist, dass dieses Gremium mehrheitlich mit Nicht-Fachökonomen besetzt war, einer der bekanntesten internationalen Gesundheitsökonomen, ein Niederländer, das Gremium verärgert verließ, sich ein zweiter zwischenzeitlich verabschiedete und einer der wenigen Gesundheitsökonomen im nationalen wissenschaftlichen Beirat des IQWiG ebenfalls abdankte.
Eine Erhöhung der gesundheitsökonomischen Fachkompetenz ist beim IQWiG auch in Zukunft wahrscheinlich nicht zu erwarten. Für die Stelle des Leiters der gesundheitsökonomischen Abteilung sieht das IQWiG laut erfolgter Ausschreibung einen Mediziner mit Erfahrung in Versorgungsforschung vor.
Lösen von Paradigmen
Die Bewertung von Gesundheitsleistungen sollte immer interdisziplinär erfolgen, allerdings bedeutet dies nicht, dass sich die Disziplinen gegenseitig bevormunden und im jeweiligen fremden Fachgebiet neue Standards setzen. Wie würde es von Medizinern aufgenommen werden, wenn etwa eine mehrheitlich aus Nichtmedizinern besetzte Kommission den „heiligen Gral“ der EbM in Frage stellen würde? Das Bild des nach Gerechtigkeit und Solidarität strebenden Don Quichote in Gestalt des IQWiG im Kampf gegen den Ungeist des „objektiven Utilitarismus“ der Gesundheitsökonomen (Dintsios et al. 2009: 32) scheint nach aller erfolgten Diskussion reichlich abgenutzt. Wäre es nicht sinnvoll, wenn sich jede Disziplin um die Methoden kümmert, für die sie das Fachwissen hat und sich anderen Disziplinen gegenüber diskursoffen zeigt? Dies ist mittlerweile weltweit die Grundlage eines interdisziplinären Health Technology Assessments (HTA), mit dem sich das IQWiG offenbar immer noch sehr schwer tut.
Dabei ist die Aufgabe, ein leistungsfähiges und zielgerichtetes Methodenpapier zur Kosten-Nutzen-Bewertung für die deutsche GKV zu entwickeln, gar nicht schwer. Es hilft dabei, wenn man sich von dem Paradigma löst: „Der Blick auf andere Länder hilft da nur beschränkt.“ (Dintsios et al. 2009: 34). So blickt z.B. das englische National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) auf eine 10-jährige Erfahrung auf dem Gebiet des HTA einschließlich der ökonomischen Evaluation von Gesundheitsleistungen zurück. Es lohnt sich, die NICE-Methoden anzusehen (National Institute for Health and Clinical Excellence 2008) und an nationale Gegebenheiten anzupassen (Redwood 2008; Schulenburg et al. 2007).
Dann hätte man vielleicht im ersten Anlauf das erreicht, was beim IQWiG-Methodenpapier zu vermissen ist:
• Konsistenz (z.B. differieren beim IQWiG-Methodenpapier die Interpretation der Gesetzeslage im Hauptteil und dem Kostenanhang, sowie die Angaben zur Sensitivitätsanalyse und der zu verwendenden Diskontrate)
• Klare Trennung von Werturteilen und Sachaussagen (die Ableitung der kardinalen Messung des Nutzens bleibt völlig im Dunkeln. Statt das international übliche und seit 40 Jahren erforschte Konzept der QALYs zu adaptieren, spricht das IQWiG vage von einem noch zu entwickelnden Summenscore und der Notwendigkeit von willingness-to-pay Studien)
• Klare Vorgabe von Leitlinien für Studien (das Methodenpapier enthält weder klare Ausführungen zur Kosten- noch zur Nutzenmessung sowie zur Behandlung von Langfristeffekten und Unsicherheiten)
• Vereinbarkeit der generellen Grundlagen der ökonomischen Theorie (die Verlängerung der Effizienzgrenze ist eine normative und willkürliche IQWiG-Erfindung)
• Transparenz (der Prozess der Evaluation bleibt bisher im Dunkel bzw. beliebig)
• Lesbarkeit und Eindeutigkeit in der Sprache (viele Sätze sind nicht verständlich bzw. schlecht aus dem Englischen übersetzt worden. Die zentralen Begriffe wie Kosten, Ertrag, Nutzen, Effekt des Nutzens und Wert des Nutzens sind nicht definiert)
Das NICE hat ein Methodenpapier entwickelt, das eine solide Basis eines systematischen HTA-Programms in Form des Technology-Appraisal-Systems darstellt und eine umfassende und zielgerichtete Bewertung der klinischen und gesundheitsökonomischen Evidenz nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ermöglicht. Dabei wird die Kosten-Effektivität bzw. der Kosten-Nutzwert der zu bewertenden Technologie berechnet, wobei das präferierte Outcome-Maß – das IQWiG würde von einem Summenscore reden – qualitätskorrigierte Lebensjahre (QALYs) sind (Gafni/Birch 2003). Dieses Maß, welches in großen Populationsstudien mit vielen Tausend Menschen rund um den Erdball mit Hilfe der neuesten wissenschaftlichen Methoden entwickelt wurde, ist flexibel und für die Bedürfnisse des jeweiligen Entscheiders adaptierbar.
Bei der Bewertung neuer medizinischer Technologien wird durch das NICE auf ein hohes Maß an Transparenz und Beteiligung der jeweiligen Interessengruppen Wert gelegt. Wie die Abbildung verdeutlicht, lassen sich beim Bewertungsverfahren sechs Phasen identifizieren (Rothgang et al. 2004): Phase 1 kennzeichnet die Priorisierung bzw. Auswahl der Technologien für den Bewertungsprozess durch das Gesundheitsministerium. Eine Technologie wird dann als prioritär angesehen, wenn ein hoher Zusatznutzen oder eine große Kostenbelastung zu erwarten sind. Im Auswahlteam des NICE werden Repräsentanten der Öffentlichkeit und externer Organisationen beteiligt. (National Institute for Health and Clinical Excellence 2008)
Phase 2 betrifft die eigentliche Erstellung des HTA-Berichtes durch eine von derzeit sieben unabhängigen akademischen Forschungseinrichtungen. Die Erstellung des HTA-Berichtes ist wiederum in zwei entscheidende Unterpunkte gegliedert: das so genannte Scoping sowie das Assessment. Beim Scoping werden die wesentlichen Parameter für die Bewertung gemeinsam mit externen Interessengruppen festgelegt: u. a. die Zielpopulation, Alternativen und Nutzenparameter. Während des Assessments wird die der Technologie zu Grunde liegende Evidenz systematisch erfasst und bewertet. Als ein wichtiges Endergebnis wird die Kosten-Effektivität nach Möglichkeit als inkrementelles Kosten-Nutzwert-Verhältnis ausgedrückt. Soweit erforderlich wird dazu ein geeignetes Modell erstellt, um die klinische und ökonomische Evidenz zu synthetisieren. Hersteller und andere externe Interessenvertreter haben die Möglichkeit der Übermittlung eigener Daten und Modelle, die allerdings einem vorgegebenen Standard entsprechen müssen, dem so genannten Reference-Case (Abb. 1.).
Auf der Basis des HTA-Berichtes wird in der dritten Phase die eigentliche Schlussfolgerung für das System des NHS gezogen: Ob und ggf. in welcher Form (allgemein, in Studien, für Subpopulationen) eine Technologie durch den National Health Service angeboten wird. An dieser Stelle kommt unter anderem der so genannte Schwellenwert in die Diskussion. Bis zu welchem Verhältnis von Kosten zu Nutzen sollte eine neue Intervention erstattet werden? Während das IQWiG für jede Indikation einen eigenen Schwellenwert auf der Basis von Kosten und Nutzendaten von am Markt bereits befindlichen Produkten mit einem methodisch und wissenschaftlich ungesichertem Verfahren errechnen möchte, arbeitet das NICE mit einem für alle Indikationen vorgegebenen Korridor von £ 20.000 bis £ 40.000 pro zusätzlichen QALY, wobei Abweichungen vorkommen. Soweit eine Intervention vom NICE Appraisal Committee abgelehnt wird, haben alle am Bewertungsprozess beteiligten Interessengruppen (Consultees) die Möglichkeit, dagegen Einspruch einzulegen. Sobald der Appraisal gültig ist, wird in der vierten Phase des Bewertungsprozesses der Bericht veröffentlicht.
In der fünften und sechsten Phase des Bewertungsprozesses werden die kurz- und längerfristigen Folgerungen des HTA-Berichtes umgesetzt bzw. evaluiert. In der fünften Phase formuliert das NICE seine für die klinische Praxis höchst relevanten Richtlinien, da diese für die lokalen Primary Care Trusts verbindlich sind. Die sechste Phase betrifft die Evaluierung des Impacts der NICE Guidance durch die Healthcare Commission. Jährlich wird ein so genannter Health Check durchgeführt, der u.a. die lokale Situation der Implementierung der Richtlinien des NICE sowie die generelle Performance des NHS evaluieren soll.
Wenn das Studium und die Adaptierung fundierter und im Ausland erprobter Methoden zur Evaluation von Gesundheitsleistungen zu mühsam ist, bietet sich noch ein pragmatischer Weg. Dies ist umso mehr zu empfehlen, da das „IQWiG einen pragmatischen Ansatz“ (Dintsios et al. 2009: 33) präferiert. Es hätte einfach die dritte überarbeitete Fassung des Hannoveraner Konsens adaptieren können (Schulenburg et al. 2007). Dieser Konsens ist eine methodische Leitlinie für die Kosten- und Nutzen-Bewertung von Gesundheitsleistungen in Deutschland, die von über 70 Repräsentanten der Gesundheitsökonomie, der Ärzteschaft, der Krankenkassen, staatlicher Institutionen und der Industrie unterzeichnet wurden. Statt einen unwissenschaftlichen Ansatz zu liefern, der die Anerkennung der gesundheitsökonomischen Fachkreise und der Betroffenen nie erreicht, bietet ein bereits erreichter Konsens viele Vorteile. <<