Versorgungsforschung vor neuen Herausforderungen?
In den letzten Jahren sind in Deutschland die Erwartungen an die Versorgungsforschung, vor allem von gesundheitspolitischer Seite, enorm gestiegen [4, 5]. Ursächlich stehen nicht nur allgemeine gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch die Notwendigkeit durchgreifender Verbesserungsanstrengungen und die Notwendigkeit wirkungsvoller struktureller Innovationen im Vordergrund. Die Versorgungsforschung muss daher ihre konzeptionellen Grundlagen kontinuierlich und nachvollziehbar weiterentwickeln, so wie es in den Memoranden des Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung und in der vollständig neugefassten 2. Auflage des „Lehrbuch Versorgungsforschung“ [2] angestrebt wird.
>> Begriff und Konzept von Versorgungsforschung beziehen sich einerseits auf die Umsetzungsfrage (Wirksamkeit im Alltag, effectiveness) und sprechen die sogenannte „letzte Meile“ an (outcome) [6]. Auf dieser Basis wurde bereits 1988 der Begriff „Outcomes-Research“ geprägt [7, 8]. Die Versorgungsforschung leitet sich in dieser Bezugnahme auf den sog. effectiveness gap [9] von der Klinischen Epidemiologie ab, die sie als zentrales Instrument mit der Evidenz-basierten Medizin gemeinsam hat. Der zweite Ursprung widmet sich der sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der Kranken- und Gesundheitsversorgung sowie ihrer Rahmenbedingungen [10] und steht in der Tradition z.B. von Sozialmedizin, Medizinsoziologie und Public Health. Es resultiert ein kontinuierlicher konzeptioneller Weiterentwicklungsbedarf der Versorgungsforschung, der besonders auf folgende Einflussfaktoren Bezug nehmen muss:
► Outcome: Neben der individuellen Behandlungsperspektive rückt die Populationsperspektive in den Vordergrund
Sowohl Einzelprobleme (Antibiotika-Resistenz) als auch übergreifende Themen (z.B. demografische Situation) sind ohne adäquate Einbeziehung der Populationsperspektive nicht lösbar. Besonders die regionale Perspektive der Versorgungsplanung, die Weiterentwicklung der Vergütungssystematik und die Annäherung von Versicherungs- und Versorgungsfunktion stellen ja nicht nur neue Anforderungen an die Versorgungsgestaltung, sondern müssen die Aufmerksamkeit auf Qualitätseffekte solcher Strukturreformen richten [11].
► Interventionen sind komplex, Interventionen auf Organisations- und Systemebene nehmen an Bedeutung zu
Durch die zunehmende Komplexität und das hohe Innovationstempo der Gesundheitsversorgung ändert sich die Sichtweise auf Interventionen, das lineare Verständnis („Maschinenlogik“) wird durch ein auf Komplexität beruhendes Verständnis abgelöst. Beim Einsatz gezielter Verbesserungsmaßnahmen wurden die sog. complex multicomponent interventions (CMCI’s) zum Standard [12, 13]) die Beobachtung im wissenschaftlichen Experiment gilt dabei selbst als Intervention [14]). Edukative Maßnahmen wie Kommunikations- oder Teamtrainings und das sog. human factors-Training mit Vermittlung von Führungskompetenz weisen eine weitgehende Integration in den jeweiligen Kontext auf (s.u.) und verstehen sich letztlich als soziale Konstrukte [15].
► Aktiver Kontext
Wurden Kontextfaktoren in linearen Modellen noch als konstante, kontrollierbare Größe angesehen, erhält der Kontext selbst eine aktive Rolle beim Zustandekommen der Wirkung (sog. aktiver Kontext). Der Kontext einer Gesundheitsleistung (z.B. Präferenzen und Einstellungen der Patienten, das organisatorische Versorgungssetting, Systemfaktoren [16,17]) kann erhebliche Gesundheitseffekte zeigen, die u.U. größer sind als die der Gesundheitsleistung selbst. Diese sog. Kontextleistung ist in Ausprägung und zeitlichem Ablauf nur schwer vorherzusagen und kann sich im Verlauf einer Evaluation verändern.
► Patientenbezug
Die Patientenorientierung bzw. –zentrierung hat sich für die Entwicklung der Versorgungsforschung als ganz entscheidendes Thema etabliert [18], gerade in Abgrenzung zur Effizienz- und Anbieterorientierung [19, 20]. Nicht nur die gesetzlichen Regelungen z.B. im Patientenrechtegesetz, in der Beauftragung des Institutes für Transparenz und Qualität in der Gesundheitsversorgung (IQTiG) im Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (FQWG) und im Krankenhausstrukturgesetz, sondern auch die Diskussion der Patient Reported Outcome Measures (PROM) ist heute aus der Versorgungsforschung (und insofern auch aus der Qualitätsforschung) nicht mehr wegzudenken [21].
► Verbesserungsperspektive
Nicht allein durch den Terminus Improvement Science [12], sondern auch durch den Imperativ weiterer Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung (z.B. Zielvorgaben des Innovationsfonds) und die Beauftragung des DNVF als beratende Institution des IQTiG (§137a Abs. 7 SGB V) ist die Verbesserung als tragendes Element der Versorgungsforschung implementiert.
► Nutzen und Angemessenheit
Es besteht ein enormer Bedarf an validen Informationen, die die Nutzenbestandteile, die über die efficacy hinausgehen und als Angemessenheit der Behandlungsmethode bezeichnet werden [22], nachvollziehbar beschreiben.
► Validität der Versorgungsforschung
Die Versorgungsforschung in Deutschland hat daher sehr früh mit der Erarbeitung von methodischen Standards begonnen [23]. Dabei konnte einerseits auf das Instrumentarium von Health Technology Assessment (HTA) Bezug genommen werden, andererseits konnte man sich auf Evidence Based Health Care (EBHC) beziehen [24], die sozusagen die EBM der Versorgungsforschung darstellt [25]. Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass die externe Information nur die Basis für entsprechende Entscheidungen darstellt, diese Entscheidungen selbst jedoch nicht ersetzen kann [26].
Konsequenzen für Definitionsansätze und
Konzept
Die geschilderten Einflussfaktoren haben zu einer deutlichen Akzentuierung der international und national eingesetzten Definitionsansätze [10] geführt: komplexen Interventionen und dem aktiven Kontext werden eine größere Bedeutung zugewiesen, das Verständnis von Outcome wird auf Populationen ausgedehnt, und Angemessenheit (Nutzen) und Verbesserung werden als Ziele in den Vordergrund gerückt. In Anlehnung an die Definition von Pfaff [6, S. 13] wird daher folgende aktualisierte Definition von Versorgungsforschung vorgeschlagen [1, 3 S. 11]:
Versorgungsforschung ist ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das unter besonderer Beachtung der Patienten- und Populationsperspektive die Versorgungsstrukturen und -prozesse der Gesundheitsversorgung untersucht und dabei die Angemessenheit der Behandlung und die Verbesserung der Versorgung sowie die Komplexität von Kontext und Intervention in den Mittelpunkt stellt.
Mit der Aktualisierung der Definition geht eine Ergänzung des sog. Throughput-Modells einher [10], das die Transformation der Input-Faktoren zum Output (der unmittelbaren Leistung) und resultierenden Outcome (das beim Patienten ankommende Behandlungsergebnis) beschreibt [3, S. 15]. Die hier zur Diskussion gestellte Erweiterung umfasst vier Punkte (s. Abb. 1):
1. Der Input wird nicht nur auf die Ressourcenausstattung der Patienten bzw. Leistungserbringer (Input-Faktoren 1. Ordnung) bezogen, sondern versteht auch komplexe Interventionen auf Organisations- oder Systemebene und die aktiven Kontextfaktoren als Inputfaktoren (2. Ordnung).
2. In der Konsequenz betrifft das Throughput nicht nur die Modulation der Inputfaktoren 1. Ordnung, sondern auch ganz besonders die Intervention und die Kontextleistung. So wird eine Intervention wie z.B. die Einführung einer OP-Checkliste oder einer Strukturreform auf Systemebene durch den Kontext deutlich beeinflusst und verändert, nicht ohne dass der Kontext seinerseits durch die Intervention geformt wird.
3. Als Outcome gelten nicht nur Patienten-bezogene Endpunkte, sondern auch Populations-bezogene Effekte (z.B. bei Impfungen).
4. Des Weiteren ist das Konzept nicht unidirektional, sondern sieht in der überarbeiteten Fassung zwei Rückkopplungsschleifen jeweils von der Output- und der Outcomeebene vor.
Weiterführende Aspekte
Die konzeptionelle Aktualisierung der Versorgungsforschung hat deutliche Auswirkungen auf die wissenschaftliche Ausgestaltung, die Validität ihrer Aussagen und für das Verhältnis zu den Kooperationspartnern z.B. auf der politischen Ebene:
► Improvement Science und Konzepte der Verhaltensänderung
Der Verbesserungsgedanke [27] bei der Entwicklung und Evaluation von Interventionen hat zu dem Begriff „Improvement Science“ geführt [12]. Dieser noch nicht abschließend definierte Begriff [28] kann als übergreifende Bezeichnung für Konzepte zur Verhaltensänderung auf professioneller und organisatorischer Ebene gelten und steht in der Tradition einer langjährigen Diskussion um die Verbesserungspotenziale von Interventionen wie Leitlinienentwicklung und Evidence-based Medicine. Die Bedeutung solcher Konzepte für die Versorgungsforschung ist gerade im Zusammenhang mit qualitativen Forschungsansätzen sind Hypothesen zur Gestaltung von Veränderung im Gesundheitswesen unabdingbar. Grundsätzlich kann man fünf Gruppen von Modellen zur Verhaltensänderung unterscheiden [29,30,31]:
• lerntheoretische Konzepte
• Konzepte der sozialen Wahrnehmung
• Konzepte des organisatorischen Wandels
• behavioral engineering
• Kontext-bezogene Konzepte.
Neben lerntheoretischen Konzepten, die Lernmechanismen wie das Modelllernen in den Mittelpunkt stellen, existieren Konzepte wie das behavioral engineering, die die aktive Gestaltung der Rahmen- und Anreizbedingungen als Ansatzpunkt für die Verhaltensänderung in das Zentrum rücken. Die Konzepte der sozialen Wahrnehmung (z.B. bei der Leitlinienentwicklung und -implementierung) sind eng mit dem Professionalismus-Konzept verbunden [32]. In der zukünftigen Entwicklung wird es eine große Rolle spielen, inwieweit Konzepte des organisatorischen Wandels (Organisationsentwicklung und Organisationslernen) oder Kontext-bezogene Konzepte (z.B. social marketing) einbezogen werden können.
► Implementation Research
Vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten anhaltenden wissenschaftlichen Diskussion z.B. um die Implementierung von Leitlinien [29], zur Umsetzung von Evidence-based Medicine [33], zu Verbesserungen im Bereich Infection Control [34] und zur Patientensicherheit [35] hat sich der Begriff der Implementierungsforschung (implementation research) herausgebildet und beschäftigt sich speziell mit der Problematik, aus welchem Grund solche Prozess- und Strukturinnovationen – im Gegensatz zu biologisch-technischen Innovationen – so langsam und schwerfällig umgesetzt werden [36]. Überschneidungen mit dem Begriff der Improvement Science (s.o.) sind unübersehbar, jedoch ist der Fokus der Implementation Research insofern breiter, als dass der gesamte Implementierungsprozess einschließlich der Evaluation einbezogen ist.
► Politik als Kontextfaktor
Die Wechselbeziehung zwischen Versorgungsforschung und Politik ist wegen der hohen gegenseitigen Erwartungen besonders relevant. Einerseits erwartet die politische Seite Antworten, die ihr Handeln legitimieren, andererseits erwarten sich die Wissenschaftler politische Resonanz. Der politische Kontext von Interventionen aller Art gehört zu den wichtigsten Kontext-Faktoren, die die Versorgungsforschung hinsichtlich der Gestaltung des Outcomes untersucht. Der politische Kontext (z.B. „Schuldenbremse“) ist dabei nicht in vollem Umfang mit dem gesundheitspolitischen Kontext (z.B. Primärprävention) identisch. Gleichzeitig wirkt die politische Ebene aber auch auf die Versorgungsforschung zurück, indem sie z.B. dessen Themenspektrum beeinflusst, also Fragestellungen bereithält und Entscheidungshilfen einfordert.
► Validität der Aussagen
Insbesondere die genannte Wechselbeziehung mit der politischen Ebene ist mit der Erwartung an die Versorgungsforschung verbunden, ihre Entscheidungsgrundlagen und methodischen Instrumente transparent und nachvollziehbar darzustellen. Die Memoranden des DNVF und das Instrumentarium der EBHC [24] sollen es ermöglichen, die zur Verfügung stehende externe Information, die die Versorgungsforschung erarbeitet, nicht nur für die Behandlung individueller Patienten, sondern auch für politische und allokative Entscheidungen transparent und nachvollziehbar heranzuziehen.
Ausblick
Die Überprüfung und Weiterentwicklung der konzeptionellen Grundannahmen der Versorgungsforschung, die Arbeit an den Methoden und die Positionierung im wissenschaftlichen Umfeld muss als kontinuierlich fortschreitender Prozess angesehen werden. Die eingangs genannten Einflussfaktoren werden in unterschiedlicher Konfiguration und Ausprägung weiter bestehen bleiben, neue Faktoren werden hinzutreten. Ganz entscheidend für das weitere Wirken der Versorgungsforschung wird das Aufrechterhalten ihrer unabhängigen wissenschaftlichen Perspektive sein. Das gegenwärtige, positive Zusammenspiel mit der politischen Ebene muss sich auch dann als stabil erweisen, wenn die wissenschaftliche Aussagen der Versorgungsforschung einmal nicht mit den Vorstellungen der unterschiedlichen Nachfrager harmonieren. <<
Autorenanmerkung
Dieser Artikel stellt eine überarbeitete Kurzfassung einer Publikation (Die Genehmigung des Verlags Thieme liegt vor) von M. Schrappe und H. Pfaff dar [1], die sich wiederum auf das Einführungskapitel der kürzlich erschienenen zweiten Auflage des „Lehrbuch Versorgungsforschung“ [2] bezieht.
Lesehinweis
Pfaff, Neugebauer, Glaeske, Schrappe; „Lehrbuch Versorgungsforschung –Systematik - Methodik - Anwendung“
Verlag: Schattauer, 2017
462 Seiten
2., vollständig überarb. Aufl.
ISBN Print: 978-3-7945-3236-0
ISBN eBook: 978-3-7945-9068-1
Preis: 79,99 Euro