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„Weg mit dem Geber/Nehmer-Prinzip“

Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske (Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen) im MVF-Titelinterview

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.12.2009

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Prof. Dr. Gerd Glaeske ist seit 1999 Professor für Arzneimittelversorgungsforschung am Institut für Sozialpolitik (ZeS) in Bremen, Co-Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung der Universität Bremen. Und er hat als Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung und als Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen eine gewichtige Stimme in der Versorgungsforschung: Die erhebt er im Titelinterview der letzten Ausgabe des Jahres 2009 von „Monitor Versorgungsforschung“ und fordert nicht nur wie IQWiG-Leiter Professor Dr. Peter T. Sawicki (MVF 05/09) eine Entkommerzialisierung des Ärztestandes, sondern auch eine Abkehr von der tradierten Rollenverteilung zwischen Leistungerbringer und Payer.

>> Herr Glaeske, im Titelinterview der letzten Ausgabe von „Monitor Versorgungsforschung“ vertrat IQWiG-Leiter Sawicki die These, dass die Kommerzialisierung aus dem Arztberuf verbannt werden müsse, weil nur so Fehlanreize und auch Fehlsteuerung aus dem Gesundheitssystem verschwinden könnten. Können Sie diesem Ansatz etwas abgewinnen?
Das Wort „Anreiz“ ist ein sehr wichtiger Begriff in unserem Gesundheitssystem, im positiven wie im negativen Sinne. Der Gesetzgeber muss viel mehr Anreize setzen, um positive Entwicklungen zu fördern; aber auch keine Scheu davor haben, Abschläge in der Honorierung für misslungene Qualität zu formulieren. Das hat auf eine sehr intelligente Art und Weise Herr Dr. Munte in der KV Bayern umgesetzt, der bestimmte Qualitätsindikatoren eingeführt hat, die sowohl positiv über Anreize, aber auch negativ über Sanktionen belegt sind. Der § 136 SGB V macht ein solche Strategie ja endlich möglich. Doch kann ich als Vision Sawickis These nur unterstützen, wenn er eine weitgehende Entkommerzialisierung des Arztberufs fordert; was übrigens auch der Sachverständigenrat in seinem kürzlich abgegebenen Gutachten in ähnlicher Weise mit Blick auf ein populationsbezogenes Capitationmodell diskutiert hat. Nur so kann man auf Dauer ein System schaffen, das möglichst frei ist von Ineffizienzen.

Wobei unser Gesundheitssystem weltweit immer noch als eines der besten gilt.
Das ist es auch. Wir brauchen international keinen Vergleich zu scheuen, was die Zugangsmöglichkeiten zum System - die Accessibility – angeht, ebenso wenig bei der Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit. Doch bei der Effizienz haben wir sicher Nachholbedarf.

Was auch Sawicki sagt, der meint, dass die zur Verfügung stehenden rund 260 Milliarden Euro für eine gute Medizin an sich ausreichen würden ...
... wenn das Geld immer da landen würde, wo es hin gehört. Die 260 Mrd. Euro betreffen übrigens die gesamten Ausgaben für Gesundheit; in der gesetzlichen Krankenversicherung sind es etwa 60 % dieser Summe, die ausgegeben werden - 2009 rund 167 Mrd. Euro. Ich glaube wirklich, dass unser Gesundheitssystem von einigen Akteuren vorsätzlich ausgeplündert wird. Darum schafft der Gesetzgeber immer wieder aufs Neue eine ganze Kaskade von Regelungen, um damit die Möglichkeiten der irrationalen, aber auch unwirtschaftlichen Überversorgung zu minimieren oder auch die Fehlversorgung zu begrenzen.

Vielleicht darf man sich nicht mehr darüber wundern, dass man so nie zu einer Lösung kommen wird.
Der Hauptgrund unserer Probleme liegt doch in den Ineffizienzen im System, und die liegen vornehmlich an der Fragmentierung und Sektorisierung. Nur aus diesem Grund sehen wir immer wieder Umverteilungskämpfe, in denen bestimmte Spieler versuchen, aus einem begrenzten Topf mehr für sich herauszuholen. Das kann man nun durch die menschliche Natur bedingt hinnehmen, oder sich sowohl aus gesundheitsökonomischen wie gesellschaftlich-solidarischen Gründen überlegen, wie das zur Verfügung stehende - und an sich auch ausreichende - Beitragsaufkommen sinnvoller eingesetzt werden könnte.

Womit wir bei mehr Effizienz wären.
Und die kommt vor allem durch das auch im Gutachten des Sachverständigenrats geforderte Konzept des Managed Care, das ein Erfolgskonzept sein kann, wenn die Sektorenfragmentierung fallen würde. Es kann doch nicht länger darum gehen, wer das größte Stück des Kuchens abbekommt, sondern es muss endlich für Strukturen gesorgt werden, in denen Versicherte und Patienten am besten versorgt werden können. Da bekommen wir derzeit eine massive Herausforderung von einer Seite, die man bisher oft übersehen hat - nämlich von den Auswirkungen der sich verändernden Alterspyramide: Durch die sich verändernde Demographie, die auch gerade auf die ambulante Versorgung wirken wird, heißt die Zukunftsfrage schon sehr bald nicht mehr, ob mehr Budget in die ambulante oder stationäre Behandlung fließt, sondern wie eine bevölkerungsbezogene Gesundheitsversorgung überhaupt noch gewährleistet werden kann. Wenn man bereit ist, diesen Gedanken mitzugehen, hilft aus meiner Sicht nur noch die Lösung eines sektorenübergreifenden, populationsorientierten und regionalisierten Versorgungskonzepts.

Das ja auch der Sachverständigenrat anrät, dem sie angehören.
Zu Recht. Das heißt aber wesentlich mehr, als dass nur Versorgung in kleineren regionalen Gebieten organisiert wird, was derzeit teilweise schon sehr erfolgreich umgesetzt wird. Der wesentliche Kerngedanke eines populationsorientierten, regionalisierten Versorgungskonzepts ist es jedoch, dass man sich vom klassischen Geber/Nehmer-Prinzip verabschiedet.

Eine Entmachtung der Kassen?
Das muss nicht sein, obwohl sich ja derzeit schon eine Bereinigung abzeichnet, was aber andere Gründe hat. Wichtig ist mir, dass wir gedanklich davon wegkommen, dass der Eine Leistungen in Anspruch nimmt, der Zweite sie leistet und der Dritte dafür bezahlt. In einem populationsbezogenen und sektorübergreifenden System würden dagegen die Akteure selbst über die zur Verfügung stehenden Finanzmittel gemeinsam und miteinander entscheiden; und - das ist das Wichtige - auch selbst verantwortlich für die Effizienz in diesem Versorgungssystem sein! Nur durch mehr Eigenverantwortung und mehr Gemeinsamkeit kommt mehr Effizienz in unser System.

Was indes ein sehr erwachsenes Menschenbild voraussetzt.
Da bin ich optimistisch, dass man sich in Regionen gemeinsam und miteinander auf Konzepte verständigen kann, wie man Versorgung vernünftigerweise organisieren möchte, damit sie auch in guter Kooperation funktioniert. Wer sich dieses Gedankens annimmt, wird erkennen, dass in solchen Systemen Finanzen andere Wege nehmen werden als bisher, denn es gibt kein besseres Korrektiv als soziale und qualitätsorientierte Anreize in einem solchen System, gepaart mit hoher Eigenverantwortung. Das System wird daher letztlich für eine qualitätsgesicherte Patientenorientierung honoriert, Pay for Performance.

Im Kern stünde die ambulante Versorgung?
Natürlich steht im medizinischen Versorgungsalltag zunächst die ambulante Versorgung im Mittelpunkt, man hat doch gar keine andere Alternative. Ambulant behandeln bedeutet aber auch, dass auch die richtigen Arzneimittel noch häufiger angewandt werden müssen als bisher.

Eine unbequeme Aussage, wenn man die langjährigen Sparbemühungen des Gesetzgebers betrachtet.
Aber eine wahre. Sicherlich wird es auch künftig Steigerungen bei den Arzneimittelausgaben geben, wenn man neben dem therapeutischen Fortschritt nur die zunehmende Morbidität und das immer höher werdende Lebensalter ins Kalkül zieht. Doch das schockt mich gar nicht, weil richtig angewendete Arzneimittel, deren Nutzen bestätigt ist, immer noch eine sehr effiziente Behandlungsmöglichkeit bieten. Im Gegenteil: Wir müssen sowohl den pharmazeutischen Herstellern als auch den niedergelassenen Ärzten und ebenso den Apothekern ganz deutlich vermitteln, dass sie in einem populationsbezogenen System nicht schlechter dastehen werden, sondern besser. Das bedeutet aber auch, dass wir in diesem Zusammenhang überlegen müssen, wie eine verantwortliche Position von pharmazeutischen Herstellern wie auch von Ärzten und Apothekern aussehen muss.

Hier kommt die Preisgestaltungsfrage, womit wir bei einer Art Vierten Hürde wären.
Ich bin ein klarer Verfechter der Vierten Hürde, die im Sachverständigengutachten 2005 entwickelt und im Jahre 2007 erneut favorisiert wurde. Denn nur so kann auch in Zukunft ein rascher und auch finanzierbarer Zugang zu wirklichen Innovationen gewährleistet werden. Wesentlich wichtiger wäre mir aber, dass durch eine Vierte Hürde das Steuerungsmittel Nummer 1 der Gesundheitsversorgung, das Arzneimittel, entstigmatisiert würde. Wir brauchen in unserem System Arzneimittel mit nachgewiesenem Zusatznutzen. Für die Differenzierung zwischen Me-too-Produkten und Scheininnovationen einerseits und therapeutischen Innovationen andererseits bietet die Vierte Hürde eine gute Strategie.

Wollen Sie etwa der Pharmaindustrie etwas Gutes tun?
Das wäre zu einfach. Tatsache ist aber, dass wir gut wirksame und verträgliche Arzneimittel mit nachgewiesenem Nutzen brauchen! Noch zentraler ist für mich aber, dass das Arzneimittel ein wichtiges Querschnittsthema ist, das alle Sektoren miteinander verbinden kann. Arzneimittel laufen nun einmal durch alle vier großen Bereiche der Versorgung – von der Prävention über den ambulanten und stationären Bereich bis hin zur Pflege. Natürlich ist der Grad der Arzneimittelversorgung in jeder der vier Säulen unterschiedlich, was Einsatz, Nutzen und Menge betrifft. Wenn man aber nun eine sektorenübergreifende Versorgung plant, muss auch die Arzneimittelversorgung über die Sektoren hinweg harmonisiert werden. Es kann doch nicht angehen, dass in Krankenhäusern Arzneimittellisten zusammengestellt werden, die man schon alleine von der Auswahl her im ambulanten Versorgungsbereich gar nicht nachvollziehen kann, wo ja insbesondere auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt werden müssen. Also brauchen wir durchgängige Arzneimittelempfehlungen, am besten verbunden mit einer Leitlinie für die Behandlung von Multimorbidität bei älteren Menschen – beides spiegelt sich bis heute in der evidenzbasierten Medizin nicht unbedingt wider.

Warum sprechen Sie statt von unterschiedlichen Preisen und Möglichkeiten des Zugangs zu Innovationen nur vom unterschiedlichen Einsatz der Arzneimittel?
Weil das die Realität ist, die ein Patient erlebt. Der versteht es eben nicht, warum er - kaum aus dem Krankenhaus entlassen – fast zwangsläufig von einem Originalpräparat auf ein Generikum umgestellt werden muss. Dazu kommen dann Rabattverträge und zig andere Regulationsinstrumente und schon ist Schluss mit einem durchgängigen Arzneimittelversorgungssystem. In einem populationsbezogenen, sektorübergreifenden System dagegen würden sich alle Leistungserbringer und -anbieter auf eine einzige Liste einigen, wodurch alle Ärzte - ob im Krankenhaus oder im niedergelassenen Bereich - wüssten, was sie verschreiben können und welche Arzneimittel im Rahmen ihres Versorgungssystems angewendet werden.

Das wäre so eine Art Therapieempfehlung?
Eher ein Therapiekorridor. Diesen Begriff benutzte ich viel lieber, denn ein Therapiekorridor optioniert immer mehrere Möglichkeiten, die ja auch meistens vorhanden sind.

Wie wäre es mit dem Begriff populationsorientierte Positivliste?
Das wäre schon der richtige Begriff für diese Art von Arzneimittelvertragsliste, die zwischen Krankenkassen – oder der für eine Population zuständigen Verwaltungseinheit, z.B. einem Pharmaceutical Benefit Management - und Herstellern ausgehandelt werden muss. Darin soll es zwei Bereiche geben; der erste wird die Abteilung der unverzichtbaren Arzneimittel sein, der zweite eine substitutionsfähige, demzufolge eher eine Wirkstoffliste.

Die Frage wird es sein, wer diese Liste erstellt und unter welchen Gesichtspunkten sie erstellt wird.
Völlig richtig. Doch wird sich das Problem entschärfen, sobald der klassische Provider/Payer-Split aufgegeben wird. Wenn eine sektorenübergreifende Vereinigung von Leistungserbringern über eine der Risikostruktur der Region angemessene und ausreichende Finanzierung verfügen kann, werden schlagartig alle effizienzoptimierenden Aspekte eine weit stärkere Rolle spielen als bisher. Dann geht es eben - wie eingangs erwähnt - nicht mehr um möglichst große Kuchenstücke, sondern um eine möglichst hohe Behandlungsqualität, mit dem Ziel, vermeidbare Folgekosten zu verringern.

Wenn dann noch qualitätsjustierte Bonussysteme dazukommen würden, können sicher noch mehr Wirtschaftlichkeitsreserven gehoben werden.
Die richtigen Anreize sind immer ausschlaggebend. Für mich kommen aber auch noch Wettbewerbsaspekte hinzu, denn es wird pro Region nicht nur ein solches Versorgungsnetz geben. Wenn es aber mehrere gibt, können Versicherte zwischen den unterschiedlichen Versorgungsoptionen wählen und sie werden sich natürlich wohl am ehesten in die einschreiben, die nachweislich die beste Qualität anbieten. Dies kann z.B. auf der Basis von robusten und sprechenden Qualitätsindikatoren gemessen und verglichen werden.

Welche Chance geben Sie einer solchen Vision?
Gegenfrage: Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass es zu selektiven Verträgen im größeren Umfang kommen kann? So gesehen war das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz GMG, eines der bislang besten Gesetze überhaupt. Seit Januar 2004 wurden damit integrierte Versorgungsverträge möglich gemacht - heute gibt es immerhin bereits 6.150 davon.

Wobei die meisten der Kategorie „Beutegemeinschaften“ zuzuordnen sind - wie Sie diese oft bezeichnen.
Auch das ist richtig, weil viele Beteiligte sich nur die einprozentige Anschubfinanzierung sichern wollten. Doch immerhin gibt es auch bereits 55 populationsbezogene integrierte Versorgungsverträge. Das heißt: Der Anfang ist gemacht, nur sieht man das noch nicht so deutlich am Wahrnehmungshorizont.

Jedoch werden all diese Verträge nicht monitort, wodurch die Lernkurve oder auch Skalierungsfähigkeit sehr endlich bleiben wird.
Das bedaure ich sehr. Diese fast mutwillige Intransparenz ist ein nahezu ebenso wichtiger Diskussionsbereich wie der ökonomische. Wir brauchen ein qualitätsorientiertes System mit einer entsprechenden Evaluation. Aber ich bin mir sicher, dass dies langsam, aber sicher Realität wird. Was wir jetzt brauchen, ist letztlich nur ein wenig Geduld.
Aber wenn man betrachtet, mit welcher Dynamik das System – trotz aller Irrungen und Wirrungen – in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt wurde, bin ich überzeugt, dass die in diesem Zeitrahmen geschaffenen gesetzlichen Regelungen tatsächlich auch der Logik folgen, dass Bewegung einem erstarrten System gut tut.

Das Gefühl hat man oft, wenn man nach Berlin oder Brüssel blickt.
Das meine ich gar nicht. Ich meine vielmehr, dass eigentlich nicht der Gesetzgeber der Akteur war, der immer wieder neue Rahmenbedingungen geschaffen hat, sondern dass die Veränderungen oft von innen kamen.

Das System reguliert sich etwa selbst?
Nein, das hat noch nie funktioniert. Vielmehr hat sich in dieser Zeit eine neue Versorgungsrealität herausgebildet, welcher der Gesetzgeber fast zwangsläufig folgen musste. Man könnte auch sagen, dass die Zeit reif war für bestimmte Entwicklungen.

Das ist vielleicht auch nur die Macht des Faktischen.
Auch das. Im Sachverständigenratsgutachten haben wir einmal gesagt, wenn nur fünf Prozent der Versorgung in eine bestimmte neue Richtung gehen, wirkt das ansteckend auf das gesamte System; aber im positiven Sinne. Das will heißen: Sobald ein bestimmtes Konzept funktioniert, werden sich daraus in schneller Folge immer mehr ähnliche Konzepte entwickeln.

Genau da muss die Versorgungsforschung ins Spiel kommen.
Ja, denn Versorgungsforschung ist für mich der Blick auf die Versorgungsrealität aus Patientensicht. Versorgungsforschung ist eigentlich eine Forschungsrichtung, die sehr stark die Patientenorientierung fördert und gleichzeitig Transparenz schafft. Der Blick schärft sich immer an den Schnittstellen, ob nun an inneren oder gedanklichen Barrieren wie an Sektorengrenzen.

Oder auch Ländern.
Sicher auch das. Erkenntnisse der Versorgungsforschung sind nur leider nicht so einfach von einem Land auf das andere übertragbar, denn da Versorgungsforschung die Versorgungsrealität abbildet, muss sie auch immer die jeweiligen Systeme berücksichtigen.

Dazu braucht sie auch mehr Geld. IQWiG-Leiter Sawicki fordert ein Prozent, der Sachverständigenrat immerhin 0,1 Prozent des GKV-Budgets.
Auf die genaue Summe kommt es gar nicht an, wichtig wäre das Signal! Darum fordere ich seit Jahren, dass die GKV das Recht haben muss, Forschung zu finanzieren. Ich leite daraus sogar eine Pflicht ab! Wir geben im GKV-System derzeit rund 167 Milliarden aus, wenn wir uns nur circa in der Mitte der eben genannten Prozentzahlen treffen, könnte mit 0,5 % oder damit rund 800 Millionen Euro Versorgungsforschung finanziert werden - pro Jahr.

Was ja auch wieder der GKV zu Gute kommen würde.
In erster Linie den Patienten, aber sicher auch der GKV insgesamt. Denn es geht um die Grundlagen für eine bessere Versorgung. Das kann man am einfachsten bei den Arzneimitteln erkennen, bei denen nach der Zulassung ganz viele Fragen offen bleiben. Der Grund dafür ist, dass der Hersteller nicht unbedingt ein Interesse daran hat, weitere Studien aufzulegen, die über das gesetzlich geforderte Maß hinausgehen. Also muss die GKV, ja die ganze Gesellschaft ein Interesse daran haben, im Sinne einer qualitativeren Versorgung Therapieoption A gegen B und C zu prüfen, eben keine Studien gegen Placebo durchzuführen, sondern gegen alle zur Verfügung stehenden Therapieoptionen, ob nun medikamentös oder nicht-medikamentös.
Hier gäbe es unendlich viele Fragen, die geradezu darauf warten, abschließend beantwortet zu werden, die aber bei der Zulassung absolut keine Rolle spielen, gesetzlich auch gar nicht als Anforderung definiert sind. Denken Sie z.B. an den Irrweg der Hormonsubstitution bei Frauen in der Menopause. Erst industrieunabhängig durchgeführte Studien haben aufgedeckt, dass die Anwendung dieser zugelassenen Mittel mehr schaden als nützen – die Frauen bekamen mehr Herzinfarkte, mehr Schlaganfälle und mehr Brustkrebs. Dies passiert eben, wenn ein System ausschließlich auf die Informationen von ökonomisch interessierten Herstellern vertraut.

Weil das Arzneimittelrecht ausschließlich den Nachweis von Wirksamkeit, der Unbedenklichkeit der pharmazeutischen Qualität verlangt.
Nutzenbewertung oder die vergleichende Bewertung der Wirtschaftlichkeit ist wesensfremd im Arzneimittelrecht, das vor allen Dingen eben ein Arzneimittelverkehrsrecht ist. Gerade darum brauchen wir ja ergänzende Studien. Für mich wäre daher die Kardinalforderung, dass künftig Versorgung etwa 2 bis 3 Jahre nach der Zulassung immer im Rahmen von Studien stattfinden muss. Dazu müssen z.B. Line-Register aufgestellt werden, damit eine langjährige Betrachtung möglich wird. Dann müssen bestimmte Studien durchgeführt werden, damit man erkennen kann, ob Therapie A gegenüber der Therapie B gemessen an Endpunkten wie Mortalität tatsächlich eine bessere ist oder nicht, oder ob es sinnvoll erscheint, die jeweiligen Mittel zunächst in einer Zentrumsversorgung zur Verfügung zu stellen oder auch in Allgemeinarztpraxen. Wir haben Forschungsbedarf nach der Zulassung, es ergibt sich eine große Anzahl von Fragen, deren Bearbeitung unsere Erkenntnisse verbessern werden.

Und obendrein industrieunabhängige.
Exakt. Die Leistungserbringer gewinnen Freiheit gegenüber den Informationen, die industrieabhängig in das System getragen werden. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass wir mehr industrieunabhängige Informationen durch Versorgungsforschung erhalten. Das wird der Industrie durchaus Kopfzerbrechen bereiten.

Warum?
Die Versorgungsforschung ist eine aufdeckende Forschung, während die klinische Forschung an sich eine sehr geschlossene ist, in der über die Anwendung bestimmter Ausschlusskriterien sowie einer ganz bestimmten methodischen Herangehensweise das Ziel der Zulassung erreicht werden soll. Die Versorgungsforschung hingegen fragt, was passiert denn eigentlich wirklich nach der Zulassung eines Arzneimittels? Daher kann es durchaus sein, dass wir einen hohen Effektivitätsverlust gegenüber klinischen Studien aufdecken werden, weil gerade in der ambulanten Versorgung Implementierungs- und Umsetzungsverluste eine wesentlich höhere Rolle spielen als sie im klinischen Bereich über randomisierte kontrollierte Studien erkannt werden.

Das heißt aber auch, dass in der Versorgungsforschung vieles gesehen wird, was man in der klinischen Forschung gar nicht sehen kann.
Wir sehen damit endlich die Realität der Patientenversorgung. Darum müssen wir ganz genau darauf schauen, dass die methodischen Anforderungen in der Versorgungsforschung nicht untergraben werden und dass nicht auf Studien Versorgungsforschung drauf steht, in denen keine Versorgungsforschung drin ist. Wir wollen keine Versorgungsforschung light, sondern ein methodisch abgesichertes Vorgehen.

Wäre nicht trotzdem die Gesamtheit der Forscher des deutschen Netzwerkes für Versorgungsforschung überfordert mit der Aufgabe, die sie vorhin skizziert haben?
Ich bin ja schon froh, dass aus dem kleinen Pflänzchen der deutschen Versorgungsforschung inzwischen ein Bäumchen entstanden ist und dieses auch Früchte tragen wird. Aber auch das war sicher eine Frage der richtigen Zeit. Es muss eben immer bestimmte zeitliche Fenster und Konstellationen für neue Entwicklungen geben, und wenn die stimmig sind, ergibt sich etwas Neues. Insofern stimmt der Satz, dass man nur denken kann, was man auch sehen kann. Oder vice versa: Man kann nur sehen, was vorher überhaupt im Denken verankert ist. Aber da sind wir auf einem guten Weg. <<

 

Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr. Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.