Zwei Jahre HzV aus Sicht eines IT-Anbieters
Das deutsche Gesundheitswesen hat eine große Hürde zu nehmen, gilt es doch, die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und gleichzeitig Kosten zu sparen. Wie so etwas funktionieren kann, zeigt das Beispiel Baden-Württemberg. Am 1. Juli 2008 haben die AOK Baden-Württemberg, die Hausärztliche Vertragsgemeinschaft eG (HÄVG) und der MEDIVerbund den bundesweit ersten hausarztzentrierten Versorgungsvertrag (HZV) nach § 73b SGB V geschlossen. Dieser Vertrag hat eine neue Ära der hausarztzentrierten Versorgung in Deutschland eingeläutet. Erklärtes Ziel der Vertragspartner ist es, den Versicherten IT-gestützt eine hochwertige und flächendeckende hausärztliche Versorgung zu gewährleisten.
>> Der Vertrag ermöglicht den teilnehmenden Hausärzten eine bessere Versorgungssteuerung ihrer Patienten. Gleichzeitig sichert er ihnen - anders als im KV-System - durch die Anzahl der Patienten festgelegte Eurobeträge für ihre erbrachten Leistungen. Im Gegenzug verpflichten sich die Ärzte, Behandlungs- und Qualitätsrichtlinien einzuhalten und ihre im Rahmen des Vertrags erbrachten Leistungen direkt online über das von der HÄVG eingerichtete Rechenzentrum abzurechnen. Der Verwaltungsaufwand in den Praxen sinkt, weshalb der Arzt in Zukunft wieder mehr Zeit für den Patienten hat.
Der Weg in die Welt der Selektivverträge
Rückblick: Im Zuge der sich kontinuierlich ausweitenden IT-gestützten Abrechnungsverfahren wurden die PVS-Hersteller seit 2004 vor immer neue Herausforderungen gestellt. Die ständig wachsenden Anforderungen an die Datenträger-Abrechnung, die den Vorgaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zu entsprechen hatten, führten dazu, dass die Hersteller von Praxisverwaltungssystemen (PVS) ihre Software kaum noch Quartal für Quartal aktuell halten konnten. Vorgaben zu Themen wie z.B. Disease-Management-Programmen oder Nephrologie konnten in diesem Umfang nicht mehr von den PVS-Herstellern umgesetzt werden, Nischenanbieter übernahmen diese Aufgaben.
Ab 2007 führte die Kassenärztliche Bundesvereinigung bei PVS-Herstellern regelmäßig Software-Rezertifizierungen durch. Dies führte dazu, dass zahlreiche PVS-Hersteller ihr Produktportfolio strafften und immer mehr PVS-Systeme vom Markt verschwanden. Viele Arztpraxen waren deshalb gezwungen, ihre Praxis-EDV – und damit einhergehend – ihre Hardware zu wechseln. Ein kostspieliges Unterfangen.
Die PVS-Hersteller nutzten in dieser Zeit freigewordene Entwicklungskapazitäten, um einzeln verkaufbare Zusatzanforderungen wie z.B. angepasste Archivlösungen für Fremdbefunde oder Bilddokumentationen umzusetzen. So sollte der Einnahmeausfall aufgrund sinkender Kundenzahlen kompensiert werden. In der Folgezeit wurden immer mehr Funktionen wie z.B. Spracherfassung, elektronische Termin- und Ressourcen-Verwaltung oder immer umfangreichere Medizingeräte-Austattungen als Subsysteme in die Praxis-EDV integriert. Für die Ärzte führte dies zu nicht unerheblichen Problemen bei der Migration des PVS als führendes System in der Arztpraxis.
Aufbruch in die Welt der integrierten Versorgung: Mit den §§ 140 a-d SGB V regelt der Gesetzgeber die übergreifende Versorgung über Sektorengrenzen hinweg. Auf einzelvertraglicher Basis zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern werden Versorgungsmodelle außerhalb des kollektivvertraglichen Systems ermöglicht. Einer der ersten Verträge dieser Art war der Hausarztvertrag der BARMER im Jahr 2006. IT-seitig umgesetzt wurde er mit einem Prüfmodul durch die HÄVG. Damit wurden die Abrechnungen ärztlicher Leistungen zwar formal auf Plausibilitäten geprüft, jedoch erfasste dieses Prüfmodul lediglich die Ergebnisqualität der Abrechnung. Eine Qualitätssicherung des Prozesses - d.h. eine Prüfung, wie es überhaupt zu der Abrechnung kam - war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Zeitgleich mit dem Abschluss der ersten großen Hausarztverträge nach § 140ff. SGB V gehörten papiergebundene Abrechnungen endgültig der Vergangenheit an.
Aufgrund der Erfahrungen der BARMER verfolgte die AOK Baden-Württemberg mit der Aktualisierung des Vertrags zur integrierten hausärztlichen Versorgung (ihV) das Ziel, Dokumentationen über Sektorgrenzen hinweg zu ermöglichen und die Prozesse - nicht nur die Ergebnisse - zu steuern. Zur Prozesssteuerung zählten z.B. Eingabeprüfungen mit spezifischen Plausibilitäten, Fehlermeldungen und Benutzerhinweise. Dr. Hoberg, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, betont: „Für eine erfolgreiche hausarztzentrierte Versorgung ist es unerlässlich, versorgungsrelevante Qualitätsziele mit einem Prozessmanagement zu verknüpfen.“
Mit Einführung des Wettbewerbsstärkungsgesetzes 2007 ist jede gesetzliche Krankenkasse verpflichtet, ihren Versicherten spezielle Hausarzttarife anzubieten. § 73b SGB V verlangte von den Krankenkassen bis zum 30. Juni 2009 flächendeckend entsprechende Hausarztmodelle anzubieten. Allerdings ist dies bis heute noch nicht flächendeckend umgesetzt. Dennoch nutzte die AOK Baden-Württemberg bereits 2008 die neuen gesetzlichen Möglichkeiten, um den bundesweit ersten hausarztzentrierten Versorgungsvertrag abzuschließen.
Um die erfolgreiche Umsetzung des Vertrags zu ermöglichen, mussten umfassende IT-gestützte Lösungen geschaffen werden. Der Aufwand für die PVS-Hersteller wäre enorm gewesen – ohne Aussicht auf zusätzliche Einnahmen. Da die potenziell teilnehmenden Ärzte die Kosten der Softwareentwicklung letztendlich zu tragen gehabt hätten, gab es für die PVS-Hersteller aufgrund der unkalkulierbaren Teilnehmerzahlen keine Einnahmegarantien. Unter diesen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lehnten die PVS-Hersteller die Entwicklung ab. So entschied die HÄVG, selbst eine Vertragssoftware zu entwickeln.
IT-gestützte Umsetzung von Selektivverträgen
2007 gründeten die HÄVG und der eHealth-Spezialist InterComponentWare AG (ICW) ein gemeinsames Tochterunternehmen, die HÄVG Software GmbH (HÄVGS), um eine Lösung anzubieten, die IT-gestützt Selektivverträge umsetzt: Hausarzt+. Dies war eine der ersten Vertragssoftwarelösungen, die für den HZV-Vertrag in Baden-Württemberg zertifiziert wurde. Neben der Leistungsabrechnung stellt Hausarzt+ auch die Vertragsverwaltung, Patienteneinschreibung sowie Leistungserfassung sicher und unterstützt bei der Arzneimittelverordnung mit Hinweisen zur rationalen Pharmakotherapie. Mit der farbtechnischen Umsetzung der rationalen Pharmakotherapie (Auswahl preisgünstiger Medikamente) wurde IT-seitig ebenfalls Neuland betreten. Im März 2010 hebt Dr. Christopher Hermann, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der AOK Baden-Württemberg, in einem Gespräch mit „Apotheke Adhoc“, in dem es um den Vorschlag der Union geht, die Rabattverträge zu entschärfen und die Herstellerabschläge zu erhöhen, mit Nachdruck hervor: „Wir haben wiederholt kommuniziert, dass allein die AOK im vergangenen Jahr 400 Millionen Euro durch Rabattverträge gespart hat.“
Heute unterstützen rund drei Viertel aller Hersteller von PVS-Systemen, die Haus- und Kinderärzte zu ihren Kunden zählen, die hausarztzentrierte Versorgung mit dem sogenannten „ICW Kern“ für die Vertragsverwaltung. Dieser Kern wird seit 2008 von ICW entwickelt. Es handelt sich dabei um Softwaremodule für Selektivverträge ohne eigene Benutzeroberfläche. Diese werden von den PVS-Herstellern eingebaut und sind für den Arzt auf der Oberfläche seines PVS-Systems nicht sichtbar. Der Kern enthält die Vertragsdaten. Damit ist der PVS-Hersteller in der Lage, prozessorientierte Vorgaben aus Versorgungsverträgen zu verwenden. Sowohl im HZV-Vertrag mit der AOK Baden-Württemberg als auch mit der AOK Bayern ist ein Kern bei mehr als 7.000 Ärzten erfolgreich im Einsatz. Erweitert wird der Kern derzeit für die Entwicklungspartnerschaft der AOK Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen (AOK Plus), Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern. In Sachsen-Anhalt unterstützt der gleiche Kern seit dem zweiten Quartal 2010 die rationale Pharmakotherapie im Rahmen des „Add-on-Vertrags“ zwischen der AOK, dem Landeshausärzteverband und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Der Kern steht somit für alle Versorgungsformen zur Verfügung.
Vorteile des ICW-Kerns für die PVS-Hersteller: Der Kern wird quartalsweise den PVS-Herstellern in einem Paket mit Schnittstellenbeschreibung zur Verfügung gestellt. Das bedeutet, dass die PVS-Hersteller die Vertragsdaten und den Großteil der Vertragslogik geliefert bekommen. Zur Optimierung der Qualitätssicherung werden Prozesse zunehmend durch IHE-konforme Profile beschrieben. Insbesondere bei den anstehenden Facharztverträgen nach § 73c SBG V erlauben diese Standards z.B. eine Patientensteuerung aus der Hausarztebene in die ambulante und stationäre Facharztebene und wieder zurück.
Vorteile des Kerns für den Arzt: Der Kern enthält je nach Vertragsanforderung Webservices und Schnittstellen, die die Grundfunktionen einer Vertragssoftware pro Vertrag enthalten. Zu den Grundfunktionen zählen unter anderem die Teilnahmeprüfung, Abrechnung, Rabattierung oder Substitution von Medikamenten. Bei Bedarf werden den Ärzten tagesaktuell vertragsbezogene Datenbankinhalte zur Verfügung gestellt. Dazu gehören Basisdaten wie Vertragslaufzeiten und Vertragsunterlagen, Leistungsziffern mit den dazu gehörenden Regelprüfungen, Kataloge wie ICD 10 GM 2008/2009/2010 sowie Medikationsdaten und deren kassenspezifische Abbildung der Regelwerke. Ferner können täglich Meldungstexte aktualisiert werden, die in jeder Praxis identisch sind. Die Datenaktualisierung im laufenden Quartal setzt in den Praxen eine gesicherte Online-Anbindung voraus. In Baden-Württemberg ist die Online-Anbindung auch Basis für die HZV-Abrechnung.
In Baden-Württemberg benötigen die Ärzte für die Online-Abrechnung der erbrachten HZV-Leistungen neben einer zertifizierten Vertragssoftware auf Basis des Kerns eine Datenübertragungslösung nach den Vorgaben der Selbstverwaltung zum HÄVG-Rechenzentrum. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Bundesärztekammer haben am 9.5.2008 hierzu den Leitfaden für Datenschutz und Datenverarbeitung in Arztpraxen beschlossen. Am 30.6.2008 haben die Vertragspartner ein darauf abgestimmtes Sicherheitskonzept mit Konnektoranforderung veröffentlicht: Der Konnektor ist ein Gerät, mit dem das PVS-System an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen wird. Diese Konnektoranbindung ist seit dem 16.1.2009 für die teilnehmenden Ärzte in Baden-Württemberg verpflichtend. ICW ermöglicht mit dem sogenannten „ICW Healthcare Connector“ die hoch sichere Anbindung an die Telematik-Infrastruktur. Gleichzeitig schützt dieser Konnektor die Praxisdaten durch eine Firewall vor Zugriffen von außen und ermöglicht eine gezielte Datenübertragung an das Abrechnungszentrum. Bei der Datenübertragung baut der Konnektor ein Virtuelles Privates Netzwerk (VPN) auf. Das VPN bezeichnet ein Computernetz, das zur Verbindung von zwei oder mehr Standorten das Internet als Transportweg nutzt, ohne jedoch im Internet öffentlich erreichbar zu sein. Im HZV-Szenario stellt das VPN die direkte Verbindung zwischen der Praxis und dem Abrechnungszentrum dar. Diese Art, vertrauliche Informationen online zu übermitteln, ist nicht neu: Zahlreiche große Unternehmen und Behörden verwenden bereits seit längerer Zeit hardwaregestützte VPNs für den Austausch vertraulicher Informationen zwischen ihren Niederlassungen im In- und Ausland. Da die Infrastruktur der ICW den technischen Anforderungen entspricht, welche das Bundesamt für Sicherheit in der IT (BSI) der gematik vorgibt, haben der Landesdatenschützer und der Datenschützer des Innenministeriums von Baden-Württemberg keine weiteren Anforderungen formuliert.
Im Juni 2008 waren die Ärzte in Baden-Württemberg skeptisch, was die Einführung einer zweiten Softwarelösung für die Abwicklung der hausarztzentrierten Versorgung betrifft und ob eine leitungsgebundene Abrechnung mit einer Konnektorlösung überhaupt installierbar sei. Trotz aller Vorbehalte nahmen im Juni 2008 nach einer nur vierwöchigen Pilotphase 100 von 130 Arztpraxen Hausarzt+ und den Konnektor in Betrieb. In den folgenden sechs Monaten wurde die Vertragssoftware samt Konnektor in über 700 Praxen als parallele Abrechnungssoftware für HZV-Patienten installiert.
Mittlerweile haben 85 IT-Unternehmen mit 285 zertifizierten Technikern in den letzten sieben Quartalen Termine bei 3.564 Ärzten vereinbart und dort eine Vertragssoftware und/oder den Konnektor installiert. Heute sind ca. 1.500 Konnektoren bei über 2.000 Ärzten im Einsatz, über die ca. 900.000 Patienten betreut und abgerechnet werden. Die Anzahl neuer Selektivverträge wird weiter stark ansteigen, da die Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet sind, sie anzubieten. ICW wird die industrielle Entwicklung, Belieferung und Unterstützung des Kerns weiter ausbauen und in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit den PVS-Herstellern und Managementgesellschaften effizient einsetzbar machen.
Mit dem Roll-Out, dem täglichen Betrieb und den Online-Abrechnungen hat die Telematik-Infrastruktur in Baden-Württemberg ihre Praxistauglichkeit unter Beweis gestellt. Die Infrastruktur ist so konzipiert, dass über sie nicht nur der Hausarztvertrag nach § 73b, sondern auch Facharztverträge nach § 73c und weitere Versorgungsmodelle umsetzbar sind. Dabei können Ärzte und andere medizinische Leistungserbringer zuverlässig mit Vertragspartnern wie ärztlichen Managementgesellschaften, Kassenärztlichen Vereinigungen, Klinikverbünden und auch mit dem Bürger und Patienten vernetzt werden.
Ausblick für weitere Bundesländer
Um die Versorgung weiter zu verbessern und die Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzten zu stärken ist die AOK Baden-Württemberg im Oktober 2009 noch einen Schritt weiter gegangen. Gemeinsam mit MEDI Baden-Württemberg und dem Bundesverband niedergelassener Kardiologen (BNK) hat sie unter Einbeziehung des Berufsverbands niedergelassener Fachinternisten ohne Schwerpunkt (BNFI) den bundesweit ersten Facharztvertrag für eine kardiologische Vollversorgung nach § 73c SGB V vereinbart. Das Ziel ist eine verbesserte ambulante Versorgung der Patienten und der Erhalt der niedergelassenen kardiologischen Praxen. Um das zu erreichen, wurden Behandlungspfade vereinbart und mit einer darauf aufbauenden völlig neuen Vergütungsstruktur verknüpft. Abgewickelt wird der Facharztvertrag ebenfalls über die von ICW gelieferte Telematik-Infrastruktur. Für diesen Facharztvertrag wird der Kern um spezielle Funktionalitäten erweitert. Starten soll der Vertrag am 1. Juli 2010. Warum die AOK Baden-Württemberg ihren ersten Facharztvertrag nach § 73c SGB V gerade zur Versorgung von Herz-Kreislauf-Patienten geschlossen hat, erläutert Dr. Hoberg: „Mit 42 Prozent nimmt der Anteil der Herz-Kreislauf-Erkrankungen an den Todesfällen in Baden-Württemberg den Spitzenplatz ein. Es ist deshalb unser gemeinsames Anliegen, mit dem neuen Vertrag die Versorgung herzkranker Patienten weiter zu verbessern.“
Die Erfahrungen aus zwei Jahren IT-gestützter Umsetzung hausarztzentrierter Verträge in Baden-Württemberg haben gezeigt, dass über den ICW-Kern unterschiedliche Verträge abgebildet werden können. Dies eröffnet einen großen Gestaltungsspielraum bei den Krankenkassen, insbesondere auch bei den anstehenden heterogenen Facharztverträgen nach § 73c SGB V. Dies schafft die Grundlage für die Akzeptanz auf Seiten der Ärzte. <<