Zwischenbilanz der bisherigen Erfahrungen mit dem AMNOG
Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) ist nun seit dem 1. Januar 2011 in Kraft. Die Einführung dieses gesetzlichen Systems stellt einen Paradigmenwechsel dar, vergleichbar der 1989 eingeführten Festpreisregelung. Hintergrund des AMNOG war das Bestreben des Gesetzgebers, der „Kostenexplosion“ im Gesundheitssystem entgegenzuwirken, und dabei gleichzeitig für ausreichende Arzneimittelversorgung zu sorgen. Die Umsetzung der Regelungen des AMNOG bedeutet vor allem die Implementierung der frühen Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V. Dieses System orientiert sich insbesondere an vergleichbaren Modellen des Scottish Medicine Consortium (SMC) sowie des englischen National Institute for Clinical Research (NICE).
>> Erste Erfahrungen mit dem AMNOG waren bereits unmittelbar nach dessen Einführung zu spüren und sorgen nach wie vor für hitzige Diskussionen. Bereits am 1. Januar 2011 wurde seitens des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) das erste Verfahren im Rahmen der frühen Nutzenbewertung begonnen, mehr als 60 weitere sind bislang eröffnet bzw. ungefähr zur Hälfte bereits beendet worden. Mit Spannung wurde darüber hinaus abgewartet, inwiefern der G-BA sich weiterer Instrumente des AMNOG bedient. So war insbesondere Gegenstand der Diskussion, inwieweit der G-BA sich an die Option des Bestandsmarktaufrufs gemäß § 35 a Abs. 6 SGB V wagen sollte und welche Wirkstoffgruppen hiervon betroffen sein könnten. Zwei Jahre später wurde diese Frage erstmals Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung, zu der mittlerweile der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Februar 2013 im Eilverfahren vorliegt.
Jüngst wuchs der Druck auf den G-BA hinsichtlich der Frage, nach welchen Kriterien er die Wirkstoffgruppen auswähle, die Gegenstand des Bestandsmarktaufrufs sein sollten. Mit Beschluss vom 18. April 2013 hat der G-BA die relevanten Auswahlkriterien nun benannt; diese sollen einer näheren Betrachtung zugeführt werden.
Die Nutzenbewertung des AMNOG wurde bereits bei der Einführung als „lernendes System“ bezeichnet. Dass insoweit Anpassungen der Gesetzestexte und der behördlichen Handhabung als erforderlich erachtet wurden, manifestiert sich bereits jetzt; auf die jüngsten diesbezüglichen Entwicklungen wird in den folgenden Ausführungen ebenfalls das Augenmerk gelegt. Im Wesentlichen soll sich der folgende Beitrag insoweit darauf konzentrieren, wie derzeit das Zusammenspiel zwischen den Beteiligten, also im Wesentlichen dem G-BA und den pharmazeutischen Unternehmern, eingespielt hat. Die Praktikabilität und die maßgeblichen, bislang getroffenen Verfahrensentscheidungen im Rahmen des AMNOG sollen daher untersucht werden. Aus aktuellem Anlass werden die Thematik des Bestandsmarktaufrufs sowie die diesbezüglich vorgesehenen Gesetzesänderungen im Rahmen des Dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften fokussiert.
Frühe Nutzenbewertung
gem. § 35 a Abs. 1 SGB V
Seit dem 1. Januar 2011 richtet sich die Höhe der Erstattung eines neuen Arzneimittels danach, dass der betroffene Hersteller mittels eines Nutzendossiers den Zusatznutzen dieses Arzneimittels nachweist. Der freie Marktzugang neu zugelassener Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ist unverändert geblieben. Vielmehr wird am Maßstab der zweckmäßigen Vergleichstherapie eines bereits zugelassenen Präparats gemessen, inwiefern diesem Vergleichspräparat gegenüber ein zusätzlicher Nutzen besteht. Nun kann der pharmazeutische Unternehmer den Preis des Arzneimittels nicht mehr frei festsetzen. Ergebnis der Nutzenbewertung ist insoweit die Feststellung über das Vorliegen eines solchen Zusatznutzens sowie dessen Ausmaß. Abhängig davon wird entweder eine Entscheidung über die Einordnung in eine Festbetragsgruppe nach § 35 Abs. 1 SGB V oder die Vereinbarung eines Erstattungsbetrages für das Arzneimittel nach § 130 b Abs. 1 Satz 1 SGB V durch den GKV-Spitzenverband getroffen. Der vereinbarte Preis gilt ab dem dreizehnten Monat nach Markteinführung des Arzneimittels, so dass im ersten Jahr nach Markteinführung eine freie Preisgestaltung ermöglicht wurde.
Zu Recht wird von den Regelungen des AMNOG als Instrument der Beweislastumkehr gesprochen; nun hat der pharmazeutische Unternehmer die Vermutung zu entkräften, dass das neue Arzneimittel keinen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie hat. Reicht er kein Dossier ein, gilt der Zusatznutzen als nicht belegt.
Für Arzneimittel für seltene Leiden (sogenannte Orphan Drugs) gilt der Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt. Weitere Nachweise zum Beleg eines Zusatznutzens sind daher nicht erforderlich. Ein Arzneimittel gilt solange als Orphan drug, bis das in den letzten 12 Kalendermonaten erzielte Umsatzvolumen von 50 Millionen Euro nicht überschritten wird. Eine Überschreitung hat die Pflicht zur Vorlage eines vollständigen Dossiers zur Folge.
Status Quo
In den gut zwei Jahren, in denen die Regelungen des AMNOG nun angewendet werden, sind seitens des G-BA 65 Verfahren der frühen Nutzenbewertung begonnen und hiervon 41 Verfahren abgeschlossen worden. Die Ergebnisse dieser Verfahren sind eine nähere Betrachtung Wert: In sechs von den 35 abgeschlossenen Verfahren wurde dem getesteten Arzneimittel ein beträchtlicher Zusatznutzen bescheinigt. Zehn Substanzen wurde ein geringer Zusatznutzen attestiert, fünfzehn Arzneimittel zeigten sich nicht vorteilhaft im Verhältnis zur jeweiligen Vergleichstherapie. In zwei Fällen gab es den Hinweis auf einen Zusatznutzen. Darüber hinaus wurden zwei Präparate mit Orphan Drug-Status getestet; einem der beiden Arzneimittel wurde ein geringer Zusatznutzen bescheinigt, bei dem anderen Präparat war dieser nicht quantifizierbar (vgl. www.b-ga.de, Abruf vom 19. April 2013). Im Ergebnis zeigte sich daher mehrheitlich ein Zusatznutzen im Verhältnis zur Vergleichstherapie, sodass es zu Preisverhandlungen gekommen ist.
Nach 62 begonnenen und 35 abgeschlossenen Nutzenbewertungsverfahren ist jedenfalls festzuhalten, dass das AMNOG nicht mehr in den Kinderschuhen steckt und der bereits prophezeite Lerneffekt des Systems einer Beendigung zuzuführen ist. Dies insbesondere deshalb, weil zwei Jahre nach Einführung des AMNOG wesentliche Entscheidungen getroffen worden sind, die immense wirtschaftliche Auswirkungen auf die pharmazeutischen Unternehmer haben; erhebliche strategische Entscheidungen hängen von der jeweiligen Bewertung des G-BA ab. Dies auch deshalb, weil Deutschland nach wie vor als Referenzmarkt für Arzneimittel gilt, sodass erhebliche Ausstrahlungswirkung von den hier getroffenen Entscheidungen ausgeht. Soweit ein Zusatznutzen daher nicht belegt wird und das jeweilige Präparat preisgünstig abgegeben werden muss, ziehen die pharmazeutischen Unternehmer daher gegebenenfalls die sogenannte „Opt-Out“-Karte und stellen das für sie unwirtschaftliche Präparat den deutschen Versicherten nicht mehr zur Verfügung, um ein Preisdumping in anderen Ländern zu vermeiden.
Hieran zeigt sich die Macht des G-BA, dessen Ermessensspielraum in Bezug auf die Instrumentenwahl zur Preisregulierung im Übrigen fortbesteht; nach wie vor werden Verfahren zur Festbetragsgruppenbildung nach § 35 SGB V eröffnet und ebenfalls besteht die Möglichkeit von Therapiehinweisen oder Verordnungsausschlüssen.
Bestandsmarktaufruf § 35 a Abs. 6 SGB V
In den besonderen Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit ist derzeit der Aufruf des Bestandsmarktes und damit die Nutzenbewertung bereits vor dem 1. Januar 2011 zugelassener Arzneimittel gerückt, von dem erhebliches Einsparpotential erhofft wird. Aufmerksamkeit verdient der Bestandsmarktaufruf unter anderem deshalb, weil – anders als im Rahmen der obligatorischen Nutzenbewertung nach § 35 Abs. 1 SGB V – der pharmazeutischen Unternehmer bei Markteinführung kein Dossier zur Nutzenbewertung erstellen musste; die Vorbereitungszeit für die Einreichung des Dossiers ist nun aber knapp. Innerhalb von drei Monaten nach Zustellung des Beschlusses durch den G-BA ist nun ein Nutzendossier zu erstellen und vorzulegen.
Der Aufruf zur Nutzenbewertung von Bestandsarzneimitteln, also solchen, die bereits vor dem 1. Januar 2011 zugelassen wurden und die noch Unterlagenschutz genießen, ist dabei, so § 35 a Abs. 6 SGB V, „vorrangig“ aus zwei Gründen möglich. Einmal dann, wenn diese Arzneimittel Versorgungsrelevanz haben, § 35 a Abs. 6 1. Alt. SGB V. Andernfalls dann, wenn sie mit einem Arzneimittel in Wettbewerb stehen, das im Rahmen der obligatorischen Nutzenbewertung bewertet wurde, § 35 a Abs. 6 2. Alt. SGB V, wenn sich also im Rahmen der obligatorischen Nutzenbewertung die direkte Vergleichstherapie mit einem Bestandsarzneimittel ergibt.
Der G-BA hat bislang eine Wirkstoffgruppe aufgerufen, die Gliptine (Beschluss vom 7. Juni 2012). Dieser erste Bestandsmarktaufruf ist auf erhebliche Kritik gestoßen. Ein betroffener pharmazeutischer Unternehmer wehrte sich gegen die Aufforderung zur Vorlage eines Nutzenbewertungsdossiers mit verschiedenen Argumenten. Eine nähere Betrachtung des diesbezüglich entschiedenen Eilverfahrens lohnt sich, da der Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 28. Februar 2013 (Az. L 7 KA 106/12 KL ER) maßgeblich für den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften war, den die Bundesregierung jüngst veröffentlicht hat. Bereits aus dem Beschluss im Eilverfahren vom 28. Februar 2013 können wesentliche Erkenntnisse gewonnen werden:
Rechtcharakter der einzelnen Verfahrensschritte
Maßgeblicher Streitgegenstand des vorgenannten Eilverfahrens war, ob der Beschluss des G-BA zur Aufrufung des Bestandsmarkts bzw. die Aufforderung zur Vorlage eines Dossiers zur Bestandsmarkt-Nutzenbewertung einen Verwaltungsakt darstelle und die einzelnen Verfahrensschritte insoweit jeweils eigenständig mit Widerspruch bzw. Anfechtungsklage angreifbar seien. Das Gericht verneinte dies; der Beschluss des G-BA sei eine bloße Vorbereitungshandlung und diene der Einleitung eines Normsetzungsverfahrens; vergleichbar sei dies mit dem Planaufstellungsbeschluss nach § 2 BauGB, mit dem ebenfalls lediglich das Verfahren zur verbindlichen Bauleitplanung eingeleitet werde, so das LSG Berlin-Brandenburg.
Ebenfalls war Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung, dass § 35 a Abs. 8 SGB V, nach dem kein gesonderter Rechtsschutz gegen die dort genannten einzelnen Verfahrensschritte der Nutzenbewertung nach § 35 a Abs. 2 SGB V, des Beschlusses nach § 35 a Abs. 3 SGB V und der Einbeziehung eines Arzneimittels in eine Festbetragsgruppe nach § 35 a Abs. 4 SGB V gewährt wird, dem Wortlaut nach keine Anwendung auf den Bestandsmarktaufruf nach § 35 a Abs. 6 SGB V findet. Konsequenterweise müssten daher die regulären Rechtsbehelfe gegen den (belastenden) Verwaltungsakt des Bestandsmarktaufrufs anwendbar sein. Dies seien, so der betroffene pharmazeutische Unternehmer als Antragsteller, Widerspruch und Anfechtungsklage.
Verfassungsrechtlicher Hintergrund des (im Hauptverfahren noch anhängigen) Streits ist, inwiefern dem betroffenen pharmazeutischen Unternehmer effektiver Rechtsschutz bereits im Verlauf des Nutzenbewertungsverfahrens gewährt werden muss, oder ob ein unzulässiger Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG besteht, wenn erst gegen die Schiedsstellen-Entscheidung gemäß § 130 b SGB V rechtliche Schritte eingeleitet werden können.
Problematisch ist einmal, dass der Bestandsmarktaufruf nur so lange möglich ist, wie für das jeweilige Bestandsarzneimittel Unterlagenschutz besteht. In diesem Zeitraum generiert der pharmazeutische Unternehmer vor dem generischen Wettbewerb den Hauptumsatz mit neuen Präparaten – eine wichtige und begrenzte Zeit, in der eine anhängige Klage gegen den Bestandsmarktaufruf in ihrem Effekt maßgeblich von der aufschiebenden Wirkung abhängt. Wenn also das gerichtliche Verfahren keine aufschiebende Wirkung haben sollte, so hilft die Klagemöglichkeit erst gegen die gerichtlich angreifbare Schiedsstellen-Entscheidung nicht; eine diesbezügliche Entscheidung des Gerichtsprozesses würde erst nach 4-6 Jahren ergehen und käme somit für den pharmazeutischen Unternehmer zu spät. Eine erhebliche Zeit wäre möglicherweise verstrichen und die betroffenen Arzneimittel wären zeitnah generischem Wettbewerb ausgesetzt.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die durch den Gesetzgeber geschätzten Kosten für die Beibringung eines Nutzendossiers in Höhe von 5.000 Euro in der Praxis erheblich überschritten werden müssen. So entstehen regelmäßig bereits Kosten in Höhe von ca. 550.000 Euro für die Übersetzung der weltweit veröffentlichten Studien. In der dem LSG Berlin-Brandenburg zur Entscheidung vorgelegten Konstellation wurden seitens des pharmazeutischen Unternehmers sechs Mitarbeiter für ein Jahr gebunden, um das Nutzendossier zu erstellen, sodass von erheblicher Kostenbelastung durch den Bestandsmarktaufruf gesprochen werden kann.
Im Übrigen bedarf es keiner näheren Erläuterung, dass eine Dossiererstellung innerhalb von drei Monaten unmöglich ist und diese – verfahrensrechtlich nicht angreifbare – Frist den pharmazeutischen Unternehmer in erhebliche Probleme bringen kann; nicht zuletzt deshalb, weil Rechtsfolge einer verspäteten Dossiereinreichung der nicht bestätigte Zusatznutzen ist.
Im Eilverfahren entschied sich das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 28. Februar 2013 (Az: L7 KA 106/12 KL ER) allerdings gegen den Verwaltungsrechtscharakter der Aufforderung zur Dossiereinreichung, so dass nach Auffassung des LSG Berlin Brandenburg erst nach den abgeschlossenem Verfahrensschritten der ordentliche Klageweg bestritten werden kann.
Auf Grund der gerichtlichen Entscheidung, dass die Aufforderung zur Einreichung eines Nutzendossiers keinen Verwaltungsakt darstellt, kam es in der Folge nicht mehr darauf an, ob § 35 Abs. 8 SGB V auf den Aufruf des Bestandsmarktes Anwendung findet. Das Gericht forderte den Gesetzgeber jedoch auf, diese Normen klarzustellen, da nach dem Wortlaut in der Aufzählung der Verfahrenshandlungen die Erwähnung des § 35 Abs. 6 SGB V (Bestandsmarktaufruf) fehlt.
Rechtsschutz gegen den Bestandsmarktaufruf
Als Reaktion auf die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg hat der Gesetzgeber „zur Klarstellung“ in den Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften aufgenommen, dass auch gegen den Aufruf des Bestandsmarktes eine gesonderte Klage unzulässig sein soll. Zukünftig wird danach im Rahmen des Bestandsmarktaufrufs gemäß § 35 Abs. 6 Satz 1 SGB V „auch gegen die Veranlassung nach Satz 1 eine gesonderte Klage unzulässig“ (vgl. Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, Art. 3 Nr. 3 a) sein.
Auswahl der aufgerufenen Wirkstoffgruppen
Nach dem Vorgenannten wird deutlich, dass für die pharmazeutischen Unternehmer von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung ist, ob ein Dossier zur Nutzenbewertung erstellt werden muss und schließlich ob ein bereits im Markt befindliches Präparat der vergleichenden Nutzenbewertung zugeführt wird. Insoweit ist – insbesondere vor dem Hintergrund wettbewerbsrechtlicher Anforderungen – maßgeblich, dass die Kriterien des G-BA im Hinblick auf die aufzurufenden Bestandsarzneimittel transparent sind und einer geschlossenen, berechenbaren Logik folgen.
Dabei ist der Aufruf des Bestandsmarktes, anders als die obligatorische Nutzenbewertung, als Ermessensnorm ausgestaltet worden. Hierbei hat der G-BA sowohl Entscheidungshoheit hinsichtlich der Frage, ob ein Bestandsmarktaufruf erfolgt als auch hinsichtlich der Frage, welche Wirkstoffgruppen einer vergleichenden Nutzenbewertung zugeführt werden. Ungeachtet dessen darf es keine willkürliche Auswahl der Wirkstoffklassen geben.
Am 18. April 2013 hat der G-BA jüngst beschlossen, welche weiteren Wirkstoffgruppen in naher Zukunft Gegenstand des Bestandsmarktaufrufes sein werden. Insbesondere hat der G-BA die Kriterien veröffentlicht und erläutert, nach denen die Auswahl der jeweiligen Wirkstoffgruppen getroffen wird.
Kriterien des Aufrufs
Zum einen ist der „Umsatz eines Arzneimittels mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Ausdruck seines wirtschaftlichen Gewichts“ (Beschluss des G-BA vom 18. April 2013, S. 2 und 3) und daher eines der beiden Kriterien für die Auswahl der aufzurufenden Präparate. Zum anderen ist „die Anzahl der verordneten Arzneimittelpackungen (als) Aufgreifkriterium für die Würdigung des Ausmaßes der therapeutischen Bedeutung des Arzneimittels für die Versorgung der Versicherten in den zugelassenen Anwendungsgebieten“ (ebenda). Insoweit wird gleichermaßen danach entschieden, welche Präparate am häufigsten verordnet werden.
Diese Auswahlkriterien, so der G-BA, sollen auf Grund der wesentlichen Bedeutung für die Versorgung in ein am Sinn und Zweck der Regelung in § 35a Abs. 6 SGB V orientierten sachangemessenen Verhältnis zueinander gebracht werden. Der G-BA hat sich insoweit auf den Arzneimittelverordnungsreport 2012 berufen, der in diesem Kontext untersucht hat, dass zwischen den Jahren 1986 und 2011 892 neue Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen in Verkehr gebracht wurden (vgl. Schwabe/Paffrath, Arzneiverordnungsreport 2012, S. 189 f). Diejenigen Präparate, die vorzeitig - z. B. wegen gravierender Mängel - aus dem Verkehr genommen wurden bzw. noch immer unter Patentschutz stehen, wurden herausgenommen. Im Ergebnis lagen den Autoren des Arzneiverordnungsreports dann 188 Wirkstoffe zur Auswertung vor, auf deren Basis eine Umsatz- und Verordnungsentwicklung im Produktlebenszyklus ermittelt wurde. Diese Lebenszyklusverläufe bildeten die Basis für die im Rahmen der Prognose unterstellte Entwicklung von Umsatz und Verordnung der im Bestandsmarkt vorhandenen Wirkstoffe (Beschluss des G-BA vom 18. April 2013, S. 3). Hierbei soll der Umsatz des Präparats grundsätzlich zu 80 % berücksichtigt werden und die Verordnungshäufigkeit zu 20 %, wobei sich die Verordnungshäufigkeit gleichermaßen in der Umsatzberechnung wiederfindet. Sukzessive sollen nun alle nicht generischen, versorgungsrelevanten Produkte einer Nutzenbewertung zugeführt werden.
Aufzurufende Wirkstoffklassen
Im Einzelnen eröffnete der G-BA, dass noch im Jahr 2013 sechs weitere Wirkstoffgruppen aufgerufen werden sollen. Dies betrifft folgende Anwendungsgebiete: Starke, chronische Schmerzen; Osteoporose und Knochenmetastasen; Anticoagulantien; Diabetes mellitus Typ 2; Depression und schließlich rheumatoide Arthritis. In der Reihenfolge der Aufzählung sollen die Hersteller der jeweiligen Substanzen zwischen dem 15. Juli 2013 und dem 1. Dezember 2013 zur Dossiereinreichung aufgefordert werden und haben dann jeweils drei Monate Zeit zur Dossiererstellung.
Den Startschuss soll das Schmerzmittel Tapentadol (Grünenthal) als Leitsubstanz machen. Die nächsten Wirkstoffe sind dann Denosumab (Amgen), Strontiumranelat (Servier), Parathyroidhormon und Teriparatid (Lilly). Im Anschluss werden die beiden Gerinnungshemmer Rivaroxaban (Bayer) und Dabigatran (Boehringer Ingelheim) mit der gemeinsamen Indikation Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern sowie Prophylaxe tiefer Venenthrombosen aufgerufen. Sodann steht der Aufruf der Antidiabetika Liraglutid (Novo Nordisk) und Exenatid (Lilly) an. Zum Jahresende sollen die Antidepressiva Agomelatin (Servier) und Duloxetin (Lilly) folgen sowie schließlich die Arthritis-Antikörper Toclizumab (Hoffmann-La Roche), Golimumab (MSD) und Certolizumab (UCB).
Der jeweils erstgenannte Wirkstoff gilt als diejenige Substanz, die den Aufruf der folgenden Wirkstoffe triggert. Diese werden dann unabhängig davon, wie lange ihr Unterlagenschutz noch reicht, aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit aufgerufen.
Gleichbehandlung der Hersteller
Trotz des nun gewährten Einblicks in die Entscheidungsgrundlagen zum Bestandsmarktaufruf bleibt der Vorwurf von Wettbewerbsverzerrung und Ungleichbehandlung der konkurrierenden pharmazeutischen Unternehmer bestehen. So ist nach wie vor angreifbar, dass eine vollständige Gleichbehandlung aller Wirkstoffgruppen bereits deshalb unmöglich ist, weil die Ressourcen von G-BA und IQWiG nicht ausreichen werden, um innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraumes alle (relevanten) Wirkstoffklassen aufzurufen, auch wenn der straffe Zeitplan des G-BA ehrgeizige Ziele setzt. Die Tatsache, dass der Bestandsmarktaufruf nur innerhalb der Übergangszeit bis zum Ablauf des Unterlagenschutzes von den vor dem 1. Januar 2011 zugelassenen Arzneimitteln – dem Stichtag für die obligatorische Nutzenbewertung – möglich ist, setzt der Möglichkeit des Bestandsmarktaufrufs ein zeitliches Ende und bedeutet dadurch, dass Hersteller allein wegen Fristablaufs von der direkten Gegenüberstellung mit vergleichbaren Präparaten verschont bleiben. Die pharmazeutischen Unternehmer werden die Äußerung des Vorsitzenden des G-BA, die veröffentlichten Kriterien sowie die in naher Zukunft aufzurufenden Wirkstoffgruppen seien „gerichtsfest“, sicherlich nicht ungeprüft zur Kenntnis nehmen.
Auch nach der Bekanntgabe der Auswahlkriterien der aufzurufenden Wirkstoffklassen bleibt überdies das Argument unangefochten, dass ein selektiver Bestandsmarktaufruf den Erfordernissen des Art. 3 Abs. 1 GG nicht genügt. Aus diesem Grund haben beispielsweise in Schottland und in England die jeweiligen Institutionen bewusst auf den Aufruf des Bestandsmarkts verzichtet. Der Bestandsmarktaufruf sei gleichermaßen aufwendig wie rechtlich bedenklich. Insoweit sehe man als genügend an, dass nach Auslauf des Unterlagenschutzes der Generikawettbewerb die Preise reguliere.
Fazit
Von allen Seiten zeigt man sich offen in Bezug auf Anpassungen der Regelungen des AMNOG, wissend, dass es sich um ein Großprojekt mit immenser wirtschaftlicher Bedeutung handelt. Im Einzelnen ist jedoch festzuhalten, dass nicht nur Stellschrauben bedient werden müssten. Wesentliche Fragen nach der Recht- und Verfassungsmäßigkeit beispielsweise des Bestandsmarktaufrufs als rückwirkendem Eingriff in den Arzneimittelmarkt sind nicht beantwortet; auch nicht dadurch, dass der Gesetzgeber – wohl gemerkt nach Aufrufung der ersten Wirkstoffgruppe – seine Kriterien bekanntgegeben hat.
Bedenklich erscheint ebenfalls, dass die Aufrufdaten für die nächsten Wirkstoffgruppen nun allesamt veröffentlicht wurden und den Herstellern teilweise nur zweieinhalb Monate, teilweise siebeneinhalb Monate Vorlauf vor dem Beginn des Verwaltungsverfahrens gewährt wird. Diese Zeit ist, wie bereits erläutert, für die Erstellung eines Nutzendossiers maßgeblich und kann über den Ausgang des Verfahrens entscheiden. <<