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Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen: Ein Vorschlag, die Kontroverse und ihre Hintergründe

Mit der jüngsten Gesundheitsreform (GKV-WSG) wurden die Aufgaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erweitert: Bislang konnte es Arzneimittel nur in Hinblick auf ihren medizinischen Nutzen bewerten. Künftig soll das Institut auch die Kosten der Medikamente in ein Verhältnis zu dem zuvor ermittelten Nutzen setzen. Laut Gesetz sollen diese Kosten-Nutzen-Bewertungen zum einen dazu dienen, Höchstbeträge für bestimmte Medikamente festzulegen. Zum anderen können sie den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) dabei unterstützen, die Wirtschaftlichkeit medizinischer Verfahren zu beurteilen. Das vorgeschlagene Konzept favorisiert als Methode die „Analyse der Effizienzgrenze“. Als zweites Element ist eine „Budget-Impact-Analyse“ vorgesehen, um abzuschätzen wie sich Entscheidungen auf die Ausgaben im Gesundheitswesen auswirken.

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Erstveröffentlichungsdatum: 01.03.2009

Abstrakt: Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen: Ein Vorschlag, die Kontroverse und ihre Hintergründe

Mit der jüngsten Gesundheitsreform (GKV-WSG) wurden die Aufgaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erweitert: Bislang konnte es Arzneimittel nur in Hinblick auf ihren medizinischen Nutzen bewerten. Künftig soll das Institut auch die Kosten der Medikamente in ein Verhältnis zu dem zuvor ermittelten Nutzen setzen. Laut Gesetz sollen diese Kosten-Nutzen-Bewertungen zum einen dazu dienen, Höchstbeträge für bestimmte Medikamente festzulegen. Zum anderen können sie den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) dabei unterstützen, die Wirtschaftlichkeit medizinischer Verfahren zu beurteilen. Das vorgeschlagene Konzept favorisiert als Methode die „Analyse der Effizienzgrenze“. Als zweites Element ist eine „Budget-Impact-Analyse“ vorgesehen, um abzuschätzen wie sich Entscheidungen auf die Ausgaben im Gesundheitswesen auswirken.

Abstract: Assessing Value for Money: A Proposal, the Controversy and Its Background

German legislature has expanded the responsibilities of the Institute for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG) with the latest Health Care Reform. So far, the assessment of pharmaceuticals has been limited to their clinical benefit. In future, the Institute will also consider the costs of drugs and place these costs in relation to the benefits determined beforehand. According to legislation, the results will support the setting of ceiling prices for specific drugs. On the other hand, they will support the Federal Joint Committee in assessing the efficiency of medical interventions. The concept favours a method called the Efficiency Frontier Analysis. As a second element a Budget Impact Analysis is included, which estimates how a decision may affect expenditures in the health care system as a whole.

Literatur

Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung: http://www.iqwig.de/kosten-nutzen-bewertung.736.html

Zusätzliches

Plain-Text

Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen: Ein Vorschlag, die Kontroverse und ihre Hintergründe

Die Kosten von Gesundheit sind ein Thema, das in Deutschland sehr zwiespältige Gefühle auslöst. Bereits seit den 1970er-Jahren sind Ausgaben für das Gesundheitswesen, die Höhe der Krankenkassenbeiträge und Preise von Arzneimitteln regelmäßig Gegenstand sehr kontroverser öffentlicher Diskussionen. Ärzte in Praxen und Krankenhäusern sind längst gezwungen, bei ihren medizinischen Entscheidungen im Alltag auch Aspekte der Wirtschaftlichkeit zu berücksichtigen. Dennoch fehlte in Deutschland bislang ein akzeptiertes und transparentes Instrument, mit dem der medizinische Nutzen einer Behandlung mit den dafür nötigen Ausgaben abgewogen werden sollte. Solch ein Verfahren ist aber die Grundlage für Entscheidungen darüber, für welchen Nutzen welche Kosten noch angemessen und zumutbar sind.

>> Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das im April des Jahres 2007 in Kraft trat, hat der Gesetzgeber einen weiteren Schritt unternommen, diese Lücke zu schließen. Das Sozialgesetzbuch sieht jetzt vor, dass bei bestimmten Arzneimitteln (aber auch alle anderen medizinischen Leistungen sind nicht ausgeschlossen) in Zukunft eine „Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses“ stattfinden kann. Diese soll vor allem dabei helfen, für Arzneimittel einen „Höchstbetrag“ zu finden, der ihren Nutzen angemessen vergütet. Auch wenn die Anwendung also auf eine relativ spezielle Frage zielt, ist die explizite Einführung der Kosten-Nutzen-Bewertung eine grundlegende Neuerung für das deutsche Gesundheitswesen mit weitreichenden Folgen.
Da war zu erwarten, dass der im Januar 2008 zur Diskussion gestellte erste Methodenvorschlag des Instituts, wie diese Kosten-Nutzen-Bewertung ablaufen könnte, kontroverse Reaktionen auslösen würde. Viele Stellungnahmen, gerade von deutschen Gesundheitsökonomen, fielen ausgesprochen kritisch aus.
Die Kritik ist vor allem eine technisch-methodische Kritik. Uns wurde immer wieder vorgeworfen, internationale Standards der Gesundheitsökonomie nicht zu beachten. Wir halten diese Kritik für unzutreffend, denn unser Vorschlag beruht ohne Zweifel auf ganz grundlegenden gesundheitsökonomischen und international akzeptierten Konzepten und Methoden. Einen wesentlichen Grund für die Ablehnung sehen wir eher darin, dass der Methodenvorschlag einige Grundübereinkünfte nicht akzeptiert, auf denen viele aktuelle gesundheitsökonomische Analysen fußen. Dabei handelt es sich aber nicht um methodische Standards, sondern um subjektive Festlegungen, die alleine auf Werturteilen basieren. Solche Werturteile sind unvermeidbar, aber sie können nicht unreflektiert übernommen werden.
Während viele Gesundheitsökonomen einen objektiv utilitaristischen Ansatz (siehe Lüngen) als Standard ansehen, ist der Vorschlag des IQWiG der Versuch, das tief im deutschen Sozialgesetz verankerte Solidaritäts-Prinzip zu bewahren.
Aus dieser fundamental anderen Perspektive leitet sich ab, dass es eben nicht unbedingt angemessen und auch nicht gerecht ist, auf Menschen mit verschiedenen Krankheiten und in ganz verschiedenen Lebenssituationen ein Einheitsmaß anzuwenden. Vielmehr entspricht es den Vorgaben unseres Sozialgesetzbuches, wie wir es interpretieren, dass eine Bewertung eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses immer auch die Besonderheiten einer Krankheit mit einbeziehen sollte.

Die Rolle des IQWiG
Die Gründung des Instituts geht auf die Gesundheitsreform des Jahres 2004 zurück (GKV-Modernisierungsgesetz, GMG), mit der der Gesetzgeber die Einrichtung eines fachlich unabhängigen neuen Instituts innerhalb des deutschen Gesundheitswesens veranlasste. Im Juni 2004 gründete der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine unabhängige Stiftung des privaten Rechts. Der ausschließliche Zweck dieser Stiftung ist die Unterhaltung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Der Sitz des Instituts ist Köln.
Die Hauptaufgabe des Instituts ist es, den G-BA bei der Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags zu unterstützen. Dazu bewertet das Institut Nutzen und Risiken von medizinischen Verfahren sowie deren Wirtschaftlichkeit, um zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung der deutschen Bevölkerung beizutragen. Um in Zukunft auch solche Aufträge des G-BA bearbeiten zu können, die neben der Bewertung des Nutzens auch die Abschätzung der Kosten beinhalten, schlägt das Institut jetzt eine Methodik zur Kosten-Nutzen-Bewertung vor (http://www.iqwig.de/index.736.html).
Der Vorschlag beinhaltet zwei Elemente:
1) Das erste Element ist eine Methode, die „Analyse der Effizienzgrenze“ genannt wird. Diese Methode lässt sich sehr flexibel für den Vergleich des Verhältnisses von Kosten und Nutzen einer beliebigen Zahl von Therapiealternativen nutzen.
2) Das Konzept schließt als zweite Methode eine „Budget-Impact-Analyse“ (deutsch: Budget-Einfluss-Analyse) ein. Mit dieser Analyse kann abgeschätzt werden, wie sich eine Entscheidung insgesamt auf die Ausgaben im Gesundheitswesen auswirkt.
Mit diesen beiden Methoden können prinzipiell alle medizinischen Technologien wie zum Beispiel Operationsmethoden, Diagnoseverfahren oder Früherkennungsuntersuchungen bewertet werden. Das Gesetz sieht aber für die Kosten-Nutzen-Bewertung von neuen Arzneimitteln eine besondere Rolle vor.

Die Rahmenbedingungen
Der Methodenvorschlag wurde gemäß einer Reihe von Rahmenbedingungen erstellt, welche die rechtlichen Voraussetzungen sowie den wissenschaftlichen Kontext definieren, in dem Methoden zur ökonomischen Bewertung von Gesundheitstechnologien für das IQWiG entwickelt werden müssen. Die rechtlichen Anforderungen an die Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Gesundheitstechnologien sind in der deutschen Gesetzgebung in § 35b SGB V festgelegt [1], bieten aber Raum für Interpretationen.
Im Vergleich zu anderen Gesundheitssystemen in der EU und darüber hinaus gibt es im deutschen Gesundheitswesen keine auf nationaler Ebene festgelegten Ausgabengrenzen für Arzneimittel. Zusätzlich werden aus grundsätzlichen Überlegungen heraus im deutschen Gesundheitssystem den Versicherten keine Nutzen stiftenden Therapieverfahren ausschließlich aus Kostengründen vorenthalten. Dementsprechend werden effektive Behandlungsmethoden anfänglich unabhängig vom Preis übernommen. Unter Anerkennung der Tatsache, dass dieser Ansatz nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann, wurde das IQWiG damit beauftragt, eine Methodik für gesundheitsökonomische Bewertungen von Arzneimitteln sowie anderen Interventionen zu entwickeln.
Da das deutsche Gesundheitswesen keiner festgesetzten nationalen Budgetierung unterliegt, unterscheidet sich die Ausgangslage für derartige gesundheitsökonomische Bewertungen in Deutschland von der anderer Gesundheitssysteme: Sie beinhaltet weder eine Festlegung von Prioritäten für die Mittelverwendung über das gesamte Gesundheitssystem hinweg noch werden die damit verbundenen Austauschbeziehungen (Trade‑offs) bezüglich des Ressourcenverbrauchs und der Effektivität berücksichtigt. Stattdessen verfolgt der Gesetzgeber, wie er vom IQWiG interpretiert wird, ein enger gefasstes Ziel, nämlich einen Höchstbetrag festzulegen, zu dem eine effektive Gesundheitstechnologie in einem gegebenen Indikationsbereich wiedererstattet werden sollte.
Diese Entscheidung begründet sich auf der Bewertung durch das IQWiG. Dabei wird im ersten Schritt bewertet, ob ein Zusatznutzen im Vergleich zu bestehenden Therapiealternativen vorliegt und erst danach wird, falls dies in Auftrag gegeben wird, die Abwägung zwischen Kosten und Nutzen vorgenommen. Wird beispielsweise eine neue effektive Behandlung des Diabetes mellitus evaluiert, würde das IQWiG vorher den zusätzlichen therapeutischen Nutzen im Vergleich zu den besten verfügbaren Blutzucker senkenden Therapieverfahren untersuchen und danach den Einfluss auf die Kosten abschätzen.
Das Ergebnis dieser Evaluation wird zusammen mit Aussagen über den Nutzen und die Kosten alternativer Blutzucker senkender Behandlungsmethoden auf dem deutschen Markt zur Unterstützung bei der Bestimmung des Höchstbetrages bereitgestellt. Der zusätzliche Nutzen, der in anderen Indikationen bzw. in anderen wirtschaftlichen Bereichen durch die zusätzlich anfallenden Kosten gestiftet werden könnte, wird nicht in die Betrachtung einbezogen.
Der explizite Fokus jeder Evaluation auf eine Indikation ist spezifisch in Deutschland. Andere Konzepte sehen vor, bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien die Frage der Ressourcenallokation über das gesamte Gesundheitssystem hinweg zu betrachten. Deswegen wurde hier nach einem gebräuchlichen Messverfahren für die Bestimmung der Wertigkeit des Nutzens gesucht, auch wenn Vergleiche typischerweise innerhalb einer Indikation vorgenommen werden. Dies beinhaltet unweigerlich Werturteile über den Stellenwert der Krankheiten untereinander sowie über den relativen Nutzen (wenn auch nur implizit).
Bisher wurde noch keine allgemein akzeptierte Methode hierfür gefunden. Stattdessen stellt die Methodik des IQWiG einen pragmatischen Ansatz dar, der auf den Vergleich der Effizienz von Behandlungsmethoden in einem gegebenen Therapiebereich abzielt, ohne die umfassende Frage einer Priorisierung innerhalb des gesamten Gesundheitssystems zu beantworten. Hierdurch konzentriert sich die Evaluation darauf, sicherzustellen, dass eine effiziente Behandlung der jeweiligen Krankheitsbilder gewährleistet ist, ohne eine Wertentscheidung darüber zu treffen, ob die Behandlung einer bestimmten Krankheit im Vergleich zu anderen Erkrankungen vorgezogen wird oder wie viele Mittel für diese Behandlung aufgebracht werden sollen. Diese gesellschaftliche Werteinschätzung bleibt den gesetzlich vorgesehenen Entscheidungsträgern vorbehalten.
Eine weitere wichtige Einschränkung besteht darin, dass die ökonomische Bewertung nur solche Gesundheitstechnologien untersucht, die als überlegen (im Vergleich zu vorhandenen Technologien) bewertet wurden, und dass der in der Kosten-Nutzen-Bewertung zu berücksichtigende therapeutische Zusatznutzen dem entspricht, der vom IQWiG gemäß seinen veröffentlichten Methoden (basierend auf den Prinzipien der EbM) ermittelt wurde. Hieraus ergeben sich mehrere Implikationen. Neue, unterlegene Behandlungen werden ökonomisch nicht bewertet, auch wenn sie deutlich günstiger sind als vorhandene.
Zusätzlich bedeutet es auch, dass die eingehenden Nutzenparameter die vom IQWiG vorgeschaltete Nutzenbewertung widerspiegeln – es dürfen keine zusätzlichen Nutzenparameter, selbst wenn solche indirekt aus der EbM-basierten Nutzenbewertung und den verwendeten Endpunkten abgeleitet werden könnten, mit einbezogen werden.
Ein weiterer Eckpunkt des Auftrags zur Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses ist durch § 139a SGB V vorgegeben. Dort heißt es: „Das Institut hat zu gewährleisten, dass die Bewertung des medizinischen Nutzens nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin und die ökonomische Bewertung nach den hierfür maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie erfolgt.“
Schon diese Verknüpfung von „international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin“ und „maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie“ stellt an die zukünftigen gesundheitsökonomischen Methoden besondere Anforderungen.
Die Standards der evidenzbasierten Medizin sind seit 50 Jahren in der Entwicklung und mittlerweile so weit gereift, dass sie international nicht mehr ernsthaft umstritten sind. Ihr Einsatz ist für das Institut bereits seit der Gründung im Jahr 2004 Routine: Alle vom Institut veröffentlichten Bewertungen basieren auf diesen methodischen Standards.
Um der zweiten gesetzlichen Forderung nach „maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie“ gerecht zu werden, hat das Institut ein Gremium internationaler Experten der Gesundheitsökonomie und benachbarter Themengebiete damit beauftragt, solche Standards zu benennen.
Die Antwort des Expertengremiums fiel jedoch differenziert aus: Zwar gibt es Methoden, die von der einen oder anderen Schule von Fachleuten favorisiert werden. Es gibt aber für die spezielle deutsche Situation definitiv keine Standardmethoden, die ähnlich gut abgesichert sind wie die Methoden der evidenzbasierten Medizin. Deshalb hat das IQWiG die internationalen Experten anschließend beauftragt, auf Basis akzeptierter Methoden ein gesundheitsökonomisches Konzept zu erarbeiten, das die besonderen Gegebenheiten in Deutschland berücksichtigt.

Was Gesundheitsökonomie
erreichen soll
Gesundheitsökonomie ist ein Mittel zum Zweck. Ihr Auftrag ist es, begrenzte Mittel vernünftig und gerecht einzusetzen, um ein gesellschaftlich vereinbartes Ziel zu erreichen. Aus der Sicht von Ökonomen geht es auch im Gesundheitswesen um eine Standardfrage: Wie bekomme ich für eine Investition den maximalen Ertrag? Was Gesundheitsökonomie heikel macht, ist, dass der „Ertrag“ unter anderem in Kategorien wie „längeres Leben“, „Verkürzung der Krankheitsdauer“, „Linderung von Beschwerden“ und „höhere Lebensqualität“ bemessen wird. Mit anderen Worten: Geld soll dazu genutzt werden, auch humanitäre Ziele zu verwirklichen. Gesundheitsökonomie soll also letztlich ein Lebensumfeld mit erschaffen, das einer solidarischen Gesellschaft wichtig ist.
Das bedeutet aber auch: Jede Gesellschaft darf (und muss) sich selbst auf Ziele einigen, die sie durch ihre Ökonomie erreichen will. In jede Kosten-Nutzen-Bewertung müssen an vielen Stellen Werturteile einfließen, die nicht vom Institut gefällt werden können, sondern der Gesellschaft überlassen bleiben müssen.
Der Blick auf andere Länder hilft da nur beschränkt. Was eine Gesellschaft als „gerecht“ ansieht, hängt nicht nur vom kulturellen und geschichtlichen Hintergrund ab, der die Werte der Bevölkerung mitprägt, sondern auch von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes. Und die Antwort auf die Frage, was ökonomisch „vernünftig“ ist, hängt wesentlich davon ab, wie das Gesundheitswesen aufgebaut ist.
Das Zusammenspiel der Institutionen, die Höhe des Budgets und die vorhandenen Instrumente zur Kostenkontrolle können nicht von heute auf morgen umgestellt werden. Mit anderen Worten: Jede Gesellschaft muss eine zu ihren Zielen und Strukturen passende „eigene“ Kombination von Methoden der Gesundheitsökonomie entwickeln.
Seit April 2007 gibt das Sozialgesetzbuch der Selbstverwaltung den Höchstbetrag als weiteres Instrument der Kostenkontrolle an die Hand (§31 Abs. 2a SGB V). Höchstbeträge kann die Selbstverwaltung in Zukunft für Medikamente vergeben, die sich nicht in eine Festbetragsgruppe einschließen lassen, weil sie gegenüber den alternativen Präparaten medizinische Vorteile bieten.
Höchstbeträge sind dazu gedacht, für diesen zusätzlichen Vorteil einen angemessenen Erstattungspreis zu finden. Eben hier kommt die Methode der Kosten-Nutzen-Bewertung zukünftig zum Einsatz.
Welche Folgen Höchstbeträge für Patienten haben, hängt von Entscheidungen der Hersteller ab. Pharmafirmen sind nicht gezwungen, ihre Preise auf einen festgelegten Höchstbetrag abzusenken. Wenn also die Selbstverwaltung zum Beispiel einen Höchstbetrag für ein Arzneimittel auf 500 Euro festlegt, der Hersteller seinen Preis aber weiterhin bei 900 Euro belässt, müssten betroffene Patienten die 400 Euro Differenz aus der eigenen Tasche bezahlen.
Das könnte dazu führen, dass Kosten insgesamt gar nicht begrenzt, sondern vermehrt von Patienten getragen würden. So würden Höchstbeträge vor allem wirtschaftlich schlechter gestellten Patienten den Zugang zu solchen Arzneimitteln erschweren, die einen gewissen Zusatznutzen im Vergleich zu der günstigeren Alternative aufweisen.

Schritte
Falls es mindestens eine wirksame Behandlungsalternative gibt, muss sich das neue Arzneimittel X einer vergleichenden Bewertung seines Nutzens stellen. Bei dieser Nutzenbewertung wird mithilfe von Methoden der evidenzbasierten Medizin überprüft, ob X einen ausreichend zuverlässig nachgewiesenen zusätzlichen Nutzen gegenüber der (oder den) schon vorhandenen Therapie(n) hat. Maßstab des „Zusatznutzens“ sind dabei immer sogenannte patientenrelevante Vorteile.
Dabei berücksichtigt das Institut insbesondere die Verbesserung des Gesundheitszustandes, eine Verkürzung der Krankheitsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer, eine Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität.
Höchstbeträge werden wichtig, wenn X besser ist als A. Dann stellt sich für die Selbstverwaltung die Frage, wie hoch die zusätzlichen Ausgaben sein sollen, die der größere Nutzen „wert“ ist. Nur bei dieser Konstellation ist es sinnvoll, an die Nutzenbewertung eine Kosten-Nutzen-Bewertung anzuschließen.
Für diese gesundheitsökonomische Bewertung sind ganz andere Instrumente nötig als für die rein medizinische Nutzenbewertung. Zum Beispiel kann es für die wirtschaftliche Abschätzung notwendig sein, einen Zeitraum von zehn oder mehr Jahren zu betrachten, obwohl X nur in medizinischen Studien erprobt wurde, die wenige Monate gedauert haben. In solchen Situationen setzen Gesundheitsökonomen sogenannte Modellrechnungen ein.
Die Ergebnisse solcher Modellrechnungen hängen aber – wie alle Vorhersagen – stark von den Annahmen ab. Deshalb können die Resultate je nach Wahl dieser Annahmen sehr unterschiedlich ausfallen. Unsicherheiten sind hier also nicht zu vermeiden.
Der Vorschlag des IQWiG für eine Kosten-Nutzen-Bewertung beinhaltet deshalb, dass das Verfahren so transparent wie möglich sein soll.

Wahl der Alternativen: In die Analyse des Verhältnisses von Nutzen und Kosten müssen für die Versorgung der Patienten relevante Therapiealternativen einbezogen werden. Da solche Analysen in Deutschland bislang praktisch nicht existieren, bedeutet das, dass in der Kosten-Nutzen-Bewertung auch schon seit langem übliche Therapiealternativen zu einer Krankheit erstmalig analysiert werden müssen.

Vollständigkeit der Kosten: Um die Kosten abschätzen zu können, reicht es in der Regel nicht aus, nur den Preis eines Medikaments zu berücksichtigen. Vielmehr müssen auch Kosten betrachtet werden, die sich etwa durch Kontrolluntersuchungen, die Behandlung von Nebenwirkungen oder durch Krankenhausaufenthalte ergeben können.

Wahl der Perspektive: Die Kosten-Nutzen-Bewertung berechnet die Kosten für die Behandlung eines einzelnen Patienten. Zur Abschätzung dieser Kosten wird in der Regel die Perspektive der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen Krankenkassen gewählt. Dabei können neben den Ausgaben der Krankenkassen auch die Zuzahlungen der Versicherten in die Berechnungen einbezogen werden. Ebenso kann je nach Auftrag die Perspektive erweitert werden, um zum Beispiel Arbeitsausfallzeiten, Renten und die finanzielle Belastung von Angehörigen zu berücksichtigen.

Wahl des Zeithorizonts: Für die Kosten-Nutzen-Bewertung sollen Zeiträume angesetzt werden, die dem Verlauf der Krankheit entsprechen, um die es geht. Da Studien meist relativ kurze Laufzeiten haben, sind oft Modellrechnungen nötig.
Wahl der Modelle: Wegen ihrer leichten Beeinflussbarkeit müssen die eingesetzten Modellrechnungen transparent sein. Sie selbst und die verwendeten Ausgangswerte müssen auf nachvollziehbaren und verlässlichen Schätzungen beruhen und einer strengen Begutachtung unterworfen werden.

Zusammenfassung und Vergleich verschiedener Aspekte des Nutzens: Ein in der Gesundheitsökonomie generell bislang nur unbefriedigend gelöstes Problem besteht darin, verschiedene Kategorien von Nutzen miteinander zu vergleichen. Es kann zum Beispiel sein, dass Medikament X besser Schlaganfälle verhindert als A; A hingegen besser als X gegen Herzinfarkte vorbeugt. Um Herzinfarkte gegen Schlaganfälle abzuwägen, sind Werturteile nötig. Wie solche Urteile fair getroffen werden sollen und wer das tun soll, muss erst noch weiter erforscht und diskutiert werden.

Weitere Einzelheiten der Methode hängen unter anderem von der speziellen Therapie ab, die bewertet werden soll.

Das Ergebnis der
Kosten-Nutzen-Bewertung
Da es in Deutschland bislang keine gesetzlich vorgesehene Kosten-Nutzen-Bewertung gab, wird ein wesentlicher Teil der Arbeit darin bestehen, neben X auch relevante Therapiealternativen zu bewerten. Das können andere Medikamente, aber auch Operationsverfahren sein. Oft wird es nicht nur eine, sondern mehrere Alternativen geben.
Die Kosten-Nutzen-Bewertung soll am Ende für X und alle betrachteten Alternativen eine Gegenüberstellung ergeben.
Das könnte in einem einfachen Fall zum Beispiel die Zahl der Herzinfarkte sein, die sich durch die Therapie von 1.000 Patienten vermeiden lassen. Diese Verhältnisse lassen sich durch Eintrag in eine einfache Abbildung übersichtlich darstellen (Abb. 1).
Alleine aus der Lage der Punkte zueinander lassen sich bereits Schlussfolgerungen ziehen. Nehmen wir an, A ist die Standardtherapie, mit der das neue Medikament X verglichen wird. Nun sind vier Situationen möglich:
Wenn X links oberhalb von A liegt ist es besser außerdem kostengünstiger. Hier ist es vernünftig, X deutlich bevorzugt einzusetzen; möglicherweise könnte A komplett durch X ersetzt werden.
Die ungünstigste Situation entsteht, wenn X rechts unterhalb liegt, dann ist es schlechter und außerdem deutlich teurer. Hier gibt es keinen Grund, X zu akzeptieren, zumindest sollte A stark bevorzugt werden.
Eine Frage der Abwägung stellt sich, wenn X links unterhalb von An liegt. Dann ist es zwar schlechter, aber deutlich kostengünstiger. Hier hängt es nun von weiteren Details ab, ob es vertretbar ist, X einzusetzen.
Auf die vierte Situation zielt die Bewertung von Kosten und Nutzen: Hier liegt X rechts oberhalb von A: X ist zwar besser, aber teurer. Hier stellen sich zwei Fragen: 1. Sind die höheren Kosten dem zusätzlichen Nutzen angemessen? Und 2.: Wie lassen sich diese Kosten durch die Festsetzung eines Höchstbetrags beeinflussen? (Abb. 2)

Die Analyse der
Effizienzgrenze

Das nun folgende Verfahren dient dazu, solche Abbildungen auszuwerten, um für X einen angemessenen Höchstbetrag zu finden: die „Analyse der Effizienzgrenze“.
Dieses Verfahren sucht Schritt für Schritt nach den möglichst effizienten Therapien: „Effizient“ ist eine Therapie im Vergleich zu einer anderen dann, wenn sie bei gleichen Kosten mehr Nutzen erbringt oder bei gleichem Nutzen kostengünstiger ist. Grafisch schlägt sich das in der Steigung der Verbindung zwischen zwei Therapien nieder: Je „steiler“ die Verbindung zwischen zwei Therapien ist, desto größer ist der Effizienzunterschied zwischen diesen beiden.
Die Analyse beginnt bei der Situation „keine Therapie“, also im Ursprungspunkt der Achsen in Abb. 3. Von diesem Ursprungspunkt aus erweist sich Therapie C als diejenige, die durch die steilste Verbindung erreichbar ist. Der erste Schritt führt also zu C. Von Therapie C aus ist dann Therapie E die beste Wahl. Und von E führt die Wahl zu A.
Der Gesamtweg vom Ursprungspunkt zu A wird als Effizienzgrenze bezeichnet (Abb. 4): Alles oberhalb dieser Linie ist effizienter, alles unterhalb dieser Linie ist weniger effizient als die „besten“ verfügbaren Therapien auf der Grenze.
Aus der Effizienzgrenze lassen sich weitere nützliche Informationen ziehen. In diesem Beispiel ist die Grenze aus drei Abschnitten zusammengesetzt. Dabei ist der erste Abschnitt zur Therapie C der „steilste“ der Grenze (Abb. 4). Hier gibt es also den höchsten Nutzen pro „Euro“. Der letzte Effizienzsprung zu A ist der „flachste“ Abschnitt der Grenze (Abb. 4). Hier fällt der Nutzen pro „Euro“ zwar geringer aus, er wird aber immer noch akzeptiert.
Auf diese Weise zeigt die Effizienzgrenze also, in welchem Bereich das als effizient akzeptierte Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen für diese Krankheit liegt. Nach diesen Vorbereitungen lässt sich jetzt auch die Position von X besser interpretieren. Die Kosten von X wurden erst einmal auf Grundlage der Preisvorgaben des Herstellers abgeschätzt. Diese Kosten können die Krankenkassen durch Festlegung eines Höchstbetrags verändern.

Budget-Impact-
Analyse
Die Effizienzgrenze basiert auf den Kosten, die für die Behandlung eines einzelnen Patienten nötig sind. Um die finanziellen Konsequenzen der Einführung einer bestimmten Innovation abschätzen zu können, sind jedoch auch Informationen nötig, welche Gesamtkosten auf das System zukommen. Auch die beste Technologie muss für die deutschen Kostenträger bezahlbar bleiben. Um diesen Aspekt bewerten zu können, ist eine ökonomische Evaluation erforderlich, die den Einfluss auf die Ausgaben prüft.
Für Entscheidungsträger im Gesundheitswesen ist es wichtig, diese finanziellen Konsequenzen nachzuvollziehen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Unter bestimmten Umständen kann die Kosten-Nutzen-Bewertung ergeben, dass die Technologie effizient ist, d. h. auf oder über der Effizienzgrenze liegt, während die Ergebnisse der Budget-Impact-Analyse darauf hindeuten, dass die Bezahlbarkeit zum Problem werden könnte. In solchen Situationen gibt es keine wissenschaftliche Richtlinie zur Lösung dieses Dilemmas.

Keine Konkurrenz
der Krankheiten
Eine besondere Facette der vom IQWiG vorgeschlagenen Methoden ist, dass jede Krankheit für sich bewertet wird. Diese Beschränkung vermeidet eine Konkurrenz der Krankheiten untereinander, dass also zum Beispiel die Ausgaben für Brustkrebs gegen die für Herzinfarkt aufgerechnet werden müssen.
Ein Vergleich über Krankheitsgrenzen hinweg würde unweigerlich eine Entscheidung erzwingen, ob es eine Krankheit im Vergleich zu einer anderen „wert“ ist, dass für betroffene Patienten eine Innovation überhaupt eingesetzt wird, und wenn ja, zu welchen Kosten. Solche Entscheidungen würden auf sehr subjektiven Urteilen beruhen müssen. Bislang gibt es kein Instrument, das auf Fragen, ob zum Beispiel Krebs „schlimmer“ ist als Schlaganfall, eine faire Antwort geben kann. Die vom IQWiG vorgeschlagene Methodik vermeidet solche Wertentscheidungen. <<