Patientencoaching: innovativer Ansatz für mehr Effizienz im Gesundheitswesen
Die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bürger (Versicherte und Patienten) im Rahmen sowohl der Gesunderhaltung als auch der Krankheitsbewältigung nimmt in Deutschland immer noch nicht die Rolle ein, die dieser Ansatz verdient. Patienten wurden und werden immer noch überwiegend als Objekte in einem paternalistisch und arztzentriert ausgerichteten System betrachtet, sind an diese Rolle gewöhnt und wurden in der Vergangenheit in ihrer strategischen Schlüsselposition als aktive und selbstbestimmte Partner im Behandlungsprozess vernachlässigt. Dabei bleiben die Bemühungen des institutionellen medizinischen Versorgungssystems ohne einen aktiven, nach seinen Möglichkeiten selbstverantwortlich handelnden und aufgeklärten Bürger unzureichend.
>> Hierzu wird im Gutachten 2005 des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen festgestellt, dass ein beachtlicher Teil der Verbesserung des Gesundheitszustands und der Verlängerung der Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert „weniger auf medizinisch-kurative Innovationen als auf wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sowie Umwelt-, Ernährungs-, Hygiene- und Bildungsfortschritte“ zurückgeht. Der Beitrag der medizinisch-kurativen Versorgung zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation belaufe sich, „je nach Modellansatz und methodischem Vorgehen und auch in Abhängigkeit vom Geschlecht, auf ca. 10-40 %. Der verbleibende Anteil erklärt sich primär aus Verbesserungen in den Lebensbedingungen bzw. -stilen.“ (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2005)
Das Versorgungsmanagement chronisch Kranker und multimorbider Patienten stellt dabei eine der größten Herausforderungen dar. Die erfolgreiche Bewältigung der damit verbundenen Aufgaben ist ein Kriterium für die Beurteilung der aktuellen Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung. Chronisch Kranke und multimorbide Patienten erfordern ungefähr 4/5 aller aufgewendeten Leistungen des Systems. Um bessere Behandlungsergebnisse und mehr Lebensqualität (gesundheitliches und psychosoziales Wohlbefinden) für die Betroffenen sowie einen effizienteren Mitteleinsatz zu erreichen, ist die Mitwirkung der Patienten bei der Krankheitsbewältigung unverzichtbar.
Patientencoaching als eine strategische Option
im Behandlungsmanagement
Hohe Raten fehlender Therapietreue, die bei einigen Indikationen bis zu 50 % und mehr betragen, sind Indikatoren für erhebliche Defizite im Versorgungs- und Behandlungsmanagement mit negativen Auswirkungen auf die Behandlungsergebnisse (Outcomes). Auf die als Non-Compliance und Non-Adherence bezeichneten Indikatoren für diese Phänomene wird an späterer Stelle noch näher einzugehen sein. Die Herausforderung besteht darin, durch zielgerichtete Interventionen die Therapietreue der Patienten und damit die Behandlungsergebnisse zu verbessern. Hierbei kommt das Patientencoaching ins Spiel. Es ist eins der möglichen Instrumente für die Führung von Patienten im Behandlungsprozess. Patientencoaching lässt sich einordnen in die Systematik und das Portfolio von Health Management Services (HSM). Das sind unterschiedliche wissensbasierte Dienstleistungen, die einen Therapieprozess in unterschiedlichen Settings und in verschiedenen Phasen eines Krankheitsverlaufes unterstützen (siehe Tab. 1).
„Man unterscheidet punktuelle, periodische bis sequentielle und kontinuierliche HMS-Interventionen. Die Instrumente beginnen bei einfachen Reminder- oder E-Mail-Edukationsservices (Infozept), führen über mehr daten- und technologiegetriebene Call-Center oder Risk Assessments zu personalintensiven Angeboten wie Case oder Disease Management Programmen. Der Nutzen liegt in verbesserten medizinischen Outcomes. Die Finanzierung kann über Kostenträger, Leistungserbringer, Produktanbieter, Zusatzversicherungen oder Eigenbeteiligungen erfolgen.
Das Wesen von Patientencoaching wird im Vergleich zum Case Management deutlich. Die Unterschiede bestehen darin, dass der Patient beim Case-Management durch einen Versorgungsprozess geleitet wird, für ihn ein integratives Schnittstellenmanagement aller am Versorgungsprozess beteiligten Akteure gemanaged und dabei ein zielgerichteter, strukturierter, koordinierter und effizienter Mitteleinsatz sichergestellt wird, während es beim Patientencoaching stärker auf die individuellen Fähigkeiten, und die Eigeninitiative und das Selbstmanagement des Patienten ankommt.
Coaching bedeutet nicht, dem Patienten zu sagen, was er tun soll. Ebenso ist Coaching nicht wie „Sauer-Bier“ anzubieten; Coaching sollte von denen, die daran interessiert sind, möglichst gesucht werden. „Coaching ist die professionelle Begleitung von Menschen bei Veränderungsvorhaben zur Stärkung der Selbstmanagementkompetenzen und kein Reparaturbetrieb, keine Wunderwaffe, kein Ersatz für Psychotherapie und auch nicht Therapie-Light sowie kein Modetrend und daher auch nicht sexy oder schick.“
DGbG-Definition von Patientencoaching
Die Arbeitsgruppe Patientencoaching der Deutschen Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung (DGbG) e.V. definiert Patientencoaching wie folgt:
„Coaching soll Patienten nachhaltig in die Lage versetzen, ihre individuellen Gesundheitsziele zu erkennen und zu erreichen, indem sie lernen, eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Selbstmanagement der Erkrankung zu entwickeln sowie Angebote und Strukturen zielgerichtet auszuwählen und zu nutzen und damit ihre Lebensqualität zu steigern.“
Die Arbeitsgruppe sieht die Notwendigkeit, Patientencoaching zu fördern und Patientencoaches im System zu implementieren, um Behandlungsergebnisse, Effektivität und Effizienz von Behandlungsmaßnahmen zu optimieren. Damit werden sowohl der individuelle Nutzen für den einzelnen Patienten als auch eine sinnvolle Nutzung der Ressourcen der Solidargemeinschaft der Versicherten angestrebt. Außerdem müssen Fehlentwicklungen auf der Anbieterseite rechtzeitig erkannt und verhindert werden. Dazu ist die Entwicklung von Standards erforderlich. Der Coach kann und soll dabei kein Ersatz für den Arzt sein.
In Deutschland wurden bereits vereinzelt Coachingangebote in die Versorgung - teilweise als Pilotprojekte von Krankenkassen - eingeführt. Hierbei wird nicht immer die Bezeichnung „Patientencoaching“ verwendet, auch wenn die Leistung der in diesem Artikel verwendeten Definition entspricht. Andererseits erfüllt nicht jedes Angebot unter Bezeichnungen wie Patientencoaching, Adherence-Coaching oder Compliance-Coaching die Kriterien der DGbG-Definition.
Compliance und Adherence: Parameter für die Patienten-
mitarbeit im medizinischen Behandlungsprozess
Es stellt keinesfalls eine Kritik an den flächendeckenden und hochqualifizierten medizinischen Versorgungsangeboten in der Bundesrepublik dar, wenn festgestellt wird, dass insbesondere bei chronisch Kranken die therapeutischen Ergebnisse in einem hohen Maße unbefriedigend sind. Eine der Ursachen ist, wie schon erwähnt, die unzureichende Einbindung und Mitwirkung der Patienten im Behandlungsprozess oder mit anderen Worten die Non-Compliance bzw. Non-Adherence.
Compliance und Adherence sind nicht dasselbe
Die Frage, was Compliance bzw. Non-Compliance bedeutet, scheint auf den ersten Blick müßig angesichts der allgegenwärtigen Anwendung dieser Begriffe. Die damit beschriebene Tatsache ist nicht neu. Schon 400 Jahre vor Christus soll Hippokrates mangelnde Therapietreue als ein allgemein verbreitetes Verhalten konstatiert haben. Im „Monitor Versorgungsforschung“ haben sich mehrere Autoren in verschiedenen Beiträgen mit diesem Phänomen befasst. (Gänshirt, Harms 2008: 44, 34; Bauer, Preuß 2009: 25)
Die European Health Care Foundation definiert Compliance als “…. Mitarbeit bzw. Kooperation des Patienten bei einer medizinischen Behandlung durch die Einhaltung definierter Verhaltensregeln“. Damit „zeigt die Compliance den Grad der Übereinstimmung des Verhaltens der Patienten im Hinblick auf einen sinnvoll formulierten medizinischen Rat“ (Harms/Gänshirt/Lonsert 2005; Harms/Gänshirt 2006). Man kann es auch überspitzt ausdrücken: Die Bedeutung von Compliance kommt sehr in die Nähe von Folgsamkeit oder Gehorsam. Das heißt, dem Begriff liegt gedanklich ein paternalistisches oder autoritäres Arzt-Patienten-Verhältnis zugrunde. Das tradierte Rollenverständnis wird nicht infrage gestellt. Der Arzt als der medizinische Experte gibt das therapeutische Procedere vor, dem der Patient zu folgen hat. In vielen Fällen kann in diesem Ansatz kann bereits die „Wurzel des Übels“ liegen, wie noch auszuführen ist. Ist der Patient nicht complient (befolgt er also, aus welchen Gründen auch immer, die ärztlichen Anweisungen nicht), so kann dies, muss aber nicht zwangsläufig, die Ursache eines therapeutischen Misserfolges sein. Die Nichtbefolgung einer Verordnung - gleich ob absichtlich oder irrtümlich - kann durchaus, wie Huges, Brown u.a. Huges et al. 2001: 601-15; Brown et al. 1999: 230-44) erwähnen - auch einmal einen positiven Effekt haben. Die These, dass „nicht jeder Patient, der compliant ist, gesund wird und nicht jeder, der gesund ist, compliant war“, hat einiges für sich.
Insofern ist es sicher falsch, Non-Compliance etwa mit „Schuld“ des „nicht folgsamen“ Patienten gleichzusetzen. Es ist demnach zu hinterfragen: Lag zum Beispiel ein Kommunikationsproblem zwischen Arzt und Patient vor? Hat der Patient verstanden, was der Arzt gesagt und gemeint hat? War der Patient einverstanden und bereit, die Verordnung anzuwenden? Auch für den Fall von mangelnder Therapietreue gilt die Erkenntnis
„Gedacht ist noch nicht gesagt, gesagt ist noch nicht gehört, gehört ist noch nicht verstanden, verstanden ist noch nicht einverstanden, einverstanden ist noch nicht angewendet, angewendet ist noch nicht beibehalten“, die dem Verhaltensforscher und Nobelpreisträger von 1973 Konrad Lorenz (1903-1989), zugeschrieben wird. Einem Arzt kann das Zitat die Augen dafür öffnen, warum manche Patienten nicht so „funktionieren“, wie er sich das vorgestellt hat, obwohl er doch, seiner Meinung nach, alle Einzelheiten mit ihnen ausführlich besprochen hat.
Reinert stellte auf dem 4. Kongress für Gesundheitsnetzwerker 2008 fünf Arten von Non-Compliance vor:
• Absolute Non-Compliance: Generelle Ablehnung von Arztbesuchen bzw. Arzneimittel-Verschreibungen
• Primäre Non-Compliance: Verdeckte Verweigerung (Nicht-Einlösen von Rezepten über verschriebene Arzneimittel in der Apotheke)
• Intelligente Non-Compliance: Rational begründete Entscheidung zur Nichteinhaltung von Verordnungen
• Sekundäre Non-Compliance: Unsachgemäße Arzneimittel-Anwendung: Verwechslung verordneter Arzneimittel, Unter- oder Überdosierung, Unregelmäßigkeit, falsche Einnahmefrequenz oder -dauer, alternative Verwendung unzweckmäßiger Ersatzmittel
• Hyper-Compliance: Arzneimittel-Einnahme ohne Indikation
Nicht alle Definitionen von Compliance in der Literatur sind deckungsgleich. Gelegentlich werden auch Compliance und Adherence synonym gebraucht, wie beispielsweise in einem Abstract in Value Health 2008, obwohl nach unserer Ansicht eine klare Unterscheidung zwischen beiden Begriffen gemacht werden sollte:
„Medication compliance and medication persistence are two different constructs. Medication compliance (synonym: adherence) refers to the degree or extent of conformity to the recommendations about day-to-day treatment by the provider with respect to the timing, dosage, and frequency. It may be defined as „the extent to which a patient acts in accordance with the prescribed interval, and dose of a dosing regimen. Medication persistence refers to the act of continuing the treatment for the prescribed duration. It may be defined as ‘the duration of time from initiation to discontinuation of therapy.No overarching term combines these two distinct constructs. CONCLUSIONS: Providing specific definitions for compliance and persistence is important for sound quantitative expressions of patients‘ drug dosing histories and their explanatory power for clinical and economic events. Adoption of these definitions by health outcomes researchers will provide a consistent framework and lexicon for research.”
(Cramer J.A. et al. 2008: 44-7)
Adherence
Der Begriff Adherence spielt zunehmend eine Rolle. Wie schon erwähnt, wird er in der Praxis häufig fälschlicherweise als Synonym für Compliance gebraucht. Eine solche fehlende Trennschärfe kann in der Konsequenz zu ungeeigneten Maßnahmen führen. Nach Menning sollte in Abgrenzung zur Compliance immer dann von Adherence oder adherentem Verhalten gesprochen werden, „wenn der Patient ein komplexes Behandlungsregime aktiv, eigenmotiviert und eigenverantwortlich über einen längeren Zeitraum (Monate, Jahre, lebenslang) durchführt.“ (Menning 2009: 48)
Es lässt sich hieran erkennen, dass die Förderung der Adherence spezielle und individuell angepasste Strategien und Maßnahmen erfordert, damit die Patienten die Fähigkeit erlangen, ihr Lernen über die Krankheit selbst zu organisieren, durchzuführen und zu bewerten.
Der Begriff Compliance impliziert im Gegensatz dazu nur in geringem Maß das notwendige Einverständnis der Patienten gegenüber den medizinischen Empfehlungen. Adherence erfasst die Größe der Übereinstimmung des tatsächlichen und des mit dem Leistungserbringer vereinbarten Patientenverhaltens. Auf den Patienten bezogen bedeutet Adherence die Bereitschaft, den abgesprochenen medizinischen Anweisungen zu folgen. Auf den Leistungserbringer bezogen bedeutet Adherence die Bereitschaft, medizinische Anweisungen und Strategien auf die Möglichkeiten und Wünsche des Patienten abzustimmen. Der Patient wird durch eine gemeinsam verantwortete Übereinkunft über die angemessene medizinische Behandlung vermehrt einbezogen. Dies wird als „partizipative Entscheidungsfindung“ bezeichnet.
Adherence kann zudem beeinflusst werden durch:
• auf die Indikationen gerichtete Interventionen: z.B. Identifikation und Behandlung von Compliance bzw. Adherence beeinflussenden Komorbiditäten (Depression, Gastritis)
• auf die Therapie gerichtete Interventionen: z.B. Auswahl der adäquaten Darreichungsform, Medikamentenverpackung, Reduktion der täglichen Einnahmezeitpunkte, Entwicklung von Medikamenten mit verbessertem Nebenwirkungsprofil.
• auf den Patienten gerichtete Interventionen: Maßnahmen zur Verbesserung des Patientenwissens, der Motivation und der Fähigkeiten, seine Krankheit positiv zu beeinflussen (Patientenschulung, Bildung, Beratung etc.) sowie Erinnerungen (Alarme, Kalender, Briefe, Prospekte, Anrufe, E-Mails etc.).
• auf sozioökonomische Aspekte gerichtete Interventionen: z. B. soziale Unterstützung (Verwandte, Selbsthilfegruppe), Senkung des Preises bzw. der Zuzahlung für Medikamente, Ausweitung der Gesundheitsbildung, Vereinfachung des Zugangs zu medizinischen Leistungen.
• auf das Gesundheitssystem gerichtete Interventionen: z. B. Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung, ärztliche Fortbildungen hinsichtlich Adherence steigernden Maßnahmen, Schaffung finanzieller Anreize sowie Abbau von Arbeitsüberlastung für die Leistungserbringer zur Durchführung von Compliance bzw. Adherence steigernden Maßnahmen.
Mühlhauser und Müller vertreten die Meinung, dass Compliance und Adherence zwar zur Erklärung von Effekten nützlich sein können, jedoch keine für Patienten relevanten Endpunkte sind. Dieser Meinung können wir uns anschließen. Die Autoren fordern, dass Patienten stärker in die Auswahl und Definition von Ergebnisparametern einbezogen werden sollten. Sie gehen dabei von dem Gedanken aus, dass zur Erfassung des abstrakten Begriffes Gesundheit und der Gestaltung der Rahmenbedingungen Indikatoren und klar definierte Ergebnisparameter notwendig sind und stellen das Ziel einer „informierten Patientenentscheidung“ in den Vordergrund (Mühlhauser, Müller (2009): 34)
Die Folgen von Non-Compliance und Non-Adherence
Gänshirt und Harms haben in „Monitor Versorgungsforschung“ 2/2008 ausgeführt, dass bei chronisch Kranken die Compliance-Rate im Durchschnitt nicht einmal 30 % beträgt. (Gänshirt, Harms 2008: 44). Diese Patienten gehören aber zu den 20 % der Versicherten, die 80% der Leistungen benötigen. Nach einer Untersuchung von Volmer und Kielhorn aus dem Jahre 1998 betrug die Non-Compliance-Rate bei Asthma 20 %, bei Diabetes mellitus 40 bis 50 %, bei Epilepsie 30 bis 50 % bei Hypertonie 50 % bei Osteoporose 55 bis 70 % und bei Rheuma mehr als 50 %. (Volmer, Kielhorn (1998, 1999): 55) Weitere Zahlen sind der Tabelle 4 zu entnehmen.
Menning kommt 2009 zu dem Schluss, „dass etwa die Hälfte – je nach Indikation auch mehr – der Patienten an der Arzneimitteltherapie nicht richtig mitwirken. Sie verändern den Therapieplan unbewusst oder machen unbeabsichtigte Fehler, ohne dass der Arzt etwas davon erfährt.“ (Menning 2009: 48)
Über die Folgekosten von Non-Compliance in Deutschland liegen aktuelle Schätzungen im Bereich zwischen 10 und 20 Milliarden Eur opro Jahr. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) ging 2007 davon aus, dass Non-Compliance 10 Milliarden Euro im Jahr kostet. Die ABDA stellt fest, dass etwa ein Viertel aller verordneten Medikamente nicht oder nicht so wie vorgesehen eingenommen wird. Die Non-Compliance (mangelnde Therapietreue) gehört damit zu den größten Problemen bei der Arzneimitteltherapie. Je nach Krankheitsbild kann sich durch Non-Compliance der Gesundheitszustand verschlechtern; Folgekrankheiten können entstehen oder es werden Einweisungen in ein Krankenhaus notwendig. Ob ein Patient vom Arzt verordnete und oft lebenswichtige Arzneimittel zuverlässig und langfristig einnimmt, hängt nach Erkenntnissen der Apotheker unter anderem vom Krankheitsbild ab und davon, wie oft am Tag das Arzneimittel eingenommen werden soll. Besonders bei Krankheiten wie Bluthochdruck, die langfristig behandelt werden müssen und in den ersten Jahren kaum Leidensdruck erzeugen, ist die Non-Compliance-Rate groß. (ABDA 2007: Pressemitteilung).
Menning vermutet, dass dem Gesundheitswesen Ausgaben in Höhe von 15 bis 20 Milliarden Euro, also etwa 10 Prozent der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung durch non-compliantes bzw. non-adherentes Verhalten verloren gehen. „Diese Ausgaben sind völlig unnötig und stellen für das Gesundheitswesen eine wichtige Wirtschaftlichkeitsreserve dar.“ (Menning 2008: 48)
Nach Gänshirt und Harms summieren sich die Folgekosten von Non-Compliance in Europa auf 200 bis 300 Milliarden Euro/Jahr. Jedes Prozent einer Verbesserung der Compliance würde den europäischen Gesundheitssystemen 1 bis 3 Milliarden Euro Ersparnis bringen. (Gänshirt, Harms 2008: 44)
Volmer, Kielhorn und Hochgrefe unterscheiden zwischen direkten, indirekten und intangiblen Kosten der Non-Compliance. Direkte Kosten werden durch Krankenhauseinweisungen, zusätzliche Arzt- und Apothekenbesuche, Notfallaufnahmen, Therapiewechsel und weggeworfene Medikamente verursacht. Zu den indirekten Kosten der Non-Compliance, gehören insbesondere durch nicht eingenommene Arzneimittel bedingte vermeidbare Krankenhaus-Einweisungen, vermeidbare Pflegeleistungen, zusätzliche Arztbesuche und Notfalleinweisungen. Indirekte Kosten entstehen durch Verlust an Produktivität, Verlust an Arbeitseinkommen und vorzeitige Todesfälle. Als intangible Folgen werden Verlust an Lebensqualität, Verlust an Patientenzufriedenheit und Verlust an Vertrauen in die medizinische Behandlung bezeichnet. (Volmer, Kielhorn 1998, 1999: 55)
Andererseits sei auch in diesem Kontext auf die bereits erwähnten Festellungen von Hughes et al. und Brown et al. hingewiesen, dass auch Non-Compliance direkte Kosten ‚einsparen‘ helfen kann. (Huges et al. 2001: 601-15; Brown et al. 1999: 230-44). Gemeint sind wohl Fälle von nicht indizierten oder falschen, jedoch vom Arzt veranlassten Behandlungsmaßnahmen.
Da die Untersuchungen zur Non-Compliance in Deutschland inzwischen älteren Datums und über aktuelle Auswirkungen lediglich Schätzungen bekannt sind, sind zeitnahe und aktuelle wissenschaftliche Forschungen zu diesen Phänomenen außerordentlich wünschenswert, zumal es sich um Fragen von erheblicher gesundheitspolitischer und volkswirtschaftlicher Relevanz handelt.
Unterschiedliche Ursachen erfordern
unterschiedliche Maßnahmen
Mangelnde Therapietreue kann unterschiedliche Ursachen haben. Compliance- und Non-Compliance-Raten bzw. Adherence- und Non-Adherence-Raten sollten deshalb nicht nur als deskriptive prozessuale Marker gesehen werden, sondern hinsichtlich ihrer Ursachen hinterfragt werden, damit sich daraus Ansätze für Verbesserungen ableiten lassen. Dabei sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen bzw. zu erforschen: systembedingte (siehe Rabattvertragsfolgen), kommunikationsbedingte (siehe Konrad Lorenz) oder individuelle Gründe (z.B. Warum verhält sich ein Patient gerade so und nicht anders? Verfügt er über genügend Informationen über seine Krankheit und die Therapiemöglichkeiten? Warum kann er seinen Heißhunger nicht in den Griff bekommen? Sind angeborene biochemische Prozesse im Gehirn im Spiel? Welche Rolle spielen erlernte Verhaltensweisen? Sind der Grund mangelnde Intelligenz oder psychische Erkrankungen? usw.).
Spricht man mit Patienten und Patientenvertretern, so erfährt man eine große Skepsis gegenüber einer undifferenzierten Betrachtungsweise von Compliance. Es besteht zum Beispiel die (berechtigte?) Befürchtung, dass manche Compliance-Programme vorrangig der Kosteneinsparung und nicht dem Patientenwohl dienen. Kritische Patienten wollen sich nicht (mehr) nur als Empfänger und Ausführende von Anweisungen sehen. Sie wollen informiert, motiviert und in ihrer Individualität und Selbstbestimmtheit respektiert werden: „Nothing about me without me.“ Ein paternalistisches und autoritäres Arzt- bzw. Therapeuten-Patienten-Verhältnis wird von einem größer werdenden Anteil der Patienten abgelehnt. Die Individualisierung der Lebensweisen hat zu einem mehr partizipativem Verständnis von Gesundheit geführt. Insofern wandelt sich das Gesundheitswesen, wenn auch langsam, von einem hierarchischen in ein demokratischeres System. Selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, bei akuten, vielleicht sogar lebensgefährlichen Situationen einem (möglicherweise bewusstlosen) Betroffenen gar kein eigener Handlungsspielraum bleibt. Anders verhält es sich bei chronischen Erkrankungen, bei denen das Selbstmanagement den Therapieerfolg wesentlich mitbeeinflusst. <<