Patientencoaching: Innovativer Ansatz für mehr Effizienz im Gesundheitswesen
Im ersten Teil dieser Artikelfolge wurden die direkten, indirekten und intangiblen Folgen von Non-Compliance und Non-Adherence dargestellt und daraus abgeleitet, dass die Rolle der Patienten im Behandlungsprozess durch gezielte Maßnahmen gestärkt werden muss, wenn man individuelle und kollektive Gesundheitsziele effizienter erreichen will. Diesem Zweck dient das Patientencoaching als eine der Methoden im Portfolio unterschiedlicher sogenannter Health Management Services (HMS). Patientencoaching wird dabei von der Deutschen Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung (DGbG) wie folgt definiert: „Coaching soll Patienten nachhaltig in die Lage versetzen, ihre individuellen Gesundheitsziele zu erkennen und zu erreichen, indem sie lernen, eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Selbstmanagement der Erkrankung zu entwickeln sowie Angebote und Strukturen zielgerichtet auszuwählen und zu nutzen, um damit ihre Lebensqualität zu steigern.“ In diesem zweiten Teil wird nun an Beispielen dargestellt, welche Effizienzreserven durch Patientencoaching zu erwarten sind und dass bereits jetzt schon Krankenkassen Patientencoaching als Pilotprojekte in ihr Versorgungsmanagement integriert haben. Für mehr Transparenz von Coaching-Angeboten wird eine Klassifizierungsmatrix vorgestellt. Schlussendlich werden zahlreiche offene Fragen angesprochen, zu deren Beantwortung eine entsprechende Versorgungsforschung beitragen könnte.
>> Rabattverträge zwischen Krankenkassen und pharmazeutischer Industrie, die im Jahre 2009 einen neuen Boom erlebten, erhöhen das Risiko der Verunsicherung vieler Patienten mit der Folge, dass sie vermehrt mit Non-Compliance und Non-Adherence reagieren und infolge erzwungener Produktwechsel gehäufte Therapieabbrüche mit allen daraus sich ableitenden Konsequenzen vorkommen.
Professor Dr. Harald Schweim, Leiter des Instituts für Drug Regulatory Affairs an der Universität Bonn, hat es auf den Punkt gebracht: „Compliance-Fragen durch Produktwechsel (z. B. „Die Tabletten waren doch immer blau, wieso sind sie jetzt gelb? Ist das Produkt richtig?“) und Vertrauensverluste in die Heilberufler (z. B. „Mein Apotheker gibt mir billiges Zeug und rechnet teuer ab“) sind am schwerwiegendsten.“
Schweim sieht die Grenzen der Austauschbarkeit von Arzneimitteln „immer da, wo entweder auf der Basis der Erkrankung (beispielsweise bei Schmerzpatienten) oder der individuellen Persönlichkeit des Patienten durch einen Austausch negative Folgen für die Therapie, gemessen an patientenrelevanten Parametern, entstehen. Das sei viel häufiger der Fall, als Politiker sich vorstellen, die meist keinen heilberuflichen „Background“ haben.
„… Bei einem Volumen in 2008 von rund 30 Mrd. Euro sparen die Kassen rund 300 Mio. Euro, also etwa 1 %, ein. Und welcher volkswirtschaftlich nicht kalkulierte Aufwand steht dahinter, allein wenn man die nicht einbezogenen Kosten in den Handelsstufen, z.B. auch die Mehrarbeit in den Apotheken, betrachtet? Es würde mich nicht wundern, wenn es gesamtvolkswirtschaftlich betrachtet ein Null- oder Negativsummenspiel ist.“
(Schweim 2009)
Auch die Deutsche Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung (DGbG) e.V. hat Anfang 2009 darauf hingewiesen, dass die Therapietreue der Patienten durch Rabattverträge gefährdet wird und Rabattverträge mehr Schaden als Nutzen stiften. Allein die organisatorischen Mehrkosten bei der Umsetzung der Rabattverträge in den Apotheken betragen über 650 Millionen Euro pro Jahr, so eine Studie der Apotheker. Dazu kommen der zusätzliche Aufwand in den Arztpraxen (geschätzt auf bis zu 200 Millionen Euro) sowie die Kosten der Ausschreibungsverfahren bei den Herstellern und Krankenkassen. Demnach müssen die Umsetzungskosten - sogenannte Transaktionskosten - der Rabattverträge selbst bei größtem Wohlwollen auf nahezu eine Milliarde Euro geschätzt werden.
An dieser Stelle sei noch einmal auf die im Teil 1 dieser Artikelfolge erwähnten indirekten Kosten mangelnder Therapietreue hingewiesen, zu denen nach Volmer, Kielhorn und Hochgrefe durch nicht eingenommene Arzneimittel bedingte vermeidbare Krankenhaus-Einweisungen, vermeidbare Pflegeleistungen, zusätzliche Arztbesuche und Notfalleinweisungen, Verlust an Produktivität, Verlust an Arbeitseinkommen und vorzeitige Todesfälle gehören. (Volmer, Kielhorn 1998, 1999: 55) In die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung sind demnach auch diese finanziellen Folgen einzubeziehen. Zum Beispiel führten Arbeitsunfähigkeitszeiten im Jahre 2007 zu Produktionsausfallkosten von 40 Milliarden Euro bzw. dem Ausfall an Bruttowertschöpfung von 73 Milliarden Euro und Aufwendungen der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung von 12,52 Milliarden Euro. Selbst wenn nur ein Bruchteil dieser Kosten durch Non-Compliance- und Non-Adherence-Folgen bedingt war, so kann diese Betrachtung doch einen Hinweis dafür geben, dass auch die indirekten Kosten mangelnder Therapietreue nicht aus dem Blick verloren werden sollten.
Diesen Folgekosten stehen mögliche Einsparungen gegenüber, die vom AOK-Bundesverband etwas nebulös als ein voraussichtlich höherer dreistelliger Millionenbetrag über den 2-jährigen Vertragszeitraum geschätzt werden, aber „noch nicht exakt zu beziffern“ sind. Insiderkreise vermuten, dass die Einsparungen maximal ca. 500 Millionen Euro betragen dürften. Auf alle gesetzlichen Krankenkassen hochgerechnet würde somit das gesamte Einsparpotenzial bei großzüger Schätzung kaum mehr als eine Milliarde Euro betragen, also etwa gleich oder geringer als die Kosten der Umsetzung sein. Selbst wenn bei den Krankenkassen weniger Arzneimittelkosten auflaufen, bedeutet das dennoch in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eher ein Nullsummenspiel, vielleicht sogar ein Negativ-Summenspiel, wie der Experte Professor Schweim vermutet hat (Schweim 2009). Leider ist das Rabattgeschehen mit all seinen Facetten in dieser Hinsicht intransparent. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Versorgungsforschung, hier etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Auch die DGbG kommt wie Schweim zu dem Schluss, dass die Einschränkungen der Arzneimittelauswahl und rabattbedingte Medikamentenumstellungen zur Verunsicherung vieler Patienten mit der Folge einer Verschlechterung der ohnehin unzureichenden Therapietreue führen kann. Bei 31 % der Patienten ist dies häufig, bei weiteren 38 % immerhin gelegentlich der Fall, wie eine Studie der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein zu Auswirkungen der Rabattverträge belegt.
Wenn es demgegenüber durch gezielte Förderung der Therapietreue der Patienten gelingen würde, den Non-Compliance bzw. Non-Adherence-Schaden zu halbieren, ließen sich dadurch wahrscheinlich 5 bis 7 Milliarden Euro an unnötigen Ausgaben sparen. Insofern bietet sich eine volkswirtschaftliche Kosten/Nutzen-Betrachtung der Folgen von Arzneimittel-Rabattverträgen im Vergleich zu den Möglichkeiten des Patientencoaching, also der Compliance- bzw. Adherence-Verbesserung, an. Die Gegenüberstellung der geschätzten Einsparpotenziale von Rabattverträgen und Patientencoaching fällt deutlich zu Gunsten des Coaching und damit einer patientenorientierten und effizienten Arzneimittelversorgung aus. (Abb. 1).
Statt einer Gängelung der Patienten durch ein kompliziertes und bürokratisches System fordert die DGbG insofern eine stärkere Einbeziehung des Patienten in die Therapie, um die Ergebnisse und die Effizienz im Sinne eines modernen Versorgungsmanagements zu verbessern. Deshalb sind der Sinn der Rabattverträge und deren großer Aufwand angesichts der gravierenden Nachteile erheblich in Frage zu stellen.
Drei Beispiele für Patientencoaching-Projekte
Unter der Bezeichnung Patientencoaching oder ähnlichen Synonyme sind in Deutschland bereits verschiedene Angebote auf dem Markt. Patientencoaching kann entweder freiberuflich durch selbstständige Anbieter oder durch z.B. von einer Krankenkasse oder einen Service-Dienstleister angestellte Coaches angeboten werden. Wichtig sind fachliche Kompetenz, Unabhängigkeit und die Verpflichtung gegenüber dem Wohl des Patienten. Leider gibt es in Deutschland noch keine allgemein anerkannten Qualitätsstandards für das Patientencoaching. Allerdings gibt es inzwischen einige Ausbildungsgänge, die von der IHK zertifiziert sind. Die DGbG strebt an, im Konsens mit Experten und Nutzern einen Mindeststandard zu definieren, an dem jedes Angebot „gemessen“ und eingestuft werden kann.
Die folgenden anonymisierten Projekte werden von deutschen gesetzlichen Krankenkassen angeboten. Die Zahl der teilnehmenden Patienten ist von Krankenkasse zu Krankenkasse unterschiedlich und liegt je nach Krankenkasse im Bereich zwischen 500 und 3.500 Teilnehmern. Eine Herausforderung besteht darin, die geeigneten Versicherten für ein Coaching-Angebot zu gewinnen. Zur Identifikation gibt es Prädiktionsmodelle, allerdings sind die Erfahrungen im Umgang damit eher noch gering. Hinderlich ist, dass Patientencoaching kostenintensiv ist und qualitative sowie wirtschaftliche Ergebnisse in der Regel nicht innerhalb der engen Planungszeiträume der Krankenkassen nachweisbar sind. Auch sind datenschutzrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen, die relativ große Herausforderungen darstellen.
Klassifizierung von Patientencoaching-Programmen
Ein erfolgreiches Patientencoaching erfordert eine gute Ausbildung, soziale, Fach- und Methodenkompetenz des Coachs, Veränderungsmöglichkeit und -bereitschaft des Klienten, Klarheit der Auftragsklärung, geeignete Settings bzw. Rahmenbedingungen, Transparenz, Freiwilligkeit und Vertraulichkeit.
Zu Beginn des Coaching-Prozesses müssen die individuell angestrebten Verhaltensänderungen mit dem Teilnehmer in Teilzielen formuliert und regelmäßig überprüft und die Kriterien der Zielerreichung definiert werden. Auch müssen die unterschiedlichen medizinischen Bedarfe und Bedürfnisse von Patienten berücksichtigt finden, je nachdem ob sie vorübergehend akut erkrankt, chronisch krank ohne Leidensdruck (z.B. Diabetes ohne Beschwerden), chronisch krank mit Leidensdruck (z.B. rheumatische Erkrankung), lebensbedrohlich krank (Krebs), psychisch krank oder dement sind. Auf weitere Details der Ausbildung der Coachs und den Prozess des Coachings kann wegen der Komplexität dieser Fragen an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden. Für eine derartige umfassende Darstellung wird derzeit in der Schriftenreihe der DGbG ein Lehr- und Handbuch für das Patientencoaching erarbeitet.
Außerdem ist kritisch zu hinterfragen, ob da, wo Patientencoaching „draufsteht“, auch wirklich Coaching im eigentlichen Sinne „drin ist“. Die Frage ist also, ob die Kriterien für Coaching entsprechend einer anerkannten Definition erfüllt sind. Um Transparenz herzustellen, kann ein Klassifizierungsraster eine erste Hilfe sein. Die Arbeitsgruppe Patientencoaching der DGbG hat deswegen Kriterien zusammengestellt, an Hand derer ein erster Überblick erreicht werden kann (siehe Klassifizierungsmatrix - Abb 3.).
Offene Fragen
Eine ganze Reihe von Fragen bedarf noch der Antwort. Einige davon sind hier beispielhaft aufgezählt:
• Wie werden die Zielgruppen für das Patientencoaching
identifiziert? - Auf welcher Datenbasis?
• Wie werden die Patienten sinnvollerweise angesprochen?
• Wie lässt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Arzt
und Coach erreichen?
• Wie wird der Datenschutz gewährleistet?
• Wie verankert man die Coachs organisational/institutionell?
• Wer zahlt die Leistungen des Coachs?
• Wie wird verhindert, dass der Zahlende den Coach beeinflusst?
• Wer kann Coach sein? (Persönliche Ausbildungsvorausset-
zungen, Qualifikation, Ausbildungscurriculum, Qualitäts-
sicherung, Zertifizierung)
• Wer kontrolliert den Coach?
• Welche Messgrößen kommen als Kriterien für die Ergebnis-
kontrolle in Frage?
• Grenzen des Coaching
• Verhaltenskodex, ethische Grundlagen
Fragen an die Versorgungsforschung
Empirie, gesunder Menschenverstand und Logik sprechen dafür, dass Patientencoaching ein erhebliches Potenzial zur Hebung von Nutzen- und Wirtschaftlichkeitsreserven hat. Diese Effekte müssen allerdings noch durch eine entsprechende Begleitforschung nachgewiesen werden. Dabei geht es einmal um die Beschreibung der jeweiligen Ausgangslage und zum anderen um die Frage, wie und an welchen Kriterien die Erreichung individueller sowie kollektiver Gesundheitsziele durch Patientencoaching in Modellprojekten nachgewiesen werden kann. Die Voraussetzung für eine allgemeine Implementierung des Patientencoaching in das Gesundheitssystem sowie die Entwicklung des Berufsbildes eines Patientencoachs wird wesentlich davon abhängen, ob sich die erwarteten qualitativen und wirtschaftlichen Effekte objektivieren lassen. Compliance und Adherence spielen dabei als Prozessparameter eine große Rolle. Entscheidender sind jedoch die Qualitäts-Outcomes und der an definierte Kriterien festzumachende Nutzen für die Patienten sowie die finanziellen Effekte. Da wir davon ausgehen, dass das Verhalten und die Verhältnisse der Bürger bis zu ca. 90 % die gesundheitlichen Outcomes beeinflussen können und die Kosten von Non-Compliance und Non-Adherence derzeit zwischen 10 bis 20 Milliarden Euro liegen, ist anzunehmen, dass sich der Aufwand für eine entsprechende Versorgungsforschung lohnen wird.
Zwischen dem Patientencoaching von chronisch Kranken und Multimorbiden und einem Gesundheitscoaching, das der Gesunderhaltung und der Gesundheitskompetenz der Bürger dient, liegt außerdem ein breites Spektrum an Möglichkeiten für den Einsatz von Coaching-Leistungen im Gesundheitswesen. <<