Qualitätswettbewerb der Krankenkassen
Die Förderung von Selektivverträgen durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz erfolgte mit dem Ziel, den nunmehr beitragssatzgleichen gesetzlichen Krankenkassen ein Wettbewerbsinstrument an die Hand zu geben und hierüber zugleich die Qualität und Effizienz der Versorgung durch wettbewerbliche Anreize zu steigern. Besonders augenfällig und zugleich umstritten ist die Ausprägung der Selektivverträge in Form des Rabattvertragssystem im Arzneimittelmarkt. Dieses eignet sich auch aufgrund der verfügbaren Datenlage besonders, um exemplarisch die Problematik der Selektivverträge zu diskutieren. Der hier eingeschlagene Weg ist nach bisheriger Beobachtung weder auf der Herstellerebene noch auf der Ebene der Krankenkassen untereinander geeignet, dem Wettbewerbsprinzip nachhaltig Geltung zu verschaffen. Bezogen auf die Herstellerebene ist diese Aussage durch Marktanalysen und damit in Einklang stehende wettbewerbstheoretische Ansätze fundiert.
>> Mit Blick auf den Kassenwettbewerb liefert eine aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, die im Auftrag des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) durchgeführt wurde, u.a. neue Erkenntnisse um diese These zu untermauern. Basis dafür sind demoskopische Daten zu den Motiven und Einstellungen der Bevölkerung bezogen auf das Kassenwahlverhalten mit besonderer Berücksichtigung des Leistungsspektrums in der GKV-Arzneimittelversorgung. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht dabei die Frage, ob GKV-Versicherte die Funktion eines Korrektivs im Kassenwettbewerb wirksam wahrnehmen können. Konkret bedeutet dies, ob die Versicherten, dadurch dass sie Leistungsdifferenzierungen wahrnehmen und diese zum Gegenstand ihrer Kassenwahl machen, die Handlungsspielräume der Kassen wirksam beschränken und die Qualität der Angebote sicherstellen.
Die durchgeführte Befragung ist repräsentativ für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ab 16 Jahre und wurde im Zeitraum August/September 2009 anhand ca. 2.500 mündlich-persönlicher Interviews durchgeführt.
Studienergebnisse und Interpretation
Allgemein wird durch die Untersuchung zunächst dokumentiert, dass ein bedeutender Teil der Gesamtbevölkerung (41 %) schon mal den Eindruck hatte, dass ihnen Arzneimittel aus Kostengründen nicht verordnet wurden. Dies gilt primär für gesetzlich Krankenversicherte und nimmt zudem mit dem Lebensalter zu. So berichten bei den über 60-Jährigen und den gesetzlich Versicherten jeweils nahezu die Hälfte von entsprechenden Fällen, während nur jeder fünfte Privatversicherte angibt, dass ihm bereits Arzneimittel vorenthalten wurden (Abb. 1). Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen dieser Art gibt es offensichtlich ein ausgeprägtes Problembewusstsein und eine hohe Sensibilität der Bevölkerung für die Wirtschaftlichkeits- und Finanzierungsproblematik der GKV insbesondere in der Arzneimittelversorgung. In diesem Kontext ist auch erklärbar, dass ein relativ hoher Anteil von 58 % der Bevölkerung weiß, dass Krankenkassen mit Arzneimittel-Herstellern Rabattverträge abschließen können und dass dies die Auswahl der Medikamente beeinflusst. Jeder dritte Kassenpatient (34 %) hat es bereits selbst erlebt, durch die Rabattverträge ein anderes Medikament erhalten zu haben, als dies ärztlich verschrieben war bzw. er es bis dahin gewohnt war. Nicht weniger als 7 % der insgesamt Betroffenen und 11 % in der Altersgruppe der über 60-Jährigen gaben an, durch den rabattvertragsbedingten Arzneimittelaustausch Probleme insbesondere mit der Verträglichkeit und Nebenwirkungen der Medikamente gehabt zu haben (Abb. 2).
Nicht zuletzt im Lichte dieser persönlichen Erlebnisse, aber auch über den betroffenen Personenkreis hinaus, geben mehr als drei Viertel der deutschen Bevölkerung (76 %) an, dass die Entscheidung, welches Medikament genau der Patient einzunehmen hat, allein vom Arzt getroffen werden sollte und die Krankenkasse hier eine Mitentscheidung aus wirtschaftlichen Gründen (wie im Fall der Rabattverträge) nicht haben darf (Abb. 3).
Die beschriebene Sensibilisierung für die Wirtschaftlichkeitsproblematik und der hohe Kenntnisstand der Befragten zum Thema Rabattverträge könnten als Hinweise dafür gedeutet werden, dass die Idee, über einzelvertragliche Elemente dieser Art einen Qualitäts- und Leistungswettbewerb zwischen den Krankenkassen zu initiieren, in der Praxis tragfähig ist. Die notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Versicherten Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Krankenkassenangeboten erkennen und diese Erkenntnisse ggf. auch zum Gegenstand ihrer Kassenwahlentscheidung machen. Nur wenn die Versicherten in dieser Weise ihre Rolle als Nachfrager in einem wettbewerblichen System wahrnehmen, können sie ihrer Funktion eines Korrektivs im Hinblick auf die angebotene Qualität der Krankenkassenleistungen (z.B. auch die Rabattvertragspolitik der jeweiligen Kasse) gerecht werden.
Die Tatsache, dass 61% der gesetzlich Krankenversicherten davon ausgehen, dass sich die Leistungen der einzelnen Kassen kaum unterscheiden und weitere 28 % sich diesbezüglich überhaupt kein Urteil zutrauen, während im Umkehrschluss nur 11 % der Versicherten Leistungsunterschiede zwischen den Kassen annehmen, ist ein erster Hinweis darauf, dass die Erwartungen im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs und das nachfrageseitige Korrektiv durch die Versicherten gedämpft werden müssen (Abb. 4).
Die von den Versicherten kaum erkennbaren Leistungsunterschiede der einzelnen Krankenkassen begründen in der Folge auch die begrenzte Kassenwechselneigung. So käme es gerade einmal für 19 % der deutschen Bevölkerung in Frage, die Krankenkasse überhaupt zu wechseln. Erwartungsgemäß nimmt die Wechselbereitschaft mit dem Lebensalter ab und mit dem Bildungsgrad zu: Diejenigen Versicherten, die in erster Linie auf eine qualitativ gute Versorgung angewiesen sind - und dies sind primär die Älteren - sind am wenigsten an einem Wechsel der Krankenkasse interessiert. Im Gegensatz dazu ist die Wechselbereitschaft bei jüngeren und gut ausgebildeten Versicherten stärker ausgeprägt. Bei dieser Versichertengruppe ist davon auszugehen, dass die Priorität bei der Kassenwahlentscheidung ggf. nicht in einem qualitativ hochwertigen Versorgungsangebot, sondern eher in Bonus- und Wellnessangeboten der Kassen liegt.
Diese Annahme wird gestützt durch die potenziellen Gründe für einen Kassenwechsel. Hier werden zwar von 73 % der wechselwilligen Versicherten Leistungsunterschiede bei den Kassen genannt. Diese Leistungsunterschiede beziehen sich jedoch in erster Linie auf den Service (37 %) und Bonusprogramme (37 %) der Kassen. Leistungsbereiche der Krankenkassen, die für den Versicherten substanziell sein sollten, weil sie originär die medizinische Versorgungsqualität betreffen, z. B. bestehende Arzneimittelrabattverträge, spielen für die Kassenwahlentscheidung eine untergeordnete Rolle: Lediglich 17% der Wechselwilligen - das sind bezogen auf die Gesamtzahl der Befragten 3,2 % - gaben an, dass nachteilige Rabattverträge der eigenen Krankenkasse der Grund für einen Kassenwechsel sein könnten. (Abb. 5).
Entgegen der oben dargestellten allgemeinen Sensibilität bezüglich einer möglichen Rationierung von Arzneimitteln und der großen Bekanntheit der Rabattverträge, spielen diese bei der Wahl einer geeigneten Krankenkasse nur eine marginale Rolle. Der Grund hierfür liegt darin, dass Rabattverträge offensichtlich von den Versicherten nicht als entscheidendes Differenzierungsmerkmal des Krankenkassenprofils wahrgenommen werden. Ob die fehlende Einbeziehung dieser medizinisch relevanten Vertragsinhalte durch die Versicherten in der Komplexität und Natur der Sache liegt oder von den Krankenkassen bewusst nicht thematisiert bzw. kommuniziert wird, kann an dieser Stelle offen bleiben. In beiden Fällen ist es konsequent und für die Kassen folgerichtig, dass sie z. B. Rabattverträge im Rahmen ihres Marketings nicht als Wettbewerbsparameter positionieren. Es ist andererseits ebenso konsequent und nicht erstaunlich, dass die Krankenkassen dreistellige Millionenbeträge in nicht evidenzbasierte Maßnahmen der so genannten Gesundheitsförderung - sprich Yoga, Wellnessreisen und Kochkurse - investieren. Die Logik dieser Investitionen spiegelt sich auch in den nachfolgenden Befragungsergebnissen wider: Für die Befragten sind Angebote der Krankenkassen besonders attraktiv, die für sie unmittelbar erkennbar und auch bewertbar sind. Hierzu zählen in erster Linie Bonuszahlungen bei regelmäßiger Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen (58 %), eine Geschäftsstelle der eigenen Krankenkasse in der Nähe (56 %) sowie die Kostenübernahme bzw. Zuschüsse für Gesundheitskurse (51 %) (Abb. 6). Im Lichte dieser Befragungsergebnisse kann es für die Krankenkassen betriebswirtschaftlich rational sein, Einsparungen aus dem für die Versicherten intransparenten medizinisch relevanten Versorgungsbereich in den werbewirksamen Servicebereich zu transferieren.
Die fehlende Steuerungswirkung, die vor dem Hintergrund der hier beschriebenen mangelnden Transparenz im Versorgungsbereich und der Signalwirkung bestimmter Serviceangebote zu erwarten ist, wird zusätzlich verstärkt durch bestimmte gewohnheitsgemäße Verhaltensmuster und diffuse Bedenken und Ängste der Versicherten gegenüber einem Kassenwechsel. Zwei Drittel der Befragten schließen für sich einen Kassenwechsel kategorisch aus. Gründe hierfür sind neben der oben genannten mangelnden Erkennbarkeit von Leistungsunterschieden, die traditionelle Verbundenheit vieler Versicherter mit der eigenen Kasse (38 %), eine Überforderung aufgrund des unüberschaubaren Angebots der Vielzahl von Krankenkassen (26 %) („Tarifdschungel“) sowie Ängste, dass durch einen Kassenwechsel Nachteile entstehen könnten (21 %) (Abb. 6).
Schlussfolgerungen
Diese beschriebenen Ergebnisse zeigen auf, dass der Versicherte seiner ihm zugedachten Rolle als souveräner Nachfrager in einem funktionsfähigen Krankenkassenwettbewerb zumindest auf der hier diskutierten Ebene nicht hinreichend gerecht wird.
Die Funktionsfähigkeit des angestrebten Wettbewerbs auf Kassen-ebene setzt voraus, dass dieser sich auf Wettbewerbsparameter erstreckt, die von den Versicherten wahrnehmbar und bewertbar sind, und so zum Gegenstand ihrer Kassenwahlentscheidung werden können. Dies gilt - wie vorliegende Untersuchungen belegen - für die Beitragssatzhöhe und Prämien sowie für verschiedene (nicht immer sinnvolle) Serviceangebote der Kassen. Für die inhaltliche Qualität von Rabattverträgen bzw. rabattierten Arzneimittelsortimenten sind dagegen souveräne Konsumentenurteile, infolge derer die Versicherten u.a. die Rabattverträge zum Gegenstand ihrer Kassenwahlentscheidung machen, eher nicht zu erwarten. Eine Kontroll- und Steuerungswirkung der Nachfrageseite ist vor diesem Hintergrund hier nicht gegeben. Die Folge kann ein Marktversagen sein, das sich durch mangelnde Qualitätsorientierung und fehlende Nachhaltigkeit der Rabattvertragspolitik der Krankenkassen offenbart. Theoretisch lassen sich solche Marktmängel, die auf Transparenz- und Informationsdefiziten beruhen, durch gezielte Kommunikationsmaßnahmen, z.B. im Rahmen des Social Marketing, heilen. Allerdings sind diese Strategien limitiert durch den Aufwand und die Erfolgsaussichten im Verhältnis zu ihrem Ziel. Dort wo der „mündige Patient“ nur erreichbar ist, indem er zuvor eine medizinisch-pharmazeutische Ausbildung durchläuft, sind offenkundig die Grenzen eines Wettbewerbssystem, das auf eben diesen mündigen Patienten abstellt, überschritten. Es bleibt im Einzelfall zu prüfen, welche Versorgungsbereiche sich nach diesem Kriterium sinnvoll in einen Kassenwettbewerb integrieren lassen.
Es spricht vieles dafür, dass die Arzneimittelversorgung, die sich in ihrer Komplexität selbst Experten mitunter nur mühevoll erschließt, diesbezüglich nicht prädestiniert ist. Die hier beschriebene Problematik der Kassenwahlentscheidungen und die Marktmängel des selektivvertraglichen Wettbewerbs werden auch durch Erfahrungen, die jenseits der deutschen Grenzen bereits gesammelt wurden, belegt. Insbesondere die Beobachtungen, die in den Niederlanden seit der vor vier Jahren in Kraft getretenen Gesundheitsreform gemacht wurden, dämpften im westlichen Nachbarland sehr stark die Erwartungen an den Funktionsgrad des selektivvertraglichen Wettbewerbs und den durch Kassenwechsler zu induzierenden Wettbewerb zwischen den Versicherungsanbietern.
Vergleichbare Erfahrungen konnten bereits zuvor in der Schweiz dokumentiert werden und haben dort ebenso wie bei ausländischen Beobachtern den Enthusiasmus für die zuvor stark beachtete eidgenössische Gesundheitsreform gedämpft. Die hier beobachteten jährlichen Wechselraten von ca. 3 % der Krankenversicherten lagen sehr nahe an der in den Niederlanden gezählten 4 %-Quote und nähren die Zweifel, dass das „Voting-by-feet“ hier wettbewerbswirksam zum Tragen kommt. <<