Stellenwert der Kosten-Nutzen-Bewertung in der Versorgungsforschung
Versorgungsforschung hat das Ziel, die Versorgungsqualität zu verbessern. Daher ist es sinnvoll, zunächst den Begriff der Versorgungsqualität zu erörtern. Unter Versorgungsqualität versteht man – neben dem Niveau der Leistungen – in der Gesundheitsökonomie auch, wie gut die in einem Land verfügbaren Versorgungsleistungen tatsächlich an den Ort des höchsten Bedarfs gelangen. Es geht also darum nachzufragen, ob die Bevölkerungskreise, deren Bedarf für Gesundheitsversorgung am höchsten ist, auch entsprechend prioritär versorgt werden.
>> Aus gesundheitsökonomischer Perspektive steht demnach im Mittelpunkt der Versorgungsforschung die Frage: „Gelangen die knappen Ressourcen auch tatsächlich zum Ort des dringlichsten Bedarfs?“ Dabei unterstellen wir in der Gesundheitsökonomie, dass die Mittel stets knapp sind (Neubauer 2006). Dies bedeutet auch, dass nicht alles medizinisch Mögliche zur Verfügung gestellt werden kann. Wenn aber nicht aller Bedarf gedeckt werden kann, gebietet es die ökonomische Vernunft, die knappen Mittel dem dringlichsten Bedarf zuzuordnen. Es geht letztlich in der Versorgungsforschung damit auch um eine Prioritätensetzung.
Optimale Allokation der knappen Mittel durch KNB
Aus gesundheitsökonomischer Sicht sind die knappen Mittel so zu verteilen, dass insgesamt ein Maximum an Bedarfsdeckung, gemessen an Patientennutzen, erreicht wird. Für das logische Kalkül, nach dem sich dieses Optimum erreichen lässt, gilt die Regel, dass das Optimum dann erreicht ist, wenn der letzte eingesetzte Euro in den verschiedenen noch möglichen Verwendungsgebieten jeweils den gleichen Nutzen erzielt. Mit anderen Worten: Aus Sicht der Ökonomie kommt es stets auf das optimale Kosten-Nutzen-Verhältnis an (Graf von der Schulenburg et. al. 2007). Hingegen wird in der Medizin oft die Mittelverteilung so vorgenommen, dass die wirksamsten Maßnahmen zum Einsatz kommen, ohne die zugeordneten Kosten in die Entscheidung mit einzubeziehen.In Abb. 1 wird dieser Zusammenhang in einem Gedankenexperiment skizziert. Es stehen 3 Verwendungsmöglichkeiten für knappe Mittel zur Verfügung. Das bedeutet aber auch, dass alle 3 Maßnahmen nur begrenzt eingesetzt werden können. Eine Prioritätensetzung ist erforderlich. Aus medizinischer Sicht würde die wirksamste Maßnahme (I) klar den Vorzug erhalten. Aus gesundheitsökonomischer Sicht wiederum ist das Verhältnis zwischen der skizzierten Kostensäule zur Nutzenhöhe ausschlaggebend. Das bedeutet, dass aus gesundheitsökonomischer Sicht die Maßnahme Nr. III den Vorzug erhält, weil bei ihr das Verhältnis von Kosten zu Nutzen am günstigsten ist.
Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse
Im Gesundheitswesen sind eine Reihe von verschiedenen ökonomischen Evaluationsverfahren üblich, die in Abb. 2 zusammengefasst sind. Dabei kommt den Untersuchungstypen, die das klinische Ergebnis berücksichtigen, besondere Bedeutung zu, nämlich: Kosten-Effektivitätsanalyse und Kosten-Nutzwert-Analyse. Die Kosten-Nutzen-Analyse im engeren Sinne findet aufgrund der Problematik, medizinische Outcomes komplett monetär zu bewerten, kaum Anwendung. Zur Vereinfachung werden im Folgenden die Kosten-Effektivitäts- und Kosten-Nutzwert-Analysen als „Kosten-Nutzen“-Analysen (KNA) im weiteren Sinne zusammengefasst.
An dieser Stelle ist kurz auf den Zeitpunkt, zu dem eine KNA durchgeführt wird, einzugehen. Wird eine KNA ex ante, also zur Bewertung möglicher Handlungsalternativen verwendet, so wird von einer Analyse gesprochen. Wird hingegen eine KNA für die Bewertung durchgeführter Maßnahmen eingesetzt, so stellt sie eine Evaluation dar. Die Methoden sind für beide Verfahren sehr ähnlich. Allerdings sind für die ex ante Analyse stets Handlungsalternativen vergleichend zu bewerten, während bei einer Evaluation die tatsächliche Kosten-Nutzen-Relation einer realisierten Versorgungskonzeption ermittelt wird.
Potenziale der KNA für die Versorgungsforschung
Die bisherige Praxis der Versorgungs-Optimierung ist stark geprägt von Versuch und Irrtum. So werden häufig Versorgungskonzepte in der Zusammenarbeit und auf Basis von klinischen Expertenmeinungen erarbeitet, und dann günstigenfalls in einem Pilotprojekt auf medizinische Charakteristika und ökonomische Wirkung evaluiert (IQWiG 2008). Analog der Situation bei randomisierten Studien (RCTs) entspräche das grob einer „within-trial“ Analyse, mit den bekannten Stärken (z.B. genaue Kostenerfassung), aber auch Schwächen (z.B. „protocol-driven costs“, unklare externe Validität bei einer breiteren Anwendung). Dabei kann die existierende Methodik auch eingesetzt werden, um Versorgungskonzepte deutlich evidenzbasierter und effizienter zu planen (Abb. 4).
Hauptunterschied zur bisher üblichen Praxis sind die Informationsbasis und vor allem die Anwendung einer ex ante ökonomischen Analyse, um mit relativ geringem Aufwand unterschiedliche Versorgungskonzepte theoretisch zu vergleichen. Eine solche Experimentier-Möglichkeit liefert dabei nicht selten unerwartete Ergebnisse, die von dem abweichen, was gängige medizinische Fachmeinung ist. Zudem besteht die Möglichkeit, lange Zeithorizonte zu modellieren, die sonst nicht angemessen berücksichtigt werden können. Das ist insbesondere beim Umgang mit epidemiologischen „Risiken“ oder etwa bei chronischen Erkrankungen von Bedeutung: der Effekt z.B. von Primärprävention, Screening-Verfahren, Impfungen etc., der erst nach relativ langen Zeiträumen zum Tragen kommt, wird sonst unterschätzt.
Ein Beispiel für die Anwendung einer ex ante Analyse ist eine Arbeit, die verschiedene Karzinom-Screening-Strategien für chinesische Frauen modelliert (Woo PPS et al 2007). Dabei zeigte sich, dass ein systematisches Programm gegenüber opportunistischer Karzinom-Detektion deutliche Vorteile lieferte. Setzt man nun ein Budget fest, das man bereit ist, zu Verbesserung der Versorgungsqualität auszugeben, so lieferte eine Kombinationsstrategie aus 100 % Pap-Screening alle 4 Jahre und 30 % Koloskopie alle 10 Jahre die beste Strategie. Die Arbeit zeigt für ein Beispiel, wie theoretische Überlegungen der Kosten-Effektivität genutzt werden können, um ein Versorgungskonzept zu optimieren. Dabei kann auch ein Budget-Rahmen gesetzt werden, der das Machbare vorgibt: So werden Maßnahmen aufgrund ihrer Kosten-Effektivität ausgewählt und entsprechend kombiniert, nicht aufgrund von Meinungen oder nur nach medizinischer Wirksamkeit. Einen grundsätzlich ähnlichen Ansatz verwenden Behörden wie etwa das NICE, wenn eine Kosten-Nutzen-Grenze bei Erstattungs-Entscheidungen zur Anwendung kommt. Die Methodik lässt sich auch anwenden, um innerhalb eines bereits bestehenden Versorgungsverfahrens zu optimieren, beispielswiese um Alterskriterien, Wiederholungshäufigkeiten etc. von Programmen zu optimieren (Vaahtoranta-Lehtonen, H. et al 2007). Dabei lässt sich das Verfahren nicht nur auf Diagnostik, sondern auch auf Versorgungs-Konzepte anwenden. Die bestehende Unsicherheit der Modellierung kann im Rahmen von Sensitivitätsanalysen transparent gemacht werden. Jedenfalls kann das letztliche Versorgungsprojekt (Stufe 3 in Abb. 4) spezifischer gestaltet und evaluiert werden, sind doch aus der vorausgehenden Modellierung die relevanten Outcomes und Parameter (und relevante Vergleichsgruppen) bekannt.
Einbeziehung der „Real-Life“-Versorgungsqualität
Eine aussagekräftige Kosten-Nutzen-Bewertung ist – indikationsabhängig – in der Regel erst nach mehrjähriger Anwendung im Versorgungsalltag möglich. Für eine vorläufige Kosten-Nutzen-Bewertung bieten gesundheitsökonomische Modellierungen eine geeignete Hilfestellung. Nach angemessener Beobachtungszeit ist eine Re-Evaluation mit alltagsbezogenen Versorgungsdaten sinnvoll. Dies gilt nicht nur für die Kosten-Nutzen-Bewertung, sondern auch für die Nutzenbewertung per se. Da harte Endpunkte bei vielen chronischen Erkrankungen oftmals erst nach 10 oder mehr Jahren messbar sind, sollten in solchen Fällen auch begründete intermediäre Endpunkte akzeptiert werden (Abb.3).
Bei der Kosten-Nutzen-Bewertung sind der medizinische Outcome, d. h. die Erfassung der Versorgungsqualität über das Gesamtergebnis anhand definierter Zielgrößen, soziale Outcomegrößen unter Einbeziehung sozio-demographischer Gegebenheiten sowie der ökonomische Outcome aus der Sichtweise der Versichertengemeinschaft bzw. der Beitragszahler einschließlich der Arbeitgeber einzubeziehen. Ähnlich weit ist der Kostenbegriff (Preis, Nebenwirkungen, etc.) zu fassen. Diese Gesamtbetrachtung ermöglicht erst eine abschließende Betrachtung des Beitrags, z. B. einer Arzneimitteltherapie oder eines medizintechnischen Verfahrens zur Patientenversorgung. Da sich Kosten wie Outcomes im Zeitablauf ändern, sind Re-Evaluationen regelmäßig sinnvoll. Aus rechtlicher Sicht wären dann Innovationen nur zeitlich befristet zuzulassen. Aus ökonomischer Sicht wäre die Höhe der Kostenübernahme durch die Krankenversicherungen bzw. die Höhe der Kostenbeteiligung der Patienten entsprechend zeitlich variabel zu gestalten.
Grenzen der Kosten-Nutzen-Bewertung
Eine optimierte Versorgung, die kosteneffiziente Diagnostik- und Therapiestrategien implementiert, kann helfen Kosten zu sparen. Allerdings nur, wenn die Bewertung konsequent umgesetzt wird, und entsprechend auch bestehende Versorgungsstrukturen geändert werden. Das dürfte auf erhebliche Widerstände stoßen. Entsprechend wird in vielen Ländern das Instrumentarium nur für neue, innovative Therapien und Diagnostik angewandt. Hier erfolgt bei konsequentem Einsatz in der Regel eine Qualitätsverbesserung – aber zu höheren Kosten. So hat beispielsweise die Arbeit des NICE trotz therapiegebietsübergreifender Bewertung mit relativ klaren Kosteneffektivitätsgrenzen weniger zu einer Kostendämpfung in England als zu einer Vereinheitlichung höherer Therapie-Qualität geführt. Ähnliches ist bei einem Einsatz der KNB für Deutschland im Rahmen konsequenter Versorgungsforschung zu erwarten. Zusammenfassend kann die gesundheitsökonomische Kosten-Nutzen-Bewertung sowohl in der Planung von Versorgungskonzepten als auch in der Umsetzung und bei der Optimierung helfen. Letzteres zielt jedoch mehr auf die Verbesserung der Qualität als auf eine Kostendämpfung ab.
Ausblick
Wie wir gezeigt haben, betont die Gesundheitsökonomie bei der Versorgungsforschung die Kosten-Nutzen- bzw. Wirksamkeit-Relation. Eine Versorgungsforschung, die aber die Kosten ausblendet und sich nur auf die Wirksamkeit konzentriert, kann aus ökonomischer Sicht keine optimale Versorgung ergeben. Aus diesem Grund ist auch die Medizin aufgerufen, verstärkt der Kosten-Nutzen-Bewertung ihre Aufmerksamkeit zu schenken (Sickmüller et. al. 2007). Eine bloße Optimierung der therapeutischen Konzepte ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Kosten führt zu einer letztlich suboptimalen Versorgung der Bevölkerung. Dies können wir uns aber in Deutschland schon heute nicht mehr leisten. <<